Kaum hatte ich vom Doomsday gehört, hatten wir hier im Städtle unseren eigenen kleinen Doomsday. Im Januar kann es zwar vorkommen, dass es mal zwei bis drei Tage bewölkt ist, dann bleibt man besser drin, denn niemand ist guter Laune. Es hat auch schon mal kurz gehagelt, was zu allgemeinem entzücktem Aufheben der glitzernden Kügelchen führte, aber d a s, was Sonntag in der Hergottütsfrühe hereinbrach, an sowas konnte sich niemand von denen, die ich befragte, erinnern. Ununterbrochen brüllte und toste und wütete ein gigantisches Wolkenungetüm nach dem anderen durch die Gegend, begleitet von furchterregenden Blitzen und (beim Zeus!) einem Donner, der durch alles Menschengefügte hindurchdrang und es erzittern ließ. Noch nie fühlte ich mich so geschützt durch dicke Mauern, obwohl durch die obere Öffnung in der Decke ein Wasserfall herabsschoss, den ich immer mal wieder in die monsoongeprüften Abflusslöcher des Bodens dirigieren musste. Irgendwo fing es an zu tropfen, ein Eimer konnte es auffangen. Ich staunte über die Ausdauer der elektrischen Zufuhr, bis das dann auch kollabierte und uns mit nervösen Blicken auf unsere Smartphones zurückließ – wie lange würde das Aufgeladene durchhalten? Immer wieder musste ich an Manchu (die im Haus zweimal in der Woche putzt) denken, die in einer Art Zelt wohnt, also einer Plastiküberdachung, die nicht verbunden ist mit dem Bodenbelag. Auch konnte ich immer mal wieder spüren bis in die späte Nacht hinein, wie die dicke Haut des als „normal“ Betrachteten und als solches Gelebten sich aufzulösen begann und darunter die nervöse Ahnung einer Katastrophe sich meldete. Mal öffnete ich das Tor, dann ein Fenster – alles menschenleer. Ich bedaure jetzt am Dienstag und nach der gestrigen Putzorgie, von dieser Menschenleere kein Bild gemacht zu haben, eine geradezu atemberaubende Seltenheit in diesem Land: kein Mensch und auch kein Tier weit und breit. So versuchte ich immer, mir den indischen Lockdown vorzustellen, die Frauen natürlich eh meist drin, aber auch alle Männer drin im Haus, aller testosteronregulierenden Spielplätze beraubt! Aber es hat zweifellos auch etwas zu bieten, so ein Ausnahmezustand, vor allem, wenn der Schaden nicht zu groß ist. Es lässt die Blase erzittern, in der man sich eingerichtet hat, und jedes menschliche Lächeln kann zum Geschenk werden. Es kann auch das eigene Lächeln von seinen eingefahrenen Bindungen befreien.
Sprecht sie nicht aus, die Schönheit,
Verschweigt die Liebe.
Rührt nicht an Gott.
Sehr jung habt ihr euern Tod
Hinter euch gebracht.
Jetzt trägt der Mittag das Gesicht der Nacht.
Jeder Schritt die Gebärde des Falles.
Da wir im Leeren stehen,
Was kann uns noch geschehen?
Alles.
In einer Mail drückt Tamara Ralis ihre Fassungslosigkeit über „den Willen zum Krieg“ aus, da habe ich gerade in einer Ecke der Times gelesen, dass es eine „Doomsday Clock“ gibt, auch Weltuntergangsuhr oder Atomkriegsuhr genannt. Sie zeigt, wie nah sich die Menschheit am Abgrund der Auslöschung befindet. Nein, es ist kein esoterisches Phantasiegebilde, sondern das Wissenschaftsmagazin „Bulletin of the Atomic Scientists“ verkündet diese drohende Gefahr jedes Jahr im Januar, also jetzt. 1945 kam die Idee vom Ausschuss für Wissenschaft und Sicherheit, der von Albert Einstein gegründet wurde. Von 1947 an gab es dann diese Uhr, die eine Metapher ist für die Gefahr der Menschheitsselbstauslöschung. Mitternacht steht für den Weltuntergang. Jedes Jahr wird die Uhr neu eingestellt. 17 Nobelpreisträger werden konsultiert. Nun sind die Zeiger (so nah wie noch nie) auf 90 Sekunden vor Mitternacht gestellt worden wegen dem Krieg in der Ukraine und der Klimakatastrophe (und fortschreitenden Technologien und biologischen Bedrohungen wie Covid). Ich schaue hoch von Mail und Artikel und denke an die über eine Milliarde Inder, von denen ich keinen Willen zum Krieg vernehmen kann, wenn auch der Gewaltpegel ständig steigt, und kenne auch sonst niemanden mit diesem Willen, aber dass die Zeiger noch nie so nah an der ultimaten Katastrophe standen, das kann schon beunruhigend wirken. Als wüssten wir’s nicht, wie blitzschnell es passieren kann, aber nicht muss. Offensichtlich trauen sehr viele Menschen Putin zu, Atomwaffen einzusetzen, auch wenn man grübelt, was er wohl davon hätte, aber er muss ja nichts davon haben außer der Erkenntnis, dass seine Schlupflöcher nicht mehr brauchbar sind, so wie einst Hitlers Hand dann doch zum Zyankali griff und dadurch selbst von Nahestenden als feiger Hund erkannt wurde. Aber zu tief will ich ja gar nicht hinein in den visionierten Abgrund, nein. Ich möchte weiterhin mit der verbleibenden Zeit so umgehen, wie es mir möglich ist: friedlich, nicht schadend, voller Achtung für das Lebendige, und wachsam, wachsam, wachsam den globalen Bewegungen gegenüber.
Eine kleine Lücke im Stein (kann man so viel Aufmerksamkeit von sich fordern?), und alles ist anders. Kalima!, ruft ein Vorübergehender und eilt zu Hilfe, aber ich bin nur noch Wirkung des schwer Denkbaren. Zuerst ist es nicht nur der Körper – das System steht unter Schock. Es wird um mich gekümmert. Das ganze Gewicht ist auf das Handgelenk gefallen, der Knochen ist gebrochen. Eine Weile denkt es gar nichts – es ist erfüllt von Übelkeit. Auf dem Weg zum Government Hospital, und auch dort, ist nur Schattenreich, betäubt von Schmerzen. Das X-Ray überrascht nicht, es muss operiert werden, dafür gibt es hier keine facilities. Ich muss das wunde, verdrehte Ding halten, bis es an den richtigen Ort kommt. Aber die Spritze hilft schon, in Verbindung zu kommen mit dem, was ich zur Handhabung brauche: die Unterscheidung zwischen dem, was meinem Körper zugestoßen ist, und mir, die ich nun gefordert bin, damit umzugehen. Klar!, wenn das Schiff in Not ist, muss das erst einmal geregelt werden, um es wieder seetüchtig zu machen. Der Anker wird ausgeworfen, die Beweglichkeit eingeschränkt. Nun muss die rechte Hand (zum Glück) alles übernehmen, und siehe da!, sie kann es. Gerne überschreitet man (oder ich?) eigene Grenzen, und es ist befriedigend zu erleben, was alles anders geht als das, was bisher so selbstverständlich schien. Wie oft hat man von ihnen mehr oder weniger flüchtig gehört, von den Toten, ja, aber auch von den Verletzten, von denen man hinterher nie etwas hört, warum auch, Wir sind so verletzlich, so zerbrechlich. David, ein alter Freund von mir aus Guatemala, wollte seinem schwerreichen Vater mal, als er 17 Jahre alt war, beweisen, dass er arbeiten konnte, und ging in den Semesterferien auf den Bau, wo ihn eine fehlerhaft schwingende Eisenstange vom Gerüst fegte und an den Rollstuhl bannte. Ich habe ihn hier in Indien getroffen – er reiste allein und sah im Rollstuhl aus wie ein König. Es ist lebenswichtig, wer um einen herum ist, aber viele Stunden ist man auch allein und froh, wenn der nötige Schlaf kommt oder die notwendige Energie, um das zu tun, was auf einmal viel Zeit und Aufwand kostet. Und doch kann ich damit rechnen, dass sich der gebrochene Knochen wieder zusammenfügt. Mit den „karmischen“ Zusammenhängen, mit denen im meditativen Raum so gerne gepokert wird, bin ich sehr locker geworden. Denn das aus einem sich Herausdichtende ist schön, wenn es sich meldet, aber das Hineindichten von außen ins Ungewisse halte ich nicht mehr für angebracht. Es ist allerdings nichts dagegen einzuwenden, Erlebtes als eine Stimmigkeit zu empfinden, was ja nur bedeutet, dass man das Überraschende und Erschreckende angenommen und mitgenommen hat, damit es (auch) in eigener Regie gut heilen kann.
Die indische Flagge des Nachbarn an einem dunstigen und windigen Tag
Dass ich trotz Einschränkung meines linken, gegipsten Unterarmes ausgerechnet am „Republic Day“ einem Schreibimpuls nachgehe, liegt daran, dass ich heute früh an Dr.Ambedkar dachte, der maßgeblich an der Ausarneitung der indischen Verfassung beteiligt war, die heute gefeiert wird mit pompösem Zirkus, und vor allem mit Waffen. Stolz wurde verkündigt, dass dieses Jahr bei der stinklangweiligen Show ausschließlich in Indien produzierte Waffen gezeigt werden. Man sieht Ambedkars Asche erzittern. Er war geboren als ein „Dalit“, als ein Unberührbarer (auch Harijan genannt), der nur zur Schule durfte, weil sein Vater bei der Armee war. In der Schule musste er hinten allein auf einem Tuch sitzen und durfte (auch) den Wasserhahn nicht anfassen, weil er als unrein galt, was bis heute z.B. daran zu erkennen ist, dass Dalitfrauen als Freiwild gelten, und viel zu träge bewegen sich die Veränderungen. Ambedkars Intelligenz wurde von einem Mann erkannt, der ihm mit geringer Buchstabenveränderung zu einem Brahmanen-Namen verhalf und damit den Weg zu ungehinderter Entwicklung freilegte. Ambedkar setzte sich unermüdlich für die Rechte der unteren Kasten ein, befreite sich selbst aber letztendlich von dem unerbittlichen System, indem er den Hinduismus verließ und (1956) zum Buddhismus wechselte. Hunderttausende Dalits folgten ihm, ein Grund dafür, dass der in Indien schon fast versiegte Buddhismus neuen Aufschwung erhielt. Das buddhistische Rad (dharmacakra) auf der indischen Flagge soll auch von einer Anregung Ambedkars stammen, und das „Löwenkapitell“ des buddhistischen Kaisers Ashoka wurde zum Staatswappen der indischen Republik erhoben. Warum zittert die Asche Ambedkars? Weil nicht viel pasiert ist, nein, viel schlimmer: etwas vom Dunkelblut der Auserwählten ist in die falsche Richtung gegangen, und bewirkt dort die als Normalität empfundene Ausgrenzung und den bewussten Missbrauch von Menschenleben. Ich selbst lebe im Haus von Brahmanen, die mir gegenüber keinerlei wahrnehmbare Kastenablehnung demonstrieren, ganz im Gegenteil. Als ich den Unfall hatte und ich mich wehrte gegen zu viel Hilfestellung, meinte die junge Frau des Hauses, das sei doch selbstverständlich, ich wäre doch ihre Mutter. Ich wiederum lege sehr viel Wert darauf, niemandes Mutter zu sein, oder sagen wir mal, ich ziehe die nackten Tatsachen vor. Und die sehen so aus, dass ich zwar dankbar das brahmanische Essen annehmen darf, aber würde ich selbst was kochen und ihnen bringen, würde es niemand im Haus auch nur anrühren. Auch das Geschirr, das ich mit dem Essen bekomme, wird drüben nicht gebraucht, es ist für Nicht-im-Haus-Wohnende. Im Jahr 2020 wurde ich von der Familie eingeladen, Republic Day auf der riesigen Flatscreen ihres Fernsehers zu schauen, und bald saß ich da allein im kalten Wohnzimmer und wurde (kurz) erfasst von der ungläubigen Gier, immer mehr Display von Erbärmlichem zu sehen. Ich glaube, Jair Bolsonaro war damals der Ehrengast bei Narendra Modi, dem aufgestiegenen Sohn des Chaishopbesitzers aus Gujarat. So sind wir alle Zeugen und Zeuginnen des hellen und des dunklen Wahns. Draußen donnern die Trommeln. Ich habe mich an den Vater der Verfassung erinnert als ein ehrenwertes, menschliches Beispiel.
Leider kann ich nicht in vollen Zügen mit meiner Begeisterung für’s Tier fortfahren, denn gestern habe ich mir das linke Handgelenk gebrochen, obwohl ich auch hier von gutem Schicksal umgeben war. Denn Alok (der Bruder meines Hausbesitzers) kannte buchstäblich jeden Arzt, der infrage kam, und dann kam einer in einem Privatkrankenhaus infrage, damit das Ganze nicht zum Alptraum mutiert durch endloses Warten und Infektionsgefahren in anderen Krankenhäusern, und nun ging es wie das Haar durch die Butter (indischer Ausdruck). Ich verstand auch den Ausdruck „Operation Theatre“, denn es war für mich eine Möglichkeit, trotz Schmerz und Übelkeit die Exzellenz einer Performance-Kunst zu schätzen, auch wenn sie am eigenen Körper demonstriert wird. Er meinte, er hätte diese angewandte Methode von einem italienischen Freund gelernt, in ein paar brutal wirkenden Handgriffen hatte er die sichtbare Verdrehung wieder ausgerichtet, dann der komplizierte Drahtvorgang bei angespannter Stille, bevor wir über Narendra Modi sprachen. Nun werde ich ein paar Tage nicht (nur) mit der rechten Hand hier umhertippen, sondern warte mal ab, wie sich das alles entwickelt und der Schmerz etwas nachlässt. Ich fand es jedenfalls wertvoll, dass ich zuschauen konnte, das schien mir doch sehr indisch zu sein, jedenfalls interessant. Greetings!
Gerne möchte ich noch einmal meine Liebe für die Tiere ausdrücken, wohl wissend, wie wortlos ich oft geworden bin und werde in ihrer Gegenwart angesichts des unermesslichen Reichtums, den sie, so nichtsahnend von unserer (oder meiner) Bewunderung ausstrahlen, voll beschäftigt in ihrer eigenen Welt. Oft genug natürlich auch abhängig von uns, denn nicht immer gibt’s Nahrung, und der Dschungel, den ich noch kannte, ist längst abgeholzt, und alle sind froh, wenn im See wieder genügend Wasser ist, denn er war schon mal völlig ausgetrocknet (und alle Fische und Schildkröten starben) und wird nun teilweise vom Monsoon und von Wasserleitungen gespeist. Aber wo fange ich an? Bei den Tieren, die ich noch erleben durfte, und die es gar nicht mehr gibt, weil Nahrungsknappheit und Lärm sie verjagt haben? Der paradiesische Nilkantmahadev Vogel, oder die Fledermäuse mit den Menschengesichtern, alle immer nah genug, sodass man auf sie achten musste und ihren Raum respektieren. Oder Ali Baba, das Kamel, das mich und die beiden Jungs (exzellente Kamaelnavigierer), 10 Tage lang durch die Wüste trug und ich merkte, dass man nichts von ihnen begreifen kann, wenn man nicht mit ihnen lebt und sich erfreut an ihrer Eigenart. Einmal wurde ich von einer Hündin gebissen, die gerade Junge hatte, weil ich zum ersten Mal da entlang ging. Ein anderes Mal wurde ich von fünf braunen und gefürchteten Affen angegriffen, und konnte mich, ein göttlicher Scherz, in einen Tempel retten, während die Bisswunde am Bein heftig blutete. Stimmt!, Rahul, der Pandit, der mich gerade besuchte, hat mich damals ins Krankenhaus gebracht, und zack! war ich dran mit der Spritze und wieder draußen. Bei beiden Unfällen war ich nicht aufmerksam genug. Es ist in jeder Hinsicht förderlich, aufmerksam zu sein mit den Tieren. Hindus sehen sich gerne als oberfriedlich, aber ich habe auch schlimme Sachen erlebt. Die Kühe haben es ja verhältnismäßig gut, weil sie als heilig gelten, und man sieht schon mal einen obsessiven Brahmanen seine Hand unter das urinierende Tier halten und es trinken, von mir aus. Aber als die Kühe von der Maul-und Klauenseuche erfasst wurden und ihre eitrigen Klauen im Seewasser kühlten, da sprach ich schon genug Hindi, um über die extreme Teilnahmslosigkeit der Einheimischen zu klagen.Vor allem empörte es mich, dass sie unten am Wasserrand ihr heiliges Zeug laberten, während die Tiere Hilfe brauchten. Es ist eine meiner wenigen Lebensanekdoten, in denen ich behaupten kann, Männer in die Gänge gebracht zu haben, denn die Kühe mussten aufgeladen werden und zum Tierarzt gebracht, was sie (die Männer) zu Helden morphen ließ. Das Kastensystem macht auch vor Tieren nicht halt. Die braunen Affen werden abgelehnt und gefürchtet, während die bildschönen Lemuren als Götter verehrt werden (wegen Hanumann, dem Affengott). Dabei habe ich die Braunen schon einmal an einem anderen Ort gesehen, wo man tausende von ihnen per Hand füttert, und ringsum haben sich Bananenverkäufer angesiedelt, die den Heranfahrenden (wie ich von meinem Taxifahrer). ihre Wahre verkauften, und alle hatten davon einen guten Vorteil. Die Lemuren sitzen täglich auf meiner Terrasse. Sie bleiben auf ihrer Seite, ich auf meiner. Sukho, der wilde Kater, den ich zur Zeit füttere, muss schauen, dass er gut durchkommt durch die Affenbande hin zu seinem Frühstück, dann rein in die Tür zum Schutz, wo er eine Weile unbehelligt schlafen kann (solange ich da bin). Katzen sind nicht beliebt bei Indern, noch habe ich keine Hauskatze erlebt, und oft sind sie sehr hungrig. Die Hunde haben es geschafft, in Häusern zu leben, aber nun sind sie nicht mehr frei. Denn ist das nicht das Beste: dass auch die Tiere frei leben können unter uns? Ach, meine Liebe für die Tiere, die hier nicht geboren, aber sehr gereift ist: 500 Zeichen können euch nicht gerecht werden, und wie viele von euch habe ich noch gar nicht genannt. Vielleicht muss ich morgen nochmal ausholen.
Ich habe ihn gestern beim Verlassen des Abendgottesdienstes (Puja) erwischt, der direkt vor meinem Fenster stattfindet. Irgendwann habe ich ihm mal erzählt, dass einige von uns Foreigners ihn „Luigi“ nannten, weil er für uns aussah wie ein Italiener, und bis heute weiß ich nicht, wie er wirklich heißt. In seinem Laden gab es so ziemlich alles, was wir bzw. ich brauchte, wenn denn Rupien vorhanden waren, und immer war und ist er freundlich und zuvorkommend. Jetzt erweitern seine Söhne das Ganze, er sitzt im Laden und schläft oft ein. Ich bin keine natürliche Begabung im Erinnern und traue dem Erinnern wegen seiner oder meiner Löchrigkeit darin nicht so sehr. Aber nun kommt sie auf mich zu, weil es ein Abschied ist, den ich bereits vorprogrammiert habe, als ich 2020 drei Tage vor Landeslockdown Indien verlassen habe. Durch das Einreiseverbot war es einfach gemacht, aber nun steigt durch mein wieder Hiersein doch mein persönlicher Abschied am Horizont herauf, und das Erinnern steht auf der Tagesordnung. Was mich aber heute angeregt hat zu diesem Beitrag ist eine Mail, die gerade bei mir hereinkam. Eine Frau meldete sich, mit der ich vor 45 Jahren nach Goa reiste, um dort Freunde zu besuchen, dann aber unterwegs, nämlich hier, ausstieg, weil ich genau spürte, dass es mein Ort und mein Platz war, was sich als unbedingt stimmig herausstellte. Nach den 9 Jahren in Kathmandu war ich in einer Art ekstatischem Zustand, endlich Indien (wieder) erreicht zu haben und herauszufinden, was es für mich bedeutet. Jetzt geht die indische Reise ihrem Ende zu, immerhin war ich fast die Hälfte meines Lebens an diesem Ort anwesend und kann mir mein Leben ohne diese Hälfte nicht vorstellen. Auch will ich nicht mehr selbst nach Erklärungen für dieses Abschiednehmen suchen und sie dann anbieten. Denn ich spüre es ja, dass es Zeit ist, es gibt keinen einzelnen Grund, und der Spruch, man solle gehen, wenn es am schönsten ist, trifft in gewissem Sinne auch zu. Hier sitze ich in einem wunderbaren Haus, das mir Freunde zur Verfügung gestellt haben, und lebe mitten unter ihnen. Ihnen, das sind die Vielen, mit denen ich jahrelang Kontakt hatte, oft nur durch freudiges Grüßen, oder durch gelegentliches Teetrinken in ihren Shops. Oder dann die doch tieferen Beziehungen mit den Frauen, deren Schicksal ich kennen lernte, oft genug katapultiert in gemeinsame Schockzustände über die unlösbaren Schrecken der Realitäten in den Haushalten, aus denen es bis heute wenig Entrinnen gibt. Aber beiden, Männern und Frauen, bin ich zutiefst verbunden, denn sie haben mir ermöglicht, mich in einer Gesellschaft zu bewegen, in der das, was ich jeweils war und mich zu erleben befähigte, viel Raum hatte. Denn ich war nicht in der Zwangsjacke der Ehe, sondern auf dem Weg, wo Kaste und sogar Gender keine Bedeutung mehr hatten, sondern es ging um das Erfassen und Manifestieren dessen, was wir für wesentlich hielten. Das wiederum war nicht so viel anders als bei Epikur. Unbedingt sollte man ihn (u.a.) nochmal zur Hand nehmen, um zu sehen, dass es diesen Weg immer und überall gab und immer noch gibt. Eine Sache, um die es da geht, ist sicherlich, die Furcht vor der Freiheit zu verlieren. Es braucht Mut, ja, und günstige Sterne, die einen begleiten.
Gestern hatte ich Besuch vom Pujari (Tempelpriester) des Krishna-Tempels, der gehört hatte, dass ich schon länger hier bin und sich fragte, warum ich nicht wie sonst an meinem Steinsitz am See aufgetaucht bin mit meiner Schreibausrüstung. Damals hatte sich in der Nähe auch ein Sadhu niedergelassen, den ich aus meiner Sadhni Wanderzeit kannte. Und so kam es dazu, dass wir morgens öfters mal zusammen herumstanden, bis Lakshmi Kant dazu kam und von nun an uns allen besten Chai brachte, er hatte um die Ecke einen Chai-Shop. Das erzählte mir alles Rahul am Morgen noch einmal mit einer gewissen Wehmut, denn so etwas konnte nicht immer geschehen, sondern es hatte seine eigene Zeit, immerhin über Jahre hinweg. Es erinnerte mich an das Thema über die Anderen, und wo uns ihr Dasein betrifft. Unsere Treffen waren schon deshalb gelungen gewesen, weil wir aus vier vollkommen verschiedenen Welten kamen und uns auch sprachlich bemühen mussten, damit das jeweils Gemeinte bei allen ankommen konnte. Der Sadhu und Lakshmi Kant sprachen kein Englisch, Rahul, der Pujari sprach es fließend, ich lag so in der Mitte zwischen Hindi und Englisch, und so war es für uns alle auch eine kleine, angenehme Abwechslung in unseren verschiedenen Routinen des Alltags. Nun klagte Rahul darüber, dass alles im Tempel unerträglich für ihn geworden war, zu viele Menschen ohne wirkliche Ernsthaftigkeit, dadurch zu laut und leer, sodass er nun nur noch ganz früh seinen Dienst macht und um 10 Uhr wieder geht. Da so eine Tempelarbeit auch immer eine Geldquelle ist, will er sich demnächst was anderes einfallen lassen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, das ist doch vernünftig. Auf meinem Tisch lag die deutsche Übersetzung des heiligen Textes über diesen Ort hier, den mir Aditya Malik, der Übersetzer und brilliante Kommentator dieses Werkes, vor vielen Jahren auf der Terasse der Maharani von Jaipur überreicht hatte und der scheinbar nur in Sanskrit, aber nicht in Hindi existiert. Gierig blätterte Rahul darin herum und war hell entzückt, als er auf der noch schwarz/weißen Bilderstrecke „seinen“ Tempel vorfand, allein auf weiter Flur, während er nun von Hotels und einer befahrenen Straße umringt ist, auf der anderen Seite aber immer noch an den See grenzt. Dieser Besuch bestätigte mir den Eindruck, dass wir uns alle auf irgendeine Weise verändern und neu orientieren müssen, um den Tatsachen gerecht zu werden. Diese Tatsachen des global Unabänderlichen, mit dem man umgehen muss, gab es sicherlich auch schon „immer“. Aber es besteht kein Zweifel, dass durch die Neuheit der durch und durch informierten Weltbevölkerung sich vollkommen unbekannte und ungewisse Dimensionen auftun, die uns weiterhin bedrängen und beschäftigen werden. Denn wir sehen nun die Möglichkeit, dass der Mensch seinen Wohnort unlebbar machen kann. Und so beschäftigt es uns, die gerade Lebenden, wie wir mit dieser seltsamen Todessehnsucht oder dem Vernichtungswillen umgehen sollen, und ob wir als Einzelne noch die Kraft aufbringen können für ein gutes Überleben mