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Irgendwann und vielleicht durch irgendwas oder irgendwen angeregt dämmert’s einem, dass das tiefere Nachdenken über bestimmte Dinge unerlässlich ist. Der Wunsch nach Freiheit ist in vielen Formen und Vorstellungen vorhanden, doch wie geht das: befreien. Mich befreien?, und von was? Wo befindet sich aktuell das Überflüssige, das ich rechtzeitig als eine Last erkennen kann? Die Bücher? Die Objekte? Die umfangreichen Ansammlungen dessen, was man für wesentlich hält? Oder muss man nur innen in den Lagerräumen mal ordentlich durchpusten, damit die Staubschichten des Vergänglichen sich lüften und man dahinter oder darunter auch die Vergänglichkeit dessen erkennt, was man für unverzichtbar hielt. Nun dauern diese Prozesse gewöhnlicherweise ziemlich lange, denn man selbst hängt an der Maske des Todlosen, um den Hals einen Gauklerkragen, an dem die Glöckchen der Weisheit baumeln, bis sie von einem selbst gehört werden. Bis der Ton näher kommt und aufhorchen lässt, denn erst später im Leben kann man erfahren, wie kurz das alles war trotz aller tief bewegender Auftritte des Unsterblichen. Hohe Kulturen haben uns gelehrt, dass das Sterben gelernt sein will, und dass jeder Tag zählt, jede Stunde, jede Minute, jeder Nu. Lang lebe der Nu!, denn er hört niemals auf. Nur wir verschwinden.
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Ich bin sicher, dass sich im Bereich des Sterbens und Erbens und Trauerns großartige Tragödien und Komödien abspielen und abspulen, denn es ist doch der eigene Film, der hier zum Tragen und zum Vorschein kommt. Und noch einmal von sich selbst zur Besichtigung freigegeben werden kann. Natürlich nur, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind, oder meine ich (auch): jeder stirbt, wie er oder sie gelebt hat? Aber kann man denn an der Kunst des Sterbens tatsächlich ablesen, wie und als wer jemand gelebt hat? Es kann ja Jahrzehnte dauern, bis man überhaupt mal die Gelegenheit hat, einen sterbenden oder todkranken Menschen zu begleiten bis hin zum geheimnisumgaukelten EXIT. In einer der möglichen Varianten möchte man, wenn man denn darüber nachdenken kann oder will, zum Beispiel gerne sofort weg sein, eben ohne das lange Leiden, die schmerzvollen Durchgänge bis hin zur Palliativmedizin, wo man dann allerdings den technischen und medizinischen Fortschritten zutiefst dankbar ist, denn sonst käme alles noch schlimmer. Wo doch eh schon alles schlimm genug ist, sodass einem der Gedanke kommen mag, ein Tod könnte auch in einer zeitgemäßen Stimmigkeit stattfinden (also zum Beispiel nicht in einem Krieg), und man hätte noch die Muße, sich dem Gate of Departure kontemplativ zu nähern, um Hände und Geist rauslockern zu können aus den Verstrickungen, den Anhänglichkeiten, den Bedürfnissen, den Zerwürfnissen, den Meinungen undsoweiter. Es weht ja, unbeirrt von unseren Einwänden, unbeirrt durch die Räume der epische Gong des Finalen, dessen Klang (unter sehr streng geordneten Bedingungen) vielleicht weitere Anekdoten auf Lager hat für die, oder besser „uns“ Weiterreisende, die wir ganz offensichtlich mit unserer Form sehr verknüpft sind, sodass das berühmt gewordene Prinzip des Loslassens sich beim Absprung als der eigentliche Geheimcode enthüllt.
* Venedig Biennale 20o7
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
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Manchmal fühle ich selbst die großen, schwarzen Schwingen aus meinen Schulterblättern herausragen, und ich muss ihre Schwere und Wucht ausbalancieren, meist mit einem Hineinstarren in die schweigsame Substanz der Leere, wo Atem und Atemlosigkeit sich gegenüberstehen und um ihre Vorherrschaft ringen. Denn das Eine ist uns bekannt als das Leben, und das Andere will sein eigenes Geheimnis preisgeben, nämlich wenn es klar wird, dass die eigene Rolle im Drama zu Ende geht. Mächtige Gewässer tun sich auf, und auf ihrem dunklen Glanz lassen Frauen in grauen Gewändern die Nachen mit Stäben durch die Fluten gleiten. Ob die Körper, die sie befördern, am anderen Ufer empfangen werden, das wissen wir nicht. Aber da ich die Szene von hier aus beleuchtet sehe, gehe ich davon aus, dass es eine Lichtquelle gibt, vermutlich die eigene Energie, die da noch aktiviert ist, wie gesagt und auch verstanden: wir wissen es nicht, fühlen es aber im Bereich des Ahnens.
*Collage von C:M:Brinker
Zu Hause zu sitzen im Trockenen und sich Meinungen zu bilden über die Gräueltaten da draußen ist anders, als wenn man mittendrin steckt oder aufpassen muss, wem man was sagen darf in der tödlichen Hitze der Gefechte. Wenn Männer und Söhne, auf die man stolz sein wollte, ohne Beine zuhause erscheinen, oder gar nicht mehr, und die scheinbar männliche Selbstverständlichkeit wieder einsetzt, sich an den Frauen des Feindes zu vergehen, so wie es dann andersherum auf gleiche Weise geschieht, sodass man ein Erwachen des Menschen zu sich selbst zuweilen nicht mehr für möglich hält. Und muss trotzdem versuchen, bei sich zu bleiben, wo die Idee und auch die Praxis und die Erfahrung kursieren, dass ein Mensch, der gelernt hat, das innere Auge auf sich selbst zu richten, an sich selbst und den Anderen weniger Schaden anrichtet. Man muss und kann das überprüfen, und auch hier geht es ohne Kampfgeist nicht wirklich zur Sache. Es ist die Sache, für die man einsteht, die klar sein muss, damit man die „richtigen“ Entscheidungen trifft, also solche, die nicht geeignet sind zum Bereuen. Dass man lernen konnte, den tödlichen Gefahren nicht auszuweichen, das Morden aber zu vermeiden, auch mit Gefühlen und Worten. So sitzen wir auf unseren Stühlen und starren dorthin, wo sie sich täglich um die kostbare Erfahrung des Lebens bringen, sinnlos, namenlos, ausweglos. Derweilen ringt gerade bei uns im Haus eine Frau um die Würde ihrer letzten Stunden in diesem Abenteuer. Auch hier kann man noch vom Glück sagen, dass es aus Ritzen und Lücken hervorscheint und auf seine eigene, oft humorvolle Weise leuchtet. Wenn es noch Zeiträume gibt für das Unerklärliche, der Strom des Verstehens sich jedoch unbeirrt in die ihm logisch erscheinende Richtung bewegt.
In der verfügbaren Lebensspanne ist man immer wieder genötigt, eine gewisse Aufmerksamkeit auf das Ich zu lenken. Wo es hinwill, wo es herkommt. Welches Maß hier angestrebt werden soll, wo soll es überschritten werden. Wo tut auch mal das tiefe Dunkel gut, wo kann zu viel Gier nach dem Licht ungesund sein. Aus was besteht überhaupt das Ich, und wie weit gelangt die dort angebrachte Vorstellung dieses Identitäts-Puzzles zur lebendigen Daseinsfähigkeit als ein ent-ichtes Ich im Sinne eines aus der eigenen Haut geschlüpften Papilios, ganz zum Entzücken der eigenen Selbstwahrnehmung. Vielleicht nur die pure Form einer verkörperten Existenz (mit mir als Spiegelloses), ich weiß es nicht. Oder der Druck in der Kohlekammer ist noch nicht groß genug, um Anteilnahme zu beanspruchen an der Logik des geistigen Triebwerks. Was ich weiß aus Erfahrung und im Dienstkreis einer Sterbenden ist, dass die unvermeidbare Nähe des Abschiedes von dieser uns bekannten Seinswelt viele Möglichkeiten bietet, dem Ich neue Erfahrungen zuzuführen, die vorher nicht möglich waren. Man weiß ja meistens nicht, was sich hinter dem Satz „nach langem Leiden“ alles verbirgt: ob die Liebe stärker oder die Abneigung flacher, oder die Sehnsucht größer, die Trauer über das Ungelebte mächtiger wurde. Oder die Trunkenheit am eigenen Steuer nach einer Bahn sucht aus der Blase, in der alles so weltlich geordnet schien, aber nur schien. Auch bietet der Tod, beziehungsweise das Mysterium des Todes, eine straffe und klärende Ordnung an. Die Auswege sind versperrt, das Ganze besteht auf einmal nur noch aus Zugang zum Erahnbaren: immense Weiten im Spiel mit dem innen Gehüteten. Genau d a s darf nun draußen die Performance anleiten, eben solange sich ein Draußen noch von einem Drinnen absetzt. Man behält die alchemische Hochzeit im Auge und erfrischt sich am Champagnerbrunnen, beziehungsweise am Nektar der großen Befreiung.
Gerade musste ich über meine eigenen Gedanken lachen, beim Herumgrübeln über die Begriffe „Exit“, also Ausgang, oder auch „access“, Zugang und dann „Eingang“, introitus, und mich bei dem Gedanken ertappte, dass die Welt aus Eingängen und Ausgängen besteht. Aber der Tropfen Wahrheit in der Suppe des Allgemeinen ist auch nicht schwer zu finden. Wie oft am Tag geht man irgendwo hinein und kommt dann irgendann oder wo wieder heraus, die Tür oder das Tor immer beides zugleich, oder Drehtür, nach allen Seiten offen. So auch Ankunft und Abschied gern beides zugleich. Dafür braucht es eine gewisse Wahrnehmung, die geschult werden kann. Oder die religiösen Erzählungen nehmen den Platz ein und produzieren für die Gläubigen all diese Bilder, die sie brauchen, um das ungeheure Wagnis der Lebensdurchquerung aushalten und bestehen zu können. Und verhältnismäßig wenig unverrückbar Wahres hat sich in der Menschheitsgeschichte bewährt, sodass niemand mehr Zweifel anlegen kann darüber, wo die Reise des Menschen noch alles hingeht, vielleicht hinein in Welten, die für uns noch nicht erschließbar sind. Das Unvorstellbare, das in das Vorstellbare hineinmorpht. Morphen ist ein schönes Wort und hat eine beruhigende Wirkung. Und solange man am Leben ist, kann man immerhin die Einstellung zur letzten Reise kontemplieren, also wenn man da steht, inmitten des kosmischen Raumes,und vielleicht eine Einstellung schon gewählt hat, oder keine. Nun wartet da etwas, das tatsächlich nicht vorstellbar ist, denn manche behaupten zwar, sie waren dort, sind aber wieder zurück gekommen. Auf jedem Level kann der Geist produzieren, was gewünscht wird, und der Preis kann zuweilen sehr hoch sein. Aber es gibt auch Zugänge zu Räumen, in denen von Preisen nicht mehr die Rede ist. Denn das Wort war angeblich am Anfang, und am Ende wird es auch sein, bevor der Flug beginnt in die Wortlosigkeit.
