steuern

Und dann die Zeit, die noch bleibt, um noch einiges von dem, was rätselhaft geblieben ist, zu enträtseln. Oder gar nicht mehr rätseln und  bereitwillig die Palmblätter bündeln. Hier und da noch ein prüfender Blick ins scheinbar Vorgesehene, man weiß es ja nicht und wird es nicht gänzlich wissen: ob alles, was sich ständig bewegt, sich einer unvorstellbaren Ordnung beugt, in der man durchaus den Faden erkennen kann, der einen ans nächste Portal navigiert, oder einen hochhievt aufs nächste Level, wo neue Herausforderungen sich abzeichnen. Oder aber sich so lustvoll wie möglich dem kreativen Irrsinn ergeben, wer von uns kennt ihn nicht, sind wir doch alle Sterbende, zuweilen beflügelt am Rande des Abgrundes herumgrübelnd über die Wege des Schicksals, ach, mein Schicksal, durch das der Lebensraum sich verkleinern, aber auch erweitern kann, sich an das Drehbuch haltend, in dem Seite um Seite uns vorblättert, was geplant war, und wie es sich umsetzt. Und so wird uns auch als Beistehende und Dabeisitzende und Mitfühlende die große Lehre geschenkt über die zuweilen schwer begreifbare Flüchtigkeit weltlicher Existenz, bei der wir so oft vergessen durften und können, dass wir Reisende sind, Travellers auf einem Ball, der unaufhaltsam seine Bahn durchs All zieht und uns gibt, was in seinen Kräften liegt und in seiner Grundausstattung. Nicht müßig ist auch zu bedenken, was wir Menschen zu all dem beigesteuert haben, und dass wir noch immer steuern. Und auch wenn der Zähler lauter tickt als sonst, gibt es immer noch die Kunst, im Ungewissen sicher zu navigieren, denn keine Weisheit der Welt ist umsonst zu uns gekommen. Irgendwann sucht sie uns auf zur Anwendung. Meistens auf Seiten, die nicht mehr beschrieben sind und Drehbücher zu Drehtüren werden.

ai (Liebe)

*
Der Flügelschlag Ich
am Atem entlang
von Schluchten
von Vogel-Ei
Wenn eine lebensbedrohliche Diagnose also in das Leben einschlägt, kann man, wenn auch in dumpfer Ferne, einen Gong hören, der kündigt Grenzen an, die man noch nicht kannte. Auch hier ist nichts gewiss, doch von jetzt an begleitet die jeweils Betroffenen dieser Klang, aber nicht nur die direkt Betroffenen. Der Klang schreckt auch die immer leicht schlummernden Herzen auf, und es strömt auf einmal ein warmer Wind durch die Hallen, doch auch aufgewirbelt vom Geräusch rasender Pferdehufe. Das Erschrockensein an sich sitzt an den Rändern der Meere und sucht nach den Antworten, die keiner kennt. Wie lange noch erleben, was man, oft so nebenbei, für erlebenswert hielt, und das sich nun als das einzig Seiende herausstellt, nämlich das, was es wirklich ist. Und wie weit ist man mit der eigenen Wirklichkeit gekommen, und wo und was ist überhaupt wirkliche Wirklichkeit. Ist man an diesem Tor jemand, der Prüfungen nicht scheut, der oder die kann hier das Maß und die Richtung der Meisterprüfung selbst entscheiden. Denn Meisterprüfung ist es doch in jedem Fall. Wer weiß schon, was Abschied von hier, dem von uns bewohnten Planeten, ist. Ich fand immer offensichtlich, dass die, die zurückgekehrt sind, nicht wirklich gegangen sind. Soll man also wählen, was immer einem angesagt scheint, oder aber sich ganz dem Fluss überlassen. „Flow“, das ist doch auch so ein Zauberwort, viel benutzt und wenig überprüfbar, eben ob man ohne oder nur mit Schulung da hinkommen kann, wo man als eigene Strömung in den Ozean einfließt undsoweiter. Das alles ist leichter zu formulieren (obwohl auch das nicht leicht ist) als es umzusetzen in kreative Erfahrung. Betroffen sind auch wir, die wir mit Menschen leben, die wir lieben, und wenn d i e sich verabschieden,  haben die jeweils Überlebenden ihre eigenen Strömungen, die zu kanalisieren sind. Da fällt mir gerade der letzte Satz von einem Gottfried Benn Gedicht ein…“nur die Zypresse, der Trauerbaum, steht leer und unbewegt“. Der Trauerbaum steht leer und unbewegt, vielleicht ist es d a s, was man wirklich spürt: die Ohnmacht, die Leere und das Unbewegte, das vielleicht auf seine eigene Art alle Gefühle beinhaltet. Schlichte Nachen gleiten dem Strom entlang. Frauen bewegen mit langen Stäben das scheinbar Unbewegbare. Kein Gott mehr weit und breit, und dennoch: Liebe.

 

*Ei von Henrike Robert

da sein

*

Ständig schlägt irgendwo das Schicksal zu mit einer Vielfalt von Gaben, wobei die „Schläge“ eindeutiger sind. Die närrische Annahme, es könnte nicht in nächster Nähe einschlagen, verflüchtigt sich früher oder später. Kündigt sich ein Schlag aber an, dann tauchen plötzlich weitere auf, man hört allerlei Narrativstränge, zum Beispiel wo jemand gekämpft und gewonnen hat, und dann wiederum, wo der Kampf aufgegeben wurde, manchmal vermutlich auch zur persönlichen Befreiung all dieser Hoffnungsstrahlen, mühsam durch die einsamen Nächte geschleppt. Und so versteht man dann, dass das Sterbende von Anfang an mitläuft, man kann es vom Lebendigen gar nicht trennen, schon deshalb, weil jeder gelebte Moment unwiderruflich vorbei ist. Außer man verfolgt einen anderen Gedankenstrang, bei dem zum Beispiel jeder Nu alle Ewigkeiten hindurch genau so sein wird wie der im Moment gelebte. Immer ist sich selbst lebender Nu. Und das ist vielleicht die lichtere Seite des Schicksalschlages: dass er neue Möglichkeiten des Umgangs mit der erfahrenen Realität herausfordert -und lockt. Solange noch Zeit ist, mit den Veränderungen angemessen umzugehen, und was heißt hier angemessen. Angemessen an was. Hilfreich ist es, das eigene Maß zu kennen, aber es ist ja nicht zu spät. Und wenn ein Mensch auch noch entschieden hat, sich bis zum letzten Level durchzuarbeiten, dann gute Fahrt!, bei denen geht’s dann (gedanklich) schon durch eine Tür, und weiter geht die Reise. Jetzt ist Eine unter uns so schlagartig vom Schicksalsblitz getroffen worden. Auf dem Tisch liegt der Bericht des Arztes aus dem Krankenhaus. Man braucht keinen Translator, um das Unverständliche zu verstehen. Man kennt die Worte, von denen man weiß, dass es keine gutverheißenden sind. Man zögert, bevor man sie in den Mund nimmt. Aber es gibt ja viele unterschiedliche Wahrnehmungen des sogenannten „Realen“. So kann man, wenn man dafür geeignet ist, eine der vielen Dreh-Türen und Tore und Portale des inneren Raumes öffnen, also gleichzeitig eine Menge Luft reinlassen in das Ganze. Und vielleicht verschwinden dann sogar noch die Türen, alles nur Raum, man selbst in zweifelsfreier Existenz selbst sich erfahrend, und dann vielleicht ein herzhaftes Gelächter, denn siehe!, das ist noch gar nicht der Tod, sondern das tief zu ergründende: Stirb, bevor du stirbst, damit du da sein kannst, wenn Dasein möglich ist.

 

  • Gedicht: Kalima Vogt

Glyphe

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Glyphe
Unter einigermaßen regulären Umständen bleibt es einem überlassen, wann, oder ob man überhaupt darüber nachdenken möchte, was man selbst von den eigenen durchwanderten Lebensjahren denkt, und dass ein Abschied vom Planeten unweigerlich vorprogrammiert ist. Jede/r hat ja so ein Tröpfchen Unsterblichkeitsillusion im Blut. Und die Vorstellung, dass man in Wirklichkeit jederzeit gezwungen sein könnte, sich außerdem noch mit schwerwiegenden Überraschungen zurecht zu finden, das begreift man erst, wenn sie da sind, die Überraschungen. Und in den meisten Situationen dieser Art begreift man das Meiste nicht wirklich sofort, sondern unverrückbare Tatsachen sickern langsam in unsere Systeme, mögen sie uns selbst betreffen oder es betrifft Schicksale aus dem Freundeskreis. Nun ist man zwar zwei Mal sehr allein unterwegs, einmal bei der Geburt, dann beim Tod, denn niemand sonst außer einem selbst ist derzeit damit beschäftigt. Aber das heißt ja nicht, dass die Erfahrung des Vorgangs im wesentlichen davon abhängt, was im Umfeld geschieht. Da bis jetzt keine Nachrichten durchgedrungen sind aus der Forschung, dass man sich die Eltern aussuchen kann, so sieht es oft beim Abschied anders aus. Da geht es vielleicht um Anwendung der Reife, die man erworben hat in den…fangen wir mal mit vierzig Jahren an, oder mit fünfzig und sechzig und siebzig undsoweiter Jahren, wo man sich schon wieder wehren muss gegen die Menschheitstriebe, auf jeden Fall so lange wie möglich hier zu bleiben, und um jeden Preis. Aber der Preis kann auch zu hoch sein, und ich schiebe hier den japanischen Mystery Spruch ein: „Es gibt Wichtigeres als das Leben“, bei dem gerade die absurde Note einen aufhorchen lässt. Was könnte das sein? Auf jeden Fall kann es nur etwas sein, was dem aktuellen Geschehen auf so vielen Ebenen wie möglich gerecht wird: der Eleganz, dem Kostüm, der am angemessenen Zeitpunkt eingesetzten Schmerzlosigkeit, dem Einlassen auf so viel Wahrheit, wie es dem reflektierenden Geist zumutbar ist. Der Abschied vom Drama per se geschieht im dritten Akt. Aber, wie ich wiederum in Indien gelernt habe, gibt es noch einen vierten Akt. Über den steht aber nichts geschrieben. Warum? Weil er sich dem Bewusstsein, also dem verfügbaren Wissen innerhalb des Seins, entzieht, eben durch seine Unmittelbarkeit, also wo der Schatten zwischen Idee und Wirklichkeit sich verzieht und das ganze in seinem vollen Zenith steht. Warum nicht. Wir sind doch Künstler:innen!

 

*Bild: Henrike Robert

Attention, traveller

*

Es gab Zeiten in meinem Leben, wo es mir gar nicht in den Sinn kam, Wiedergeburt infrage zu stellen. Die meisten Leute, die ich in solchen Zeiträumen kannte, waren sich, wenn auch geschult durch verschiedene Praktiken, im Klaren darüber, dass sie schon einige Male gekommen und gegangen waren. Weg vom Planeten also und wieder zurück, also das Körperkostüm wechselnd, vorzugsweise hinein in eine etwas entwickeltere Form als die gerade verlassene. Es war durchaus ein Gedankenspiel wert, sich einmal als ein früheres Selbst zum Beispiel gedanklich niederzulassen in einem Ägypten, das einem auf einmal vertraut vorkam und am Herzen lag, die inneren Bilder konnten sehr glaubwürdig sein. So, wie wenn uns Menschen nahezu alles glaubwürdig vorkommen kann, es muss nur überzeugend genug vermittelt werden. Wer würde schon gerne die Glaubwürdigekit des Dalai Lama anzweifeln, selbst ein als Kind erkannter Tulku, der die Instrumente eines gerade verstorbenen Lamas erkannte und dadurch selbst als der nächste Dalai Lama gesehen und akzeptiert wurde (wenn auch nicht von den Chinesen!). Dann kommt irgendwann der Moment, wo man sich selbst die wesentlichen Fragen stellen muss, und nein, sagte ich mir, ich weiß es nicht. Schadet ja nichts, einige Bahnen offen zu lassen im Sinne des „mal sehen““, und so habe ich persönlich diese Blicke ins Nicht-zu-Wissende ad acta gelegt. Dass ich mich eines Tages so selbstverständlich in der indischen Götterwelt aufhalten würde, war für mich selbst eine Überraschung. Es war der Rausch dieser ganzen Inszenierung, der man verfallen konnte, ohne dadurch geschädigt zu werden, denn sie enthielt alles, was man sich an Menschenmöglichem vorzustellen vermochte. Da gab’s , was die geistige Erfahrung betrifft, keinerlei Grenzen. Auch aus den untersten Schichten der Gesellschaft stiegen göttergleiche Wesen auf, seltsame Gestalten, die, wie etwa Ramana Maharishi (der indische Heilige), die zu ihm Strömenden an seinem Schweigen teilnehmen ließ, das offenbar mehr beredt war als die Worte anderer. Allerdings grassierte auch der Krebs unter den Heiligen, ein noch ungelöster Zusammenhang, über den man spekulieren kann oder nicht. Von dieser durchgeistigten und mit hohen Ordnungen ausgestatteten Gedankenwelt schien es oft, als würde der Geist im Westen, für mich also in Deutschland, zuerst einmal auf eine zuasphaltierte Scholle stoßen, bevor man die anderen Möglichkeiten entdeckte, seien es Autobahnen ohne Tempolimits, oder die Ausübungen der Künste, also wie man die zitternde Nadel auf den richtigen Ton setzt. Und was ist richtig, was falsch, oder gibt es die beiden gar nicht. Und eine neue Abenteuerreise beginnt, ohne Gott und Götter, dafür aber mit wachsamen und intelligenten Mitspieler:innen die Räume des Gegebenen auslotend, man eine Sicht entwickelt, die einen schult in den Abgründen der Tragödie, aber die auch in der Komödie hohe Ebenen erreicht. Gesegnet seien die Komödiant:innen. Und: Attention, traveller, for it is late. But it is not, not yet too late!
*Photo eines Gemäldes von Henrike Robert

Sätze

Sieht aus, als wenn der Satz in den Wolken hängt, aber der Papierstreifen hing jahrelang an meinem Buchregal herunter, und immer, wenn ich mal drauf schaute, nickte was in mir. „Wahrheit ist die wache Anwesenheit“, man kann auch „freischwebende Aufmerkasamkeit“ dazu sagen, die Praxis schlechthin also in der Arena der psychologischen Kampfkünste. Eine der schönsten Liebeserfahrungen, die ich in diesem Leben hatte, gipfelte in dem Satz  „Fürchte dich nicht, denn ich bin bei mir“, spontan kreiert aus tiefster Erkenntnis heraus. Aber wann das tatsächlich stattfindet, das Beisichsein, das wache im Hier-und Jetztsein, das „Sehen, wie es wirklich ist“ durch die eigene, wache Anwesenheit, wenn keine Projektionen, keine Wünsche, keine Meinungen mehr im Weg stehen, die Nacktheit des freien Raumes also spürbar ist. ja, wann findet das statt. Man muss ja die Bedingungen dafür in die Wege leiten, wenn man den Schock der Erkenntnis überhaupt überlebt und genügend Willen zur Verfügung hat, oder Durchhaltekraft, um den Prozess, der sich in Bewegung gesetzt hat, nicht aufzuhalten, weil man (vorübergehend) das Gefühl bekommt, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber der Boden ist eh nicht stabil, denn immer noch werden wir auf stetiger Fahrt  durchs All befördert, und sind gleichzeitig die, die vorüberziehen, und überall Ankommende und sich Verabschiedende am laufenden Band. Und da es keinerlei Gewissheit gibt, wie lange jemand eine Aufenthaltsgenehmigung hat, können Sätze, die einen als wahrhaftig ansprechen, eine gewisse Tragweite haben, oder sogar, wenn sie pfeilartig ins Bewusstsein dringen, tiefe Veränderungen in einem hervorrufen. Es gibt ja diese Geschichte eines Königs, der seinem Berater befahl, einen Satz zu finden, der auf absolut alles Existierende passte, und der Satz ist „This, too, shall pass“, und der wird immer wahr sein, denn alles, was da ist, wird irgendwann einmal vergehen, vor allem wir selbst, wir werden vorübergehende Gäst:innen gewesen sein. Daher kann die Anforderung an  unsere geistigen Kräfte ziemlich anstrengend sein, nämlich: wie und wodurch die verbleibende Zeit am besten verbringen, Schwerpunkt auf: am besten! Sich auf das Seil wagen zwischen Haben und Sein? Hinunter stapfen in die Tiefen, wo allerlei Dämonen wohnen, aber auch reine Quellen sprudeln, weit, weit weg von jeglichem Autogehupe. Oder in die Höhe schnellen, pure Vertikale, hinaus über die förmlichen Grenzen, und dort im Irgendwo einen Anker werfen, der die gewünschten Illusionen manifestiert. Oder aber alle Anker und Geländer verwerfend und schauen, wie viel Raum so ein Staubkorn-Ich im Gewebe des Nichts eigentlich braucht, und gibt es ein letztes Brauchen. Und wenn ja: wen oder was? Truth is the awake presence.

vorausgesetzt


freundlich
Es ist ja nicht wirklich möglich, dem Prozess des Älter- bzw. Altwerdens durch irgendeine sei sie noch so übergeordnete Tätigkeit oder Gedankenstruktur zu entkommen. Nicht, dass es überhaupt um ein Entkommen geht, obwohl auch intelligente Geister sich empört haben über diese zwanghaft einem auferlegte Zumutung. Und ja, wer will schon während des Jungseins darauf achten, dass gewünschte Exzesse später zu ungünstigen Resultaten führen könnten, was nicht immer der Fall ist. Als ich nach vielen durchgerauchten Jahren dann doch einmal zum Lungencheck gehen musste und auf die Rechnung meiner früheren Raucherleidenschaft wartete, hatte ich überhaupt nichts Schädliches an der Lunge. Es war die Zeit ungetrübter Raucherfreude, als einen noch nicht auf jedem Tabakbeutel die gräßlichsten Raucheralbträume entgegenstarrten. Es gibt Zeiten, wo man ganz klar mit etwas aufhören möchte oder muss, sei es nun das Rauchen oder Steak Tartar zu einem Schluck Bloody Mary. Die Sachen selbst sind ja immer der harmlosere Teil, das andere die Handhabung des Verfügbaren, und wie man sich damit fühlt. Epikur hielt es mit zwei unterschiedlichen Weisen, einmal mit der Schlemmerei, andrerseits wog er sie aus mit der bereitwilligen Kargheit, sowas wie Brot, Käse und vielleicht ein Glas Rotwein, eine andere Form von Luxus, den es zu schätzen gilt. Und schreiten also die Jahre voran, kann man auch hier über den Mangel an Herausforderungen nicht klagen. Denn welche Art von Zauberformel möchte man denn selbst für das eigene Älterwerden aus dem großen Weltenhut hervorzaubern, und wie weit ist es einem gelungen, den persönlichen Raum offen zu halten für eine freie, selbstbestimmte Haltung der eigenen Lebensführung gegenüber. Auch in Indien war es nicht mehr möglich, sich über die immerhin potentielle Möglichkeit der Weisheitserwerbung zu unterhalten. Früher konnte man sie noch zuweilen antreffen, die älteren und alten Weisheitsträger:innen, aber als der eisige Wind der digitalen Revolution durch die antiken Gehirne fegte, änderten sich die Symbole der Macht, und an Weisheit war kaum mehr zu denken. Sie kann ja nicht wirklich erworben werden, sie ist günstigerweise ein Resultat vieler verborgener Entscheidungen, wenn an den Kreuzwegen immer nur Eine/r die epischen Entscheidungen treffen musste und wollte und konnte, eben wenn wir vom Schicksal erwischt werden und ein Lichtstrahl in die Luke fällt. Oder wenn der Körper unversehens ins Rampenlicht rückt und Raum beansprucht für eigene Monologe. Wer ist Mistress, wer Sklave? Nicht, dass es hier (noch) um moralische Wertungen geht, nein, es geht um Klarheiten, oder vielleicht geht es nur um eine einzige, unumstößliche Klarheit: wer immer ich auch durch mich selbst geworden sein mag auf dem immer länger werdenden Pfad, so ist es gut, diese Wanderin zu kennen, soweit das möglich war und immer noch ist, und Freude zu haben an der persönlichen Begleitung, was einige Mühen voraussetzt.

Tau


Tao
Jetzt bin ich schon anderthalb Monate zurück aus Indien, und  die Momente, in denen ein Sonnenstrahl meinen Körper trifft, bleiben rar. Obwohl ich die zwei Corona Winter gut überstanden habe, lag es wohl vor allem daran, dass Indien keine Option war, und der Durchgang an sich hatte seine Dynamik, auf die man sich persönlich und kollektiv einstellen musste. Aber was das Licht betrifft, so erinnere ich mich besonders an einen Moment in Indien, als ich irgendwo herumstand und auf einmal eine große Wärme auf meiner Schulter spürte. Es war vielleicht das erste Mal, dass ich die Sonne in dieser Funktion entdeckte. Das ist die Sonne, sprach es in mir, und so fürchte ich ein bisschen die kommenden Winter ohne Indien, wo im Winter ein paar Schritte genügen, um von der Kälte in eine sommerliche Wärme zu treten. Also wir haben jetzt April, und immer noch wird Graupeln angesagt, und das zwingt einen zu Einstellungen, die man am besten kreativ gestaltet (schreiben malen sitzen denken…). Allerdings wundert es auch nicht, dass dieses Wetter außer aus depressiven Zuständen sich entwickelnden Krankheiten auch philosophische Käuze wie Schopenhauer und Nietzsche hervorgebracht hat, für die man sich selbst im Nachhinein noch freut, wenn man liest, dass sie zumindest manchmal an einem flackernden Feuer saßen, aber das vielleicht auch nur in einem Roman und fällt vielleicht unter die Rubrik „Gute Wünsche für die Unsterblichen“. Denn trotz aller äußerlichen Umstände haben so viele diese Winter durchlebt und gelitten und einen Bullerofen verehrt, der Leben und Denken erleichtert und unterstützt. Im Winter braucht der Mensch flackerndes Feuer, und ja, manche haben es auch ohne Ofen geschafft, in die Tiefe zu steigen, denn da ist es im Westen doch hingegangen, tief hinunter in Schlünde und Abgründe, keuchend und von Weltschmerz bedroht. Denn dort unten vermutet man, ja wen vermutet man denn dort unten. Ist es der kleine Zwerg, den man da herumtanzend fürchtet und der, hat man sich überhaupt mal so weit durchgeackert, einem entgegensingt, ach wie gut, dass niemand weiß, wer du wirklich bist, du zu dir selbst Gereist/r. Und dann, was macht man da unten, wenn man schon mal da ist. Man lernt etwas über die Dunkelheit, das ist gewiss. Dass auch sie nicht nur eine ist, sondern viele Dunkelheiten und Finsternisse kann man da antreffen. Und trifft man plötzlich auf Resonanz, kann es einen durcheinanderwirbeln, sodass man kaum mehr auf die  Füße kommt. Mit der Zeit lernt man, dass man immer wieder aufsteht und weitermacht. Schließlich ist es u.a. auch ein Schlachtfeld, eine Kampfebene, die einen zwingt, einem angemessen vorkommende Entscheidungen zu treffen, die nicht von äußerlichen Zuständen oder Menschen bestimmt sind. Wenn das klar ist, hat man keine andere Wahl als das Weitermachen, es ist ja immerhin das interessanteste Abenteuer, das zur Verfügung steht, die Held:innenreise hin zu sich selbst. Und obwohl in Indien dieser Kampf auf den obersten Ebenen, also der Götterebene, stattfindet, herrschen dieselben Gesetze. Nur die illusionäre Form des Narrativs ist sonnendurchdrungener, und wenn diese kollektiv als erhaben erlebte Matrix auf einmal wie über Nacht in Schatten getaucht wird und die Geister in den dafür vorbereiteten Bildflächen verschwinden, da nimmt der tiefgrüblerische Geist Witterung auf, entfacht das Feuer, macht sich unabhängig von klimatischem Einfluss, bewegt sich aber kontinuierlich zu auf die Wärme des inneren und des äußeren Lichtes.

freischwebend

Irgendwo in den indischen Schriften wird das Bewusstsein mit einer Rasierklinge verglichen, wobei interessant wäre zu wissen, wie das Wort „Rasierklinge“ in Sanskrit heißt, und ob es in der Zeit, als der Satz entstand, es überhaupt schon Rasierklingen gab. Klar ist dennoch, was gemeint ist, nämlich dass das Bewusstsein ein sehr scharfes und dadurch auch gefährliches Instrument ist, zum Beispiel wenn es missbräuchlich gehandhabt wird. Das allerdings kann nur geschehen, wenn ich überhaupt erst gelernt habe, Bewusstsein zu aktivieren, oder zu verfeinern, oder zu schärfen, je nachdem, für was es eingesetzt wird. Auf jeden Fall ist es erst einmal das Instrument, das wir zum Klingen bringen, können, um unseren eigenen Ton zu hören und unser Tun nach d e m ausrichten, was uns dieses Bewusstsein an Klangskalen und Optionen zur Verfügung stellt. Bewusstsein ist die Anwendung des Wissens, das ich selbst durch meine Entscheidungen und Einstellungen und Erfahrungen gesammelt habe, und die Handhabung des Wissens spielt hier eine wichtige Rolle. Bei einigen Kampfkünsten zum Beispiel dient das Erlernen gefährlicher und lebensbedrohlicher Übungen letztendlich dazu, eben kein Mörder werden zu müssen, oder mich in Notfällen kunstvoll verteidigen zu können. Ganz abgesehen von dem uralten Wissen, das hinter diesen Praktiken liegt und günstigerweise dem friedlichen Menschsein über die Tortur der Praxis und der Disziplin gewidmet ist. Hierbei geht es vor allem um das Erschaffen einer Rahmenbedingung, die dem eigenen Vorangehen förderlich ist und einen Raum darstellt, in dem bestimmte Vorgänge und Entwicklungen möglich sind. Das Bewusstsein kann auf alles zugreifen, was mit dem von mir angereicherten Wissen in Verbindung steht. Der Zugang zu meinen eigenen Gedanken, meinen persönlichen Überzeugungen und Klarheiten, die ich durch persönliche Erfahrung erlangt habe. Genau um diese Schnittstelle wird es in den nächsten Jahren gehen, wenn das Übergreifen von künstlicher Intelligenz als Angriff auf menschliche Intelligenz erlebt werden wird, und wir alle von der Sucht schon so weit gezeichnet sind, dass uns vielleicht gar nicht mehr auffällt, wie wir unser eigenes, ungenutztes Potential an geistiger Entfaltung zwar einerseits erweitern, andrerseits aber so korrumpieren, dass keine Lösungen mehr vorhanden sind außer…ja, außer was? Schon beim neuen Modewort „Aufmerksamkeit“ kann einem das Gähnen kommen, und das Gähnen kommt vor allem dann, wenn man denkt, es zu kennen, es aber nicht kennt. Freischwebende Aufmerksamkeit!

Die Welt der Klagen

Hätte ich doch unbekannte Reden,
fremdartige Sprüche,
neue Worte, noch nie gebraucht
und frei von Wiederholungen,
nicht die Sprüche der Vergangenheit,
welche die Vorfahren schon brauchten!
Alle ahmen nur nach, was vergangen ist.
Wüsste ich doch, was andere nicht wissen,
Was niemals noch überliefert wurde,
dass ich es sage und mein Herz mir Antwort gebe!
Dann würde ich ihm mein Leiden erhellen,
die Last meines Rückens auf es abwälzen.
*

 

* aus: Altägyptische Dichtung

traveln

Es ist ja nicht so, als wären wir, die Travellers der Siebzigerjahre, völlig unbedarft in Nepal und Indien eingetroffen. In meinen Jahren der Mitarbeit im „Living Theater“ zum Beispiel hatten wir schwere politische Kämpfe ausgefochten und uns auf Weltbühnen dem direkten Kontakt mit dem Publikum ausgesetzt, damals ein Novum. Wir verlangten Dinge von den Menschen, die sie nicht umsetzten konnten oder wollten, wie das Verbrennen von Geld oder das Recht, sich zu entkleiden, symbolhafte Rituale, die Fragen aufwerfen sollten darüber, wer oder was eigentlich unser Leben bestimmt. Unter den waghalsigen Mitglieder(:innen) hatten wir auch einen Inder, Gene Gordon, vielleicht einer der sehr wenigen, glaubwürdigen Yogis indischer Herkunft, den ich selbst erleben durfte. Bei jeder verfügbaren Pause machte er Yoga-Übungen, während wir alle so taten, als wäre Meditation bei uns schon das Alltags-Normal. Wir riefen zur großen Selbstbefreiung auf, aber als einige der ganz Bereiten zu uns kamen, um unser Leben zu teilen, da wussten wir nicht, wohin mit ihnen. Über was für ein Leben sprachen wir eigentlich außerhalb der Theaterwelt? Judith Malina und Julian Beck waren geniale Pioniere der Zeit und taten, was möglich war, bis auch das sich nicht mehr als zeitgemäß erwies. Windhauch nach Windhauch, der Tod immer in Bereitschaft mit der Sense. Gerne würde man glauben können, dass vor allem die jungen Toten von den Göttern besonders geliebt werden. Dann begann die Bewegung nach Indien, wo die Schicksalswege wieder stark auseinander gingen, bis sich neue Stämme formierten. Neue Kostümierungen tauchten auf, spirituelle Schulungen kamen in Gang. Als ich selbst dann endlich wieder in Indien eintraf und den Ort gefunden hatte, an dem sich mein Leben gestalten würde, da wurde ich auch wie automatisch in eine geistige Praxis gedrängt. Allein der Wunsch, an einer Feuerstelle zu sitzen, war schon Programm, das eine Umsetzung brauchte. Mit der Umsetzung kam das System und die dazugehörigen Fragen, nicht immer so weit entfernt von den Fragen der Psychoanalytiker, letztendlich also Fragen an sich selbst, die der Entwirrung der eigenen Natur dienen und klarstellen sollen, wer da wo und wie und warum und wodurch sitzt. Also ich, die ich da sitze, mich frage, wer das ist, die da sitzt. Der Körper? Der Geist? Die Gewohnheiten, mit denen wir herumhantieren, als wären sie uns angeboren und dadurch unvermeidlich. Was gehört zu einem, und was nicht. Wie entsteht ein Gedanke, und wodurch können Gedanken den Weg versperren. Wenn es überhaupt einen Weg gibt, oder bin ich selbst der Weg, den ich gehe. Wir alle, wer immer das ist, sind sehr wissensvoll geworden in der Beantwortung all dieser Nachforschungen. Wir sehen, dass die ganz großen Themen auf den Titelseiten der Zeitungen erscheinen.  Wer bestimmt uns? Wie leben und für was leben wir undsoweiter. Was sich verändert hat, ist die Dringlichkeit, Klarheit der eigenen Wahrnehmung  zu schärfen, ohne auf letzte Wahrheiten fixiert zu sein. Das kosmische Spiel bietet einerseits sein letztes Kapitel, und andrerseits neue Meisterschaften an. Es geht um Leben und Tod, klaro.

gehbar

OMG (G for Goodness oder „O Meine Güte!) Ich wusste nicht, dass das kleine Video hier so riesig erscheinen würde. Es kam gestern aus Indien mit Reenas Kommentar. Walter Kaufmann war ein amerikanischer, jüdischer Musiker, der kurz vor der Machtergreifung der Nazis nach Indien ging, um dort Musik zu studieren. Wegen der politischen Situation konnte er nicht mehr zurückkehren und arbeitete in Bombay  u.a. für „All India Radio“. Reena erzählte mir, dass in ihrer Kindheit ganz Indien morgens diese Melodie hörte, also ein paar Minuten Walter Kaufmann auf der Geige. Man kann sich ruhig mal dem Staunen überlassen über die außerordentlichen Schicksalswege der Menschen. Von einem System kann er gejagt werden für etwas, was er nicht ändern kann, und von einem anderen dankbar empfangen werden und kann bereichern durch einen Violinenklang. Dieses Durchhaltevermögen und allen Widrigkeiten zum Trotz etwas Bereicherndes erschaffen zu können, das entlässt Kräfte, die man vielleicht sonst gar nicht entfalten könnte. Oft nimmt man ja die komfortable Ebene als die endlich erreichte Wunschvorstellung von einem guten Leben. Aber folgt der Geist erst einmal brav den vielen heraussprudelnden Wünschen, gibt es oft keinen Einhalt mehr, so, als bestünde das Leben aus einer kontinuierlichen Wunscherfüllung. Nun, da wir wissen, dass das kein Ende hat, ist das System selbst nicht mehr zu stoppen. Kauft!, heißt es, und das ohne Worte, sonst gibt’s davon bald nichts mehr, Licht aus im Schlaraffenland. Deshalb ist es hilfreich, sich wieder auf  die geistigen Fähigkeiten zu besinnen und dementsprechende Entscheidungen zu fällen. Hier geht es um die Entscheidung zwischen freiwilligem Sklaventum und einer Meisterschaft ohne jede Garantie, nur für den eigenen Antrieb und ohne Erwartungshaltungen. Natürlich ist das schwer beeindruckend, wenn Master Shi Heng Tzu seine sichtbare Vollkommenheit vorführt, kein Zweifel. Manches entdeckt man zu spät und kann nicht mehr daran teilnehmen, weil einem diese Meisterschaft versagt bleiben würde. Aber selbst die Martial Arts Belt-Träger:innen sind noch Teil einer Institution. Was macht so einer am scheinbaren Ende seines Zieles, also wenn das zu Erreichende erreicht ist. Meist wird gelehrt, so wird das Brauchtum erschaffen und kann später nicht mehr abgeschafft werden. Denn selbst der vollkommenste Weg wird nur für ein paar weitere Praktizierende der vollkommene Weg sein. Wichtig erscheint mir, dass man den eigenen zuweilen erforscht auf seine Wachsein erfordernde Gehbarkeit, bei der das Komfortable nicht das Vorherrschende ist.

Es ist ja so mit den Erinnerungen: macht man ein Türchen auf in einem der Korridore, kann man vom Andrang des im Verborgenen geruht habenden überrascht werden. Nun muss man entscheiden: will ich oder will ich nicht hinein ins Abenteuer des Gewesenen. Nun gut, man kann die Laterne mitnehmen und sich ein wenig umschauen. Ob man vielleicht was übersehen hat, neun Jahre sind schließlich kein Windhauch, oder sind sie doch nur ein Windhauch. Einmal kaufte ich im Bazaar von Kathmandu einen Adler. Er sah gerupft aus, und ich wollte ihn nur dem Verkäufer aus den Klauen reißen. Aber der hatte ihm schon die Flügel gestutzt. So lebte er bei uns und ich nannte ihn Zarathustra. Eigentlich war ich ja Zarathustra, denn nun hatte ich einen Adler. Jemand brachte eine gigantische Himalaya Eule vorbei, kurz danach nochmal eine verwundete Eule, sie lebten draußen im Baum, der Adler innen im Haus. Irgendwann erhob er sich vom Boden und flog davon. Die Mönche erzählten uns, sie würden ihn öfters auf der goldenen Spitze des Swayambunath Tempels sehen, dann nicht mehr. Bei den Tibetern gefiel mir der freie Umgang mit Totenköpfen. Es ist ja nicht einfach zu verstehen, was die hier gemeinte Symbolik von der Tradition her verstanden meint. Wir waren keine Eingeweihten, so sehr wir auch manchmal hineingelockt wurden in die offensichtlichen Mysterien sehr anders Denkender. Aber vielleicht war es doch eher so, dass wir aus eigenen, westlichen Irrgärten kamen, durch die wir uns durchgeackert hatten mit vielen, oft gefährlichen Experimenten. Aber immerhin: wir begegneten uns. Einmal hatten wir von tibetischen Händlern eine mit Silber ausgelegte Totenkopfschale erstanden, und benutzten sie als Zuckerdose, die Mönche kugelten sich vor Lachen. Dealer, Poeten, Mönche, unser Haus war offen. Da ich nicht kochen konnte, wurde uns ein exzellenter Koch empfohlen, ein wahrer Engel, dem ich gerne hiermit noch einmal danke. Es ist einfach lange her, und es ist unserer Gästin zu verdanken, dass sie es mir nach 45 Jahren noch einmal ermöglicht hat, meinen Blick dort herumschweifen zu lassen. Denn eigentlich hatte ich ja nach Indien gehen wollen, und als der Moment kam, saß ich im Kleinbus mit Tracy. Sie war dabei, als ich als Dank für die freundliche Aufnahme der Einheimischen im indischen Städtle einen Kali-Tanz für sie performte. Die Sterne standen gut für mich, ich konnte Kairos auf einem prächtigen Vogel auf mich zufliegen sehen. Das Schicksal schenkte mir einen neuen Namen, um den wenig gerangelt wurde. Aber für mich war er ein Licht.

cont….

Viele Reisende kamen in den Siebzigern nach Indien und nach Nepal. Es war eine neue Welle, die äußerst wirkungsvoll in die Kulturen hineinschwappte und unerwartet tiefe Veränderungen hervorbrachte. Wir waren bereit für neue Lebensweisen und es war denkbar, sich irgendwo niederzulassen, wo es einem ganz einfach gefiel und wo erfrischende Möglichkeiten sich auftaten. Als ich mit Cohen in Neapel ankam, regierte noch der alte König, von dem man hörte, dass er Musik und Poesie liebte. Unter uns bildeten sich Freundeskreise, manche lernten Musik, manche rauchten Opium, andere sammelten Pfauenfedern. Eine Zeitlang war es sehr kreativ und friedlich. Man bekam mühelos Kontakt mit tibetischen Mönchen oder indischen Sadhus, die ihrerseits erfreut waren für etwas Alltags-Abwechslung. Man saß zusammen und lernte sich kennen. Jetzt, als Tracy und ich uns an unsere Zeit in Nepal erinnerten, fiel uns auch beiden ein, dass sich einmal ein amerikanisches Paar in unseren Freundeskreis eingeschlichen hatte, das mir unbekannt war und irgendwie suspekt genug vorkam, sodass ich direkt auf beide zuging und fragte, wer sie seien. Es war deren letzter Clear-Agenten-Tag, also beide frei sich bewegende Agenten bei der Arbeit. Ich fragte ihn, ob sie nach Drogen suchten, aber nein, sagte er, sie sollen herausfinden, was so viele junge Amerikaner*innen in der Welt herumreisen lässt, die nicht mehr nach Hause zurückkehren. Man wäre beunruhigt, das war in diesem Ausmaße noch nie passiert. Stimmt, es war neu, dass wir einfach blieben, und bald gab es genug interne Kommunikation, um sich in den erforderlichen bürokratischen Notwendigkeiten zurecht zu finden. Wir mieteten Häuser und begannen, uns mit der Gesellschaft vertraut zu machen. Vertraut? Ja, schon, es war einfacher „damals“, einfach dabei zu sein und Neues zu lernen. Eine fruchtbare Zeit, die Nepalesen einfache, freundliche Menschen mit sehr harten Lebensverhältnissen. Sie strahlten eine Bescheidenheit aus, die wir so nicht kannten. Nicht wenige nahmen Zuflucht im Buddhismus und wurden Mönche oder Nonnen. Oder schlossen sich indischen Sadhus an, die dort auch ihre Feuerstellen hatten. Wir wanderten auch überall herum, hatten aber unsere eigene Galerie und veröffentlichten schöne poetische Ausgaben  auf Reispapier, die heute noch in amerikanischen Archiven gehütet werden  und unbezahlbar sind, wie ich feststellen musste. Vielleicht fällt es mir deshalb so schwer, mich zu erinnern, weil ich das alles eines Tages zurückgelassen habe, die ganzen Schätze, und mich endlich nach Indien aufmachte, mir allerdings meiner Rückkehr nach Kathmandu sicher war. Aber ich bin nie wieder dort gewesen, sondern eben dieser Kleinbus, in dem auch Tracy saß, die uns geradea an Ostern besucht hat, hat mich an den Ort geführt, an dem ich dann wirklich sehr lange blieb, sozusagen bis neulich. Dass unser österliches Wieder-Sehen so angenehm und bereichernd war, lag wohl daran, dass wir auf unsere eigene Art und Weise gereift sind und uns von der Herzgegend her mit wohlwollenden Blicken betrachten.

erinnern


Oh
Das war ein durch allerlei einem leicht fallenden Mühen erfreulich dahinfließendes Osterfest, bei dem alle Beteiligten das Gefühl hatten, sich am richtigen Ort zu befinden. Erfreulich für mich war zum Beispiel, dass ich nur kurz zwischendrin mal an die Kreuzigungsgeschichte denken musste, die so erbärmlich für den Helden ausging. Man könnte sich ja auch fragen, warum er sich so ein schlimmes Schicksal gebastelt hatte, aber immerhin hat das Drama ihn zu einem königlichen Spieler gemacht. Man kann mit ihm feiern, und man kann mit ihm oder um ihn trauern. Ich war aber mehr mit einer Gästin beschäftigt, die uns, von Kalifornien kommend und nach Paris gehend, besucht hatte über die Feiertage hinweg. Neulich in Indien, als ich noch (in warmem Sonnenlicht)  auf der Terrasse des Hauses saß, hatte ich einen Anruf von ihr bekommen, bei dem klar wurde, dass ich vor 45 Jahren mit ihr in Kathmandu in einen Kleinbus gestiegen war, der uns und noch ein paar Traveller nach Goa bringen sollte. Ich selbst war dann unterwegs ausgestiegen und hatte mich an dem Ort  niedergelassen, wo ich jetzt noch wohnte. Irgendwie war sie auf die Idee gekommen, mich zu finden, und das war ihr gelungen. Da sie sowieso mit ihrem Mann in Europa unterwegs war, hatten wir entschieden, dass wir uns treffen würden, hier im Haus, zu Ostern. Das Lied, das ich gestern in meinem Blog hatte, fiel mir wieder ein, eine singende Nonne aus Nepal. Ich habe im Nepal der Siebziger 9 Jahre gelebt, das war eine Überraschung für mich, dort wohnhaft zu werden. So langsam tröpfelte ein Zweig der Überlebenden aus den Sixties in die uralte Tradition hinein. In Kathmandu wurde jährlich eine Jungfrau im Kindesalter zur Göttin erhoben, bis sie ihre Tage hatte und dann meistens in der Prostitution endete, weil kein Mann eine vom Göttinnenstatus herabgefallene Frau heiraten wollte. Tracy hatte 3 Jahre in Nepal gelebt, und wir erwarteten, uns an viele Menschen gemeinsam erinnern zu können, die einem ständig auf der damals schlichten Hauptstrasse begegneten und entweder auf ein Visa nach Indien warteten oder in Nepal direkt was zu tun hatten. Ich hatte noch meine Violine dabei und einen Violinlehrer, Gopal Nath. Schön, dass ich mal seinen Namen hinschreiben kann, ein wunderbarer Lehrer, der damals einer der wenigen Violinspieler Indiens war und Schüler von V.J.Jogh wurde. Er hörte diesen Meister auf der Violine in einem Krankenhaus in Lakhnau mit bandagiertem Kopf, denn ein Tiger hatte ihn angegriffen in seinem Heimatdorf. Er kam eh aus einer Musikerfamilie, aber dann fing er an, Geige zu spielen, mit dem Steg nach unten an die Ferse gelehnt. Meistens spielten wir, bzw. ich lernte Raga. Zwischen unserer Gästin und mir wurde bald klar, dass wir uns wenig an damals gemeinsam Erlebtes erinnern konnten, ja, sie war sichtlich überrascht, wie wenig vor allem ich mich an Menschen dort erinnern konnte. Ja, als sie mir ein paar Gesichter zeigte, aber keine Namen. Oder doch, ein paar schon: Hetty, die nur noch tibetische Kleidung trug und ihren Sohn zum Tulku erklärt hatte, oder Charles Henry Ford, der dort lebte, um zu schreiben, und dabei junge Nepalesen verführte. Oder Angus, der seine Schamanenphantasien auslebte und meistens trommelnd vorzufinden war. Oder Jimmy Thappa, der einsame nepalesische Wolf im Cowboy Outfit undsoweiter…ich merke, dass die Erinnerung dennoch ganz schön fließt, dann mache ich vielleicht morgen weiter mit den nepalesischen Anekdoten, alles dank unserer Gästin. Ein sehr angenehmer Mensch und so eine Freude, sie nach all diesen Jahren kennen zu lernen.

befremdlich

Das wichtigste Fest des Christentums bahnt sich an, Hase und Eier so etwas wie ein natürliches, klimabedingtes Beiwerk darstellend zum großen Drama, in dem der Held im Kreis seiner Followers erst verraten, dann mit bluttriefenden Kopfwunden durch die Straßen getrieben wird, vorbei an den zugelassenen Gaffern. So, wie es heutzutage auch viel zu gaffen gibt an den Bildschirmen und es keinem verübelt werden kann, wenn der Mut fehlt, in die Szene einzubrechen und Gerechtigkeit zu fordern, und dann: welche. Nach langen Jahren in Indien und das Christentum als befremdlich wahrnehmend, habe ich mir dann irgendwann die mir relevant vorkommenden Fragen gestellt, von denen eine wäre: was bedeutet mir diese Geschichte. Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen? Fürwahr? Aber auch ich muss ja nicht an meinem Konfirmationsspruch herumnagen und ein Feld infrage stellen, wo ich mich gar nicht auskenne. Wenn ich einen Film aus ein paar Fetzen des Stoffes machen wollen würde, könnte ich mir vorstellen, dass auf einmal während seines Folterganges die Erde erzittern und ein rasendes Amazonenheer heranpreschen und ihn, den Gepeinigten, hoch aufs Ross hieven würde, und ab mit ihm nach Kashmir, wo er als Krishna, der Gott der Liebe, weiterarbeiten kann. So sehe ich mich dieses Jahr genötigt, mich von diesem geschichtlichen Jesus zu lösen, bei allem Respekt für die möglichen Varianten dessen, wie es einst wirklich war, als nirgendwo Kameras hingen und keiner ein Selfie mit dem Nageleinschlager machen konnte. Es war ja nicht nur er, der da hing, sondern andere hingen auch angenagelt herum, das war damals Usus. Und wem sollte man es zutrauen können, sich gegen offensichtliches Unheil aufzubäumen, da die Angst durchaus berechtigt ist, dabei selbst genagelt zu werden. Nicht jede/r ist begabt für einen Heldentod. Mit Christus wird obendrein noch ein Göttersohn geopfert, und diese Neu-Orientierung war den meisten dann wohl doch zu unheimlich. Und es ist ja nicht so, als hätte es jemals aufgehört mit der Opferung Gutgesinnter, sie sind den Machthungrigen ein Dorn im Auge. Ständig tut es weh, dass sie nicht sein können wie diese Anderen, die in einer ihnen fremden Welt leben, in zu der ihnen Einblick und Zugang fehlen. So kommt es mir gesund vor, aus Phantasie und Historie herauszutreten und den Blick offen zu halten für das, was einen wirklich betrifft. Damit der gepeinigte Geist sich erholen und auferstehen kann.

langweilig

Ich musste feststellen, dass es gar nicht so einfach war, ein langweiliges Bild zu konstruieren, und vielleicht hat etwas nur, wenn es nicht konstruiert wird, eine Chance auf Langeweile. Wenn, wie das Wort schon sagt, lange nichts passiert, oder genau das vom Geist als unangenehm empfunden wird, kann man so etwas natürlich auch genießen. Eine meiner inneren Einstellungen, ziemlich verstaubt und eher in einer Abstellkammer zu finden, versteht Langeweile als einen kleinen Aufwecker für das System, in dem sie sich breitmacht. Nun weiß ich aber durch eine Erfahrung, dass ich Langeweile genießen kann. Das war gestern. Im kollektiven Zugzwang politisch relevanter Themen fühlte auch ich dieses Interesse, so lange auszuharren, bis die Anklagepunkte gegen Donald Trump verlesen werden würden. Das zog sich ziemlich hin, ich schaute bei CNN und anderen amerikanischen Moderator*innen und Expert*innen rein. So oft wie möglich zeigten alle Sender die in rarster Weise durchgeschleusten Bilder des Angeklagten, und auch mit der Lupe konnte man sich hier nicht wirklich sicher sein, was hinter diesem Narzisstenschädel wohl vor sich gehen mochte, oder ahnte man doch ein bisschen herum. Einer fand ihn am Boden zerschmettert, dann fand jemand in seinen Zügen einen unverhohlenen Aufwind. Marjorie Taylor Greene wurde sofort nach ihrer Ankunft bei ein paar Protestlern wieder von Bodyguards in ein Auto verfrachtet. Ich schaue mal schnell nach, ob man im Englischen  „narcissist“ sagt (ja) und nicht „Narzisst“ wie im Deutschen. Also inmitten dieses in der Warteschlange gefangenen Bannes, dem man ein bisschen nachgeben musste, um wenigstens noch die 34 Anklagepunkte mitzubekommen, die auf allen Kanälen angekündigt waren, überfiel mich eine große, genussreiche Langeweile, und ich schaltete den ganzen Zirkus einfach ab, wohl wissend, dass alle Medien dafür sorgen würden, dass ich morgen die Essenz vom Abgespielten in ein paar Minuten überbracht haben werden würde. Mit einer gewissen Schlagartigkeit wurde mir klar, dass ich nicht weiß, warum mich die verwegene und bis zur Schmerzgrenze reichende Dummheit Donald Trumps überhaupt „noch“ interessierte.“Noch“, weil es ja einmal interessanter war, direkt auf der politischen Weltbühne einen Narzissten mit einem anderen vergleichen zu können, denn es sitzen zur Zeit auffällig viele von ihnen in ihren erbärmlichen Reichen, und nichts und niemand kann sie vom Hocker reißen, denn sie kleben an ihnen noch besessener als die Aktivist*innen am Straßenrand. Das einem ganz und gar unerklärlich Vorkommende übt einen Reiz aus, dem man rechtzeitig entkommen möchte. Der Mann ist kein Präsident mehr, sondern ein bürgerlicher Verbrecher, der für seine obszönen Rachefeldzüge gefürchtet ist, aber schon wieder zu viele Worte. Ach wie drängt es doch auf der niedrigst verfügbaren Ebene, mal so richtig in den Wind hinein loszukotzen, nach China hin und in die Türkei, nach Syrien und nach Russland und Nord Korea, wo sie alle sitzen undsoweiter. Gerade noch schaffe ich die Kurve, ach süße Langeweile, wie großräumig und großzügig erscheint mir dein Angebot.

reifen


Worry-Doll aus Guatemala
Ich muss schon sagen: es ist auch eine Zeit der Reife, in der wir leben. Niemand kommt an der Palette der Bildungsmöglichkeiten vorbei, auch wenn sich ungeheure Problematiken in den Schulzentren ballen, wo die herrschenden Zustände eine Gefahr aufgewirbelt haben, die kaum mehr zu bändigen ist. Wer würde nicht gerne von Berufen flüchten, in denen alles verlangt und keiner geschont oder gebührlich bezahlt wird. Wo es doch gerade darum geht, dass der oder die Einzelne besser gehört, besser gesehen wird, besser eingeordnet werden kann in das Gesamtbild aller lebenden Persönlichkeiten. Vielleicht haben wir, die gerade Lebenden, nicht gründlich genug verstanden, woran so viele Menschen (schon immer?) zugrunde gingen und gehen. So, als wäre es selbstverständlich, das Leben überhaupt nicht mehr als ein Fest zu sehen, oder als ein Abenteuer, in dem man bestimmte Prüfungen bestehen kann, aber nicht muss, denn wenn sie nicht gestorben sind, leben sie ja noch heute. Die Prüfungen sind allerdings auch geblieben, vielleicht etwas geballter, sodass der Held oder die Heldin selbst den Mut verlieren, sich tapfer durchs Dickicht zu schlagen. Denn die Frage bleibt ja: für was um Himmels Willen schlag‘ ich mich denn durchs Dickicht. Das heißt, dass die Fragen der Heiligen an sich selbst mitten im Weltgewirbel auftauchen und Unruhe stiften in den Haushalten. Allerdings hört man auch mit angemessener  Aufmerksamkeit von Helfer*innen, die sich wie Motten in ihre flammenden Überzeugungen werfen. Um sie braucht man sich nicht sorgen: sie wissen, was sie tun. So ist aus der großen, unüberschaubaren Masse der Menschen ein Planet der Einzelnen geworden, die unversehens genötigt werden, sich  auf eine vielleicht noch unbekannte Antwort zu konzentrieren, da ein Druck des Unlösbaren unaufhaltsam nach oben drängt. Wo ist oben? Oben ist, wo eine Lichtbirne aufleuchten kann, deswegen nennt der sogenannte Volksmund vermutlich den Kopf eine Birne. Etwas kann da drin zum Leuchten kommen, wenn die Drähte gut verbunden sind, ein Licht kann einem aufgehen, das meist mit Verstehen von etwas in Verbindung gebracht wird und das eigene System darauf anspringt. Natürlich können Systeme auf alles Mögliche anspringen, daher die gedankliche Öffnung hin zu einer Reife, die beinhaltet, dass das jeweilige Ich, einzeln, Verantwortung trägt für den Zustand, den eigenen Zustand also. Wenn der gemeinsam fabrizierte Irrgarten des Menschseins aber selbst und  wie automatisch auf einen Kipp-Punkt hintreibt, die selbst ernannte Mission sich als not possible erweist, dann ist das auch nur ein Gedanke, den man haben kann. Er könnte einen inspirieren, die eigene Vision des Menschseins  hervorzuholen, um sie zum Beispiel auf ihren naiv erscheinenden Idealismus zu übersprüfen. Aber auch hierzu gibt es schon eine Prophezeiung, die einleuchtet. Es ist die überprüfbare Wirklichkeit, mit der Menschen allerorts den realen Vorgang des Dramas reflektieren können. Denn es ist nicht der Zugang zum Wissen, der fehlt, es ist der Wille zur Umsetzung von Gedanken, die weniger dem Menschen selbst schaden, noch seinen oder ihren Mitmenschen.

beides

Auf einmal habe ich einen „internal service error“ und kann mich nicht entscheiden, welches der beiden Bilder ich für heute als stimmiger empfinde, deswegen habe ich erst einmal beide drin gelassen, ein ziemlicher Kontrast. Oder doch nicht? Auf dem rechten Papierfetzen (aus der „Zeit“) fragt ein Insekt das andere, wie es denn läuft mit der Psychoanalyse? Und das andere Insekt antwortet: „Ich und Über-Ich haben es satt“, was man sofort versteht. Dagegen das andere: das schwer wiegende Wort „Geist“ im Schummerlicht, abphotographiert von einem auseinanderfallenden Büchlein mit 31 Seiten, Copyright Piper Verlag aus dem Jahre 1947, von Karl Jaspers „Vom europäischen Geist“. Es kam aus meiner indischen Reisetasche, denn dort in Indien wollte ich es gerne nochmal lesen, aber es kam nicht dazu. Vielleicht sollte es nur als Anregung dienen, selbst über den europäischen Geist nachzudenken, und durch was man ihn kennzeichnen  oder erkennen und erleben könnte. Dieser Geist, der in der englischen Übersetzung schnell zu einem „ghost“, also zu einem Gespenst wird, dann aber auch „spirit“ ist, kreatives Miterleben des ganzen Prozesses, politisch, philosophisch, psychologisch, persönlich. Das andere Buch, das ich dabei hatte, ist von Erich Fromm, „Die Furcht vor der Freiheit“. Die ganzen vier Monate in Indien lag es an einer bestimmten Stelle auf dem großen Holztisch und sprach mich immer mal wieder mit seinem Titel an, damit mein Geist es versteht, dass vermutlich eine der größten Ängste der Menschen die vor der Freiheit ist. Und dass die äußere Freiheit jederzeit eingeschränkt werden kann, die innere aber für jeden Menschen eine Möglichkeit bietet, die von der eigenen Haltung und Einstellung abhängt. Und es kommt wohl auch zuweilen vor, dass es „Wichtigeres gibt als das Leben“, ein japanisches Sprichwort, über dessen scheinbare Absurdität man nachdenken kann, denn was könnte das meinen? Was bedeutet es?  Auch Intelligenz kann hohe Preise fordern und ist weit verbreitet, das ist nicht zu leugnen. Es kommt darauf an, was wir Menschen in unserer jeweiligen Lebenszeit damit anfangen. Und so musste ich mir eingestehen, dass ich zur Zeit gar nicht so wild darauf bin, selbst hochkarätige Lektüre hereinzunehmen in mich, die ja auch wieder verdaut werden muss. Sondern ich blättere in diesen schönen Objekten herum, die einem immer wieder ermöglichen, Vertrautes zu entdecken , damit man nicht denkt man sei allein auf falscher oder richtiger Spur, was beides nur ablenkt vom Wesentlichen, das in Zeiten großer Verwirrung nicht einfach auszutüfteln ist.

April


Surferin,
den marmornen Urgrund durchquerend
Während der Monsoon so vor sich hinplätschert, könnte man sich an dem Angebot des Drinnseins erfreuen, draußen und innen drin, das könnte eine Möglichkeit bieten, sich kennen zu lernen. Kann ich mir überhaupt vorstellen (zum Beispiel), eine neue Denkart bei mir selbst einzuführen, die unter Umständen alles /vieles/etwas, was ich bisher auf eine bestimmte Weise gesehen habe, von Grund auf verändern würde. Vielleicht wird man auch nur vom Spiel selbst, an dem man ja immer auch beteiligt ist, gewissermaßen gezwungen, sich neu zu orientieren. In den letzten Monaten, die ich in Indien verbracht habe, fühlte ich mich einerseits vollkommen zuhause, denn ich lebte in einem der schönsten Privathäuser am See, alles einfach und edel zugleich, die Architektur strahlt eine antike Unterstörbarkeit aus. Mit der vergehenden Zeit bemerkte ich, dass mein ganzes Wesen erfüllt und gestaltet worden war durch diese Kultur, die meinem schöpferischen Geist eine neue und das Innere tief bewegende Seinsmöglichkeit anbot, und ich bin mir so dankbar, dass ich mich darauf einlassen konnte. Das Einlassen auf Götter und Heilige, auf epische Geschichten, die man sich in jedem Zug erzählen konnte. Alle, die man traf, liebten Krishna, sie liebten auch Shiva, und natürlich Vishnu, wie könnte man die heiligen Drei jemals trennen, genauso männlich besetzt wie Vater, Sohn und heiliger Geist, also ein kosmisches Symbol, ein Dreieck. Auch die Göttinnen kamen nicht wirklich zu kurz, nur die Frauen im Haus, da tobte das Unausgegorene, das Verborgene, das dem hohen Anspruch niemals gerecht werden Könnende, der Wahnsinn der Großfamilie. Die, die nicht hineinpassten in dieses ausgeklügelte System der Bewährungsproben, konnten entweder fliehen oder wurden ausgegrenzt und suchten neue Wege, davon war einer der heilige Weg. Zu meiner großen Überraschung sprach mich dieser Weg an. Diese schöne Geste der Verneigung, Namaste, ich grüße den Gott in dir, ja hallo, kann man Besseres zu den Anderen sagen. Aber besser ist es nur, wenn man auf tiefste Weise damit in Berührung kommt, also mit der Schlichtheit einer hohen Ebene, die sich auch im Essen niederschlagen kann: gemäßigt, aber das Beste, was zur Verfügung steht, ohne zu große, wunscherzeugte Abwandlungen: Chapati und gut gewürztes Gemüse, vielleicht noch eine Süßigkeit hinterher: natürliches Genug, weil es so köstlich ist, das Essen. Aber auch dem Geist wird viel angeboten dort in Indien. Man tut alles so gut man es kann,denn nach dem Tod geht’s weiter. Auf der Flatscreen läuft  auf bestimmten Kanälen das Heiligenprogramm. Alle Gurus, die was von sich halten, sind dort vertreten. Oder jemand kommt rein und switched das Ding um, dann tanzen meist viele Menschen irgend etwas unvorstellbar Obszönes, sowas kann man sich nicht einmal hier auf bestimmten Levels vorstellen, aber was wollte ich sagen. Ich merkte also ganz deutlich, dass ich zwar alles, was mich in dieser Kultur angesprochen hatte, auf meine Weise im mir weiterlebte. Ich passte noch äußerlich, aber nicht mehr innerlich in das Spiel. Ich denke, es waren die Götter, die sich aus meinem Leben entfernt hatten. Gerne genieße ich nochmal die kindliche Vision und sehe eine Versammlung ehrwürdiger Gestalten, in die ich noch schnell eine weibliche Gestalt hineinschmuggle, die auch Diotima heißen könnte, und sie alle lächeln mit vollendeter Güte in meine Richtung und sagen was, ja was sagen sie denn. Sie sagen zum Beispiel: weil du das alles einigermaßen ordentlich gemacht hast, haben wir beschlossen, dass du aufs nächste Level transportiert werden kannst, also lebst du von jetzt an ohne uns. Sie waren weg! Keine Götter mehr! Ich habe versucht, es meinen Freunden dort zu sagen, aber sie hatten dafür kein Gehör. Mir macht das nichts aus. Meine Freunde können glauben, was sie wollen. Solange wir uns noch verständigen können. Solange die Herzenswärme nicht marmoriert.