einschätzen

Das Bild stammt von einer Spiegelung in meinem Fenster, und man kann darauf nichts erkennen. Man kann höchstens bemerken, dass man immer etwas erkennen möchte, und dann schafft man es auch. Bei einer Bildbeschreibung könnte man zum Beispiel eine Karawane erkennen, die sich langsam auf den Mund eines schläfrigen Mädchens zubewegt, aber es gibt ja auch für einen selbst  keinen Sehzwang. Das Herumrätseln, warum einem etwas gefällt oder zusagt, erweitert zumindest die Kenntnis von sich selbst, sofern man daran interessiert ist. Manchmal erinnere ich mich an einen dieser Sprüche, die sich in der Welt breit gemacht haben, ohne dass sie irgend jemand erklären kann, zum Beispiel dass wir (Menschen) nur einen sehr geringen Teil unserer Gehirnkapazität nutzen, und es ansonsten sehr viel Luft nach oben und unten und hinten und vorne gibt, aber was bedeutet das. Vor einiger Zeit fand ich es mal interessant, einige Personen spontan zu  fragen, zu wieviel Prozent sie denken, dass sie sich (schon) selbst sind, das war ziemlich verblüffend und sah für mich eher nach Unterschätzung aus als nach der erwarteten Überschätzung. Selbst wenn jemand 80 oder gar 90 Prozent des Sichselbstseins angeben würde, dann wäre das sehr schwer einzuschätzen, denn es gibt für das Selbstsein keinen Maßstab, an dem man sich  zurechtrangeln kann. Denn jede/r erfährt sich ja als sich selbst, und es kommt darauf an, was man aus sich herausholen kann und in welche Richtung sich diese Aktivität entwickelt. Eine meiner früheren Meditationslehrerinenn meinte einmal auf meine Frage, ob es sie nicht stören würde, dass so viele in der Meditationswelt herumhängen, ohne tieferes Interesse an der Praxis zu haben, dass es , sagte sie, immer nur um ein paar Wenige ginge, denen es gelingt, die Hindernisse auf dem Weg zu bewältigen, die durchaus einer epischen Heldenreise gleichen, pardon, einer epischen Heldinnenreise meinte ich natürlich. Denn das kommt ja noch dazu, dass wir uns letztendlich zwar Anregungen holen können, aber keinerlei Beispiele vor Augen haben für einen Weg, der überhaupt nur für Einzelne möglich ist. Es ist keineswegs ein Eliteprogramm, obwohl es zuweilen so gesehen wird, aber wer sollte wen abhalten von dem Wunsch, sich selbst kennen zu lernen. So hat man zum Beispiel für diesen Weg im Orient extra Räumlichkeiten eingerichtet, wo Sich-selbst-erkennen-wollende sich zusammenfinden, um das zu üben, was ziemlich viel Aufmerksamkeit und Stille und ganz bestimmte Bedingungen braucht, um überhaupt stattfinden zu können. Es ist ziemlich sinnlos, über die Resultate solcher Anstrengungen zu streiten, denn, wie ich gestern in einem Gespräch hörte, wird auch über den Dalai Lama gemunkelt, er hätte sich allerhand vorgegaukelt, wer will das angemessen beurteilen können. Ich hatte mir auch schon mal gewünscht, der Dalai Lama, den ich sehr schätze, würde diese supergroßen Hüte seiner Sekte mal irgendwann ablegen und heruntersteigen von den übermäßig großen Podien, um für einfache Geschöpfe den Gott zu spielen, ja muss denn das sein. Offensichtlich muss es, denn es ist. So muss man sich bei aller deutungsfreien Spiegelung als das Seiende betrachten, das gerade so ist, wie es ist. Und wenn diese brenzlige Sache in Bewegung bleiben kann, entsteht von selbst ein Luftzug, der sich als Atem entpuppen kann für weitere Möglichkeiten. Mal schauen.

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