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Heute früh bin ich doch tatsächlich aufgewacht mit einem indischen Mantra, das ich gar nicht freiwillig gelernt habe, sondern gewissermaßen wie nebenher damit beträufelt wurde, als in meiner damaligen Wohnherberge eine Gruppe Sinnsuchender auftauchte. Alle hatten eine gemeinsame, charismatische Herrenfigur vor sich, von der sie allerlei lernten. Als mich einer seiner Followers eines Tages ansprach und meinte, es (ich) wäre arrogant, wenn ich die absolute, verkörperte Wahrheit verpassen würden wollte. Das fand ich auch ziemlich bescheuert, schloss mich dann aber aus Neugier (wer will schon die absolute Karotte verpassen) eines Tages den Morgenstunden direkt vor meinem Fenster an und hatte in der Tat einige anregende Gespräche mit dem Meister, wohl auch, weil ich Hindi spreche und im Dorf einen guten Ruf habe. Reichlich gequält habe ich mich durch die täglich gleichen Mantren, wie das in Indien üblich ist mit dem Eingebläuten, von dem man hofft, dass es durch die geistigen Dickhäute sickert und dort etwas vom Wesen des Wissens hängenbleibt wie Majnoors Gedichtfetzen an den Dornbüschen der Wüste. Das Mantra bittet um Führung von der Unwirklichkeit in die Wirklichkeit, von der Unwissenheit ins Licht und von der Sterblichkeit in das ewige Leben. Das kann vermutlich nur durch einen Gott geleistet werden, oder kann es auch von einem Menschen geleistet werden, dass er oder sie sich von der Unwirklichkeit (z.B.) in die Wirklichkleit führt usw. Zum Glück habe ich es eine geraume Zeit zutiefst genießen können, mich den göttlichen Kräften zuzuwenden und mit ihnen Verbindung aufzunehmen. Das wird einem in Indien leicht gemacht, denn alle Anwesenden ohne Ausnahme verbinden sich mit irgendwem und irgendwas, das einen dann beschäftigt. Denn die Welt dort ist voll mit Schriften und Gedanken und Göttern, die zur Verfügung stehen und zum Leben gehören wie der Teig und die Süßigkeiten. Die meisten von uns Foreigners hatten eine glühende Romanze mit Shiva, was wiederum von Hindus fröhlich resoniert wurde, waren sie doch schon ziemlich erstarrt in ihren Ritualen und erfrischten sich an unseren Fragen, bereit, sich selbst und uns unwissende Warums gleichzeitig zu erwecken. In dieser Atmosphäre konnten wunderbare Dinge geschehen, wobei die dazugehörigen Anekdoten einen im Westen eher zu Märchenunterhalter.innen machen. Ich erwachte also mit dem Mantra auf den inneren Lippen und dachte: ja, kein Wunder! Über unserem Haus hat sich der dunkle Baldachin des Vergänglichen ausgebreitet. Noch ist das Tor offen und wartet auf die (ihre) Ankunft. An einem bestimmten Punkt muss man sich selbst an die Hand nehmen.
* Der tanzende Shiva, Statue aus dem 16. Jahrhundert, ein Geschenk unseres ehemaligen Hausbesitzers (Dr. Helmut Kenter) an unser Haus.
Was für zartbesaitete, gleichermaßen empfindliche und empfindsame Geschöpfe wir doch sind. Das könnte man allerdings auch über Tiere und Pflanzen sagen, obwohl unter ihnen auch nicht alle zartbesaitet sind. Sie sind argloser, weil sie kein Bewusstsein haben, das eingreifen kann in die sich unter und mit Menschen gestaltende Geschichte, auf allerlei Palmblättern dokumentiert und reflektiert, und die immer wieder genau d a erschüttert, wo man mit dem Erwachen des Menschen aus der Gruft seiner Untaten nicht mehr rechnen kann und möchte. Und so bricht das fremde, aber auch das eigene Leid immer mal wieder bei uns ein, flutet über uns hinweg und verhilft zu tieferen Ebenen der Stille, des Schweigens, der Worte. Die Ohnmacht schmerzt, und es schmerzt das Entweichen oder Verschwinden des Sommers, der anderen Kulturen durch Kriege und Feindseligkeit, der relativen Zeit als ein Phantom, das es bei aller Präzision der Darstellung in Wirklichkeit gar nicht gibt. Zurück also, zurück in die Haupthöhle. Das geht am besten über das Auge. Mit d e m fühlt man sich durch, da es ja sieht, man ist sozusagen gleichzeitig Eremit:in und Laterne. Jetzt kommt es darauf an, mit wem ich dort zusammentreffe, und da ist er, der ganze Spielzeugladen, oder wer’s gern dunkler möchte, dort sind Höllenglut und Himmelreich, wo auch Luzifer und Gott am Schachbrett sitzen und sich erfreuen an einem anregenden Gegenüber. Es wäre albern, wenn das, was wir so gern „göttlich“nennen, nicht auch noch was dazulernen könnte und wollte. Aber immer, wenn dann so eine eher traurige, gedankenverlorene Zeit vorüberzieht, da möchte man gerne, dass ein/e alles tief Erfassende/r einem das Kinn hochhebt und fragt: und du, wie geht es denn dir? Und man braucht nur die Kinder, irgendwelche irgendwo, sorgfältig betrachten, und man sieht sich selbst und, erfüllt von Mitgefühl, setzt man Fuß in den Sandkasten der Welt.
Es ist ja klar, dass man sich nicht täglich den Gedanken an das eigene Verlöschen zu Gemüte führen kann oder will, obwohl es auch nicht die schlechteste Morgenidee ist, wie ein Löwe oder eine Löwin aus dem Bett zu springen und in den verfügbaren Raum zu brüllen: Ich bin noch da! Auf dieser Ebene der Existenz, wo wir uns ein bisschen auskennen, gibt es immer noch die Handlungs- oder Erkenntnismöglichkeiten, die tatsächlich im Raum persönlicher Spielarten liegen. Doch es scheint in der seltsamen Routine des Hierseins eine große und bewusste Anstrengung zu benötigen, sich bewusst zu machen, dass das Viele, das man sich vorstellen kann, sich nicht automatisch entwickelt, sondern zumindest eine gewisse Ausrichtung kultiviert werden muss, die einem einen potentiellen „Flow“ überhaupt ermöglichen kann. Wenn’s flowen soll, dann sollten die Hindernisse reduziert werden, sodass sich kein Stau bildet, sondern munter schnellt der Strom über die Ausbuchtungen. Oder aber man ist für die stoische Wahrnehmung geeignet, die ich neulich mal im Netz von einem Stoizismus-Liebhaber in moderner Translation „The art of not giving a f..k“ gehört habe, aber selbst darüber müsste man noch gründlich nachdenken. Es ist erstaunlich, wie lange man sich mit einem tief-oder todernsten Thema beschäftigen kann, ohne etwas davon zu verstehen. Das Konzept des Todes bringt die Lösung: man kann den Tod nicht verstehen. Sehr wohl aber könnte man, zumindest gedanklich, ein Sahnehäubchen daraus machen: ich, allein am Tor, lös mich vom Tellerrand, und hinein! in die ultimate Navigation, befreit von der Sucht der Erkenntnis.
Die Blätter fallen, kein Zweifel. Die Tage, an denen wir ankommen, sind ungewiss, und gänzlich ungewiss ist auch der Tag, an dem wir gehen, die Stunde, die Minute, die Sekunde. Wenn Dichter:innen an Zypressen denken, oder an das Tor, wenn es sich ins Nicht-Wissen öffnet, als wer, als was, und wie werden wir dem Unbekannten gegenüber stehen. Die Relativität der Zeitspanne wird einem klar, was nur durch Anwesenheit zu lösen ist. Anwesenheit ist ein tiefes Wort. Wenn sie erscheint, die Anwesenheit, so werden Dinge und Tiere und Menschen lebendig. Und obwohl es erfahrungsgemäß schwer ist, sich und einander zu verstehen, so ist es dann möglich. Auf einmal spürt man den Atemzug, er leitet und führt das Geschehen, oder „Unternehmen“ könnte man es auch nennen. Der Körper ist, solange der Atem durch ihn hindurchfließt, lebendig, auch wenn man den Begriff „lebendig“ vielleicht noch einmal neu bedenken muss. Es ist wie das Menschsein und das Menschlichsein, jede/r ist Mensch, aber nicht jede/r ist „menschlich“. Es muss ein verborgen unter Menschen lebendes Maß geben, an dem entlang sich Individuen oder auch ganze Völker einigen oder aber entzweien können, auf jeden Fall sich bewusst oder unbewusst danach ausrichten. Eben, was man unter „menschlich sein“ versteht, oder nicht. Schicksalshaft wird es, wenn man dem Vernichtetwerden oder dem Vernichtungstrieb nicht ausweichen kann, und wer hat schon mal die Backe wirklich hingehalten, egal, (ihr Herren), wie schwächlich das Andere finden, oder ob es den Posten kostet. Und auf all den Feldern, auf denen der Tod sich bewegt, ist er nicht der Held der Unsterblichkeit, nein. Es sind die Spieler und Spielerinnen, die sich des Vorgangs bewusst sind, auf dem Weg durch den Tunnel ins Licht: also da, wo man sich selbst zurücklässt, um auf sich zuzugehen.
Wenn man mit etwas (einer Idee einer Vorstellung, einem Gedanken) in Kontakt gekommen ist, deren Umsetzung man auch gerne erreichen möchte, muss man sich nach den verfügbaren Pfaden umsehen, die einem diese Entwicklung ermöglichen. Das gilt für die geistige wie für die körperliche Ebene. So ist uns zum Beispiel durch Menschen, die darin Erfahrung gesammelt haben, mitgeteilt worden, dass es erstrebenswert ist, die eigenen Gehirnprodukte nicht nur zu bändigen, sondern so viel wie möglich zu beobachten, damit einem klar wird, was für ein ungeheurer Zirkus dort ablaufen kann. Natürlich werden diese hemmungslosen Strömungen oft gebündelt durch alle Arten von Arbeit, die aber auch verhindern können, dass man überhaupt etwas wahrnimmt von all dem irrwitzigen Treiben, das im eigenen Haus stattfindet, und sich von innen dann einen Weg nach außen sucht. Sein Lehrer, soll Sri Aurobindo erzählt haben, habe ihm mal geraten, sich auf die Lücken zwischen den Worten zu konzentrieren, woraufhin Aurobindo sich hinsetzte und sich auf die Lücken konzentrierte, und in 3 Tagen war er durch. Durch mit was? Nun ja, er hatte dann den Platz zur Verfügung, hatte den wilden Affen gezähmt, war Herr seines Reiches, oder wie immer man es benennen will. Das Thema wandert auf mich zu, weil ich eine gewisse Müdigkeit verspüre in Hinblick auf das Nachdenken und das Verstehen, das ich andrerseits immer so vehement verteidige. Vielleicht geht es eher um einen Ausgleich. Auf der einen Seite der unbegrenzte Schatz der Wortarchive, die zur Manifestation des Benötigten zur Verfügung stehen, und dann, auf der anderen Seite: eine wortlose Dichte, die auch als Leere verstanden werden kann. Da ist es still, kein Windhauch, weder Gefühl noch Gefühllosigkeit. Ein Bewusstsein, das sich selbst, und dann wiederum nicht nur sich selbst ist.
Jedes langjährige Praktizieren von etwas, das man gerne lernen möchte, braucht Kräfte, vor allem Kräfte, die einem das Durchhalten ermöglichen. Man muss das Ganze und sich selbst darin einigermaßen ernst nehmen, also eine gewisse Leidenschaft für das Gelingen des Projektes „Ich“ entwickeln, damit aus dem Angestrebten keine Karotte wird, die sich obendrein noch immer weiter vom Standort entfernt. Auch muss man sich an einem bestimmten Punkt lösen von den Thronen, auf denen die Lehrenden sitzen. Nicht, ohne ihnen den gebührenden Respekt zu zollen, wenn sie vermitteln konnten, worum es ihnen und uns uns allen geht, die wir eine bestimmte Praxis gewählt haben, um dem eigenen Ziel näher zu kommen. Da, wo das gesteckte Ziel nicht zur Karotte geworden ist, bewegen sich die Möglichkeiten, die einem nun ins Auge sehen. Der ganze Lernstoff war ja nur ein Konstrukt wie alles andere, dienlich sehr wohl, aber nur als Anregung, mit der sich jonglieren lässt oder tanzen oder einfach hineinschauen in das Unergründliche, um von dort aus die Dinge, die einen begeistern, ans Licht zu locken. Ständig ist man umgeben von Strömungen, die auf einen einwirken können, wenn man nicht auf der Hut ist und bestimmen kann, was einem gut tut, und was nicht. Das klingt immer alles so einfach, basiert aber enorm viel auf Technik, die immer wieder anzuwenden ist: erforschen, bedenken, ergründen etc. Wenn man etwas Ordnung ins eigene Getriebe gebracht hat, kann man die Werkzeuge wieder mal beiseite legen. Der Geist, der hier im Spiel ist, ist ja kein Gefängniswärter, sondern ein Potential, das jede Spielart beherbergt. Daher ist das, was wir sind, einerseits ein Windhauch, und andrerseits ist es alles, was wir von diesem epischen Ausmaß an Erfahrbarem erlebt und belebt haben (werden).
Gerade fällt mir auf, dass dieser Satz, den ich gestern aus meiner Wortschatzsammlung zusammenfügte, auf ganz verschiedene Weise verstanden werden kann. Wenn man also das Nichtsein in der physischen Welt als den Tod sieht, also das Aufhören des Seins, wie wir es kennen, dann meinen die Worte einerseits, dass etwas sich weiterbewegt. Und angeblich geht nichts verloren von der geistigen Substanz, die den Körper verlässt und von der es das Gerücht gibt, man könne sie messen, die dann im Irgendwo andockt an etwas ihr Gemäßes. Ich versuche zur Zeit, die Zügel der Gedanken da etwas locker zu lassen, und gewiss können betsimmte Ideen und Konzepte die Angst nehmen vor dem gänzlich Unbekannten (dem Tod), dem wir beim Sterben gegenüberstehen (werden). Dann gibt es andrerseits auch die Seinsfrage in der körperlichen Welt, vielmehr die Möglichkeit des Nicht-Seins, wie man es von Hamlets Verzweiflungsschrei her kennt. Und wessen Auge ist schon so geschult, dass es in den Wirren und Wogen des Menschheitsgedränges unterscheiden kann zwischen denen, denen es gelungen ist, zum Kernpunkt oder der Quelle des Daseins vorzudringen, und wem nicht. Ob ich mich also dem Lebendigen oder dem Toten verpflichtet fühle, ist in erster Linie meine eigene Verantwortung, obwohl man an den Kriterien nicht so einfach vorbeischliddern kann. Wenn man einmal keinen Meister mehr über oder vor oder neben oder unter sich hat, wird das Abenteuer umso komplexer. Wie dankbar man doch sein kann, wenn genügend Zeit und Raum zur Verfügung stehen, um zu beobachten, aus welchem Holz man eigentlich geschnitzt ist und wieweit der Kern sich eignet für unbegrenzte Lebensdauer. Ich denke, dass unbegrenzt auch sein kann, wenn ich einen langen, geduldigen Blick nach hinten in meinen Lebenskanal (live channel) werfe und es nicht die Worte sind, die sich vorwärtsdrängen, sondern in den Mundwinkeln sich eine leise Bewegung zeigt, also ein freundliches Gesinntsein mit dem Schicksal, dem der Geist unbegrenzte Lebensdauer anbietet, die er ja selbst ist.
Kiesel VII
Tatsächlich habe ich mir schon öfters vorgestellt, dass ein ganz bestimmter Satz, der meinen Weg kreuzt, sich vortrefflich eignen könnte als in Goldbuchstaben auf einen schwarzen oder dunkelgrauen Grabstein eingelassen. Da ich bereits weiß, dass ich so einen Grabstein nicht haben werde, dient diese Vorstellung lediglich einer konzentrierten Idee, wie sich durch ein paar Worte ein ganzes Leben in einen Stein hineinmeißeln lassen könnte. Zum Beispiel Rabindranath Tagore, der geradezu jubelte, was für ein Festival sein Leben doch war, und dass er getan hatte, was er konnte. Allein dieser Teil: dass man getan hat, was man konnte. Natürlich kann jede/r Sterbende sagen, dass er oder sie getan habe, was sie konnten, denn hätten sie bzw. wir mehr tun oder es anders machen können, dann hätten wir’s ja getan. Was wir mitbringen, ist das Eine. Das Andere ist das, was wir daraus machen. Das gilt für Obdachlose wie für Putin oder für muslimische Frauen in nicht gewollten Ehen. Manchmal ist der Ausweg verschüttet, das kann ganze Völker in die Kniee zwingen. Niemand weiß, wie das alles möglich ist. Junge Leute feiern auf einem Event ihr Leben, da stürmen auf einmal Mörder ins Land, das Fest ist vorbei, lebendige Körper werden in Autos gezerrt, überall liegen Leichen. Man kann es sich kaum vorstellen, und doch geschieht es immer wieder, so als würden sich nur die Kostüme des Spiels verändern, der Inhalt aber immer der gleiche bleiben. Zu recht zweifelt man zuweilen daran, ob man wirklich so frei ist, wie es in dieser Gesellschaft zumindest ermöglicht wurde. Man geht in die Schule, lernt lesen und schreiben, und die meisten können ungehindert losziehen in ihre Vorstellungen. Natürlich ist es sehr viel komplexer. Hat man mal Heim, Bett und genug Nahrung, dann kommt es auf einmal darauf an, welche Richtung ich einschlage. Wem gehöre ich. Wofür will ich mein Leben einsetzen. Worauf muss ich achten, damit ich alle Fallstricke im Labyrinth bewältigen kann und selbst, wenn der Faden reißt, den Kopf nicht verliere. Denn der Kopf muss zur Verfügung stehen, denn dort sitzen die Schalttafeln, aber auch die Bibliotheken, die Archive, die Schatzkisten, das Gold. Also all das, was lebendige Geister für uns zurückgelassen haben, damit aus der grausamen Mär ein Fest werden kann.
Kiesel VI
Wenn alle Zugang zu so ziemlich allem haben, was auf den Weltmärkten zu haben ist, dann wehen auch die verborgenen Sätze der Geheimwissenschaften hinein in die Lebensräume der Bürger:innen, oder sind zu lesen in Artikeln ehrwürdiger Zeitschriften, und niemand würde groß staunen, wenn da als Haupttitel zum Beispiel „Be here now“, oder noch besser „Sei jetzt hier“ stünde oder schon steht. Wo soll ich denn um Himmelswillen sonst sein, fragt sich vielleicht der Leser, doch wo ist „hier“, und wer drückt hier den nobel gemeinten Befehl aus, und was heißt „jetzt“? Jetzt, in diesem Augenblick, mit mir hier sein, wie geht das, oder warum klingt das, als müsste man darauf aufmerksam gemacht werden, nicht im Woanders herumzuwandern, so, als könnte ich dort draußen, also im Außen, etwas erkennen, das ich nicht von innen her wahrgenommen habe. Selbst die Kulisse für menschliches Tun (die Natur) war nicht immer ganz so bedrohlich, wie sie jetzt erscheint, seit wir wissen, dass es genau der Mensch ist, also wir, der die Eingebungen des eigenen Geistes nun als Resultat einer ungeheuren Zerstörungslust beobachten kann, die sich mit den tiefsten und den höchsten Interessen der Menschheit kaum vereinbaren lassen. Selbst Freud sah seine hochangelegten Analysen eher fruchtbar für gesunde Menschen, die sich für ihre geistige Entwicklung interessieren und mit ihm einen Vergil zur Seite hatten, der sie beim Spaziergang durch die abgründigen Level der Hölle begleiten und sicher zurückführen konnte, wissend, dass aus diesem Wurmloch niemand unverändert herauskommt, wenn überhaupt. Auch wenn „Be here now“ wirklich mit einem geschieht, kann es unheimlich werden. Vor ein paar Jahren hatte es mich mal interessiert, zu welchem Prozentsatz Menschen (auch in Indien) sich als sich selbst seiend einschätzen. Also zu welchem Prozentsatz denke ich, mich selbst zu sein. Sehr überraschende Antworten kamen. Niemand stellte in Frage, dass man sich zu sich selbst aufmachen muss, und oft hing die Antwort unter 50 Prozent, also mit dem Kopf noch unter Wasser. Wurde man selbst gefragt, musste man aufpassen, nicht zu hoch zu pokern, oder aber zu seinem Einsatz zu stehen. In guten geistigen Schulungen wird beides gelehrt: die Gefahr des aufgebauschten Selbstgefühls wahrzunehmen, und mit der verfügbaren Entscheidungskraft und einer geistigen Rasierklinge Raum zu schaffen für das, was übrig bleibt, wenn die Ich-Blase ausgedient hat und das, was auch immer es ist, spürbar und sichtbar wird.
Kiesel V
Mit den meisten Dingen, Menschen, Tieren, Gedanken usw. kommt man in Kontakt, also Berührung, wenn sie nahe genug an einen herangerückt sind, um die entstandenen Erfahrungen in eine als „real“ empfundene Betrachtung einzuordnen. Jede Form von Berührung, die einem das Schicksal ermöglicht, löst automatisch etwas in einem (uns) aus, und auch dafür ist die Skala der Möglichkeiten enorm weit. Tod oder der Prozess des Sterbens sind Meister/innen der Rubrik: Lernen bis zum Aschenrand. Wie von selbst verwischt ein bestimmtes Leiden, vor allem körperlicher Art, die Grenzen der Bedeutungen, die man den Dingen zugemessen hat. Auch als Begleiter:innen kann man sich mit den wesentlichen Fragen beschäftigen, die einem in den Sinn kommen. Hat man unterwegs den Sinn allerdings vollgestopft mit Ideen, die zum Ausweichen der gedanklichen Felsblöcke erzeugt wurden, dann kann jederzeit ein Moment kommen, in dem man das Steuer entweder sanft umlenken oder gerade noch herumreißen oder überhaupt erkennen wird, dass immer schon ein Steuer da war und es kein anderes gibt als d a s, was das eigene Körperschiff lenkt. Würde man ein kleines Experiment durchführen wollen und einer gewissen Anzahl von locker ausgewählten Beteiligten die Frage stellen, wo, wenn es ein Steuerrad gäbe, es sich befinden würde, könnte man sich der Antwort ziemlich sicher sein. Klar kann man das nicht beweisen, dass da, wo auch der Vogel sitzt, sich eine hochdosierte Technoebene befindet, die unvergleichlich ist, war und sein wird, mit allem, was Menschengehirne ausbrüten konnten und weiterhin werden. Und selbst wenn Roboter so „hoch entwickelt“ werden könnten, dass sie die Gurus der verbleibenden Menschheit werden würden, wäre es nur ein Ausdruck des menschlichen Gehirns, das sich an diesem Punkt der global fehlgeleiteten Impulse (und als solche von der Menschheit erkannt) entscheiden könnte, sich selbst durch sich selbst zu erlösen, um Platz zu machen für neue Impulse.
Kiesel IV
Das Wort „esoterisch“ hatte sicherlich einst einen würdigen Klang, denn es weist ins Innen, dagegen ist nichts einzuwenden. Was Menschen, die angeregt sind oder dazu angeregt werden, ins Innere zu schauen, versuchen dann, sich mit Begriffen verständlich zu machen, so, wie man auch nach Worten angelt, wenn man einen starken Traum beschreibt. Wo ist überhaupt „innen“ in diesem mächtigen Körperreich, und was sieht und erlebt man da, wenn man sich dorthin aufmacht. Meist braucht man beim Beginn dieser Reise erst einmal ein geistiges Rückgrat, um unterscheiden zu können, was an all den angebotenen Innenschaus für mich selbst geeignet ist. Schon immer gab es geheime Schulen, die ein bestimmtes Wissen weitergeben und damit Eingeweihte erschaffen, die sich untereinander prächtig verstehen, eben weil sie beim Durchtüfteln des Unsichtbaren eine Sprache erschaffen mussten, die dem angeblich Gefundenen Rechnung trägt, das nennt man dann Geheimsprache. Überall, wo man viel glauben muss, ohne auf die ureigene Erfahrung hingewiesen zu werden, wuchert die Esoterik. Männer haben es dort besonders leicht, in hohe, niemals nachweisbare Rollen zu schlüpfen, denn sehr schnell haften sich an Machtliebende diejenigen, die von dieser angeblichen Macht auch ein Schlückchen haben möchten, nicht durch sich selbst, wohlbemerkt, sondern durch den Machthaber. Einmal habe ich mir eine Lupe geholt, um genau d i e um einen Machthaber Herumstehenden genauer zu betrachten, und man sieht um Kim Jong-un herum ähnlichen Gesichtsausdruck und Verhaltensweise wie um einen indischen Guru (z.B.). Zwischen Himmel und Hölle gibt es viel Käufliches, das in letzter Konsequenz einen hohen Preis hat, wenn man nicht gelernt hat, auf sich selbst aufzupassen, sodass man sich die jeweils angemessene Urteilskraft zutraut. Und wo oder wie lernt man das. Gestern kam Hilde zu Besuch, die wir alle nicht kannten, die aber über eine gemeinsame Bekannte gehört hatte, dass hier einem sehr kranken Menschen geholfen werden könnte. Sie brachte auch gleich etwas Werkzeug mit, eine Matte und einen Stab aus der Ceragem Gemeinschaft, die ich in Indien kennen gelernt habe, als ich mir dort einen ihrer Massagestühle anschauen wollte. Kaum saß Hilde, hörten wir schon (von ihr), dass sie von Geburt aus hellsichtig war, und dass sie, ihre Arme flogen öfters hoch in die Lüfte, alles von uns und jedem sehen könnte und auch heilen. Aufmerksam verfolgte sie jede Bewegung, um Stoff zu sammeln für ihre Prophezeiungen. Hilde hatte sehr, sehr viel gelitten, fühlte sich aber nun frei davon. Dankbar blickte sie in den Kosmos, wo die Eingebungen herkamen, direktemang an ihr vorbei. Jetzt geht mir leider der Atem aus, und ich fürchte, mir mit Hilde zu viel vorgenommen zu haben. Vielleicht hatte ich auch einfach Angst vor dem kleinen Sublimationshändchen, das sich an mein Steuerrad heranpirschte in der dumpfen Gewissheit, mir würde der eingegebene Kurswechsel guttun.
Kiesel III
Wir haben einen sehr großen und geräumigen Dachboden, der allerdings nur über eine Leiter zu erreichen ist, die wiederum keinen so festgelegten Platz hat, dass man sofort weiß, wo sie ist, und deswegen ist es selten, dass jemand sie holt und nach oben klettert. Nun war es wieder soweit. Man vergisst verdammt leicht, was man so alles im Leben angefertigt, geschrieben oder gemalt hat, oder einfach nur aufbewahrt für die Okkasionen, die (das müsste man eigentlich schon beim Verstauen wissen) nie kommen werden, und da steht er halt noch, der alte Rechner, oder der Waschkorb mit den Text-Papieren, oder der sehr schöne Zeichentisch, handgefertigt von „Wie hieß er doch noch“, der geniale Bastler, dem ich auch mal (m)einen Wanderstab abgekauft habe. Dann fanden wir noch viele, pralle Notizbücher in Din A4 Format aus der Zeit der Schweigetage und der daraus hervorgegangen Reflektionen. Staunen soll ja gesund sein, und das darf man hier nochmal, denn siehe: alles, was ich gerade frisch durchgrüble, liegt da schon schonungslos und breit angelegt, und man gerät in Versuchung, Löcher in Nebelschwaden zu bohren und den Weg zurückzufinden aus dem Labyrinth der Erinnerungen. In unserem Haus lebt ein sterbenskranker Mensch, die sich auf den Ausgang zubewegt, auf das Finale. Für alle daran Beteiligten rückt dadurch die Bewusstwerdung der menschlichen Vergänglichkeit näher. Durch die Exzellenz der Poesie kann man furchtlos durch das Tal des Leidens und der Liebe geführt werden. Aber dann, sozusagen in vorletzter Minute, kann man all das, was man tatsächlich selbst war und ist, bei sich versammeln, und es ist sicherlich hilfreich, es wohlwollend zu betrachten, denn das ist es jetzt, was man mitnimmt: sich selbst. Auch die Anderen können verstehen, dass hier jemand vor allem sich selbst braucht, damit möglichst viel vom eigenen Wesen nach außen ins Irgendwo befördert wird und dort seine Wirkung entfaltet. Kulturen- und glaubensbedingt hört dann das Leben auf, oder es fängt genau da erst richtig an, who knows. Die Kiesel (Bild) kommen übrigens auch vom Dachboden. Dunstig schwebte die Erinnerung durch den Raum, dass wir sie alle mal bepinselt haben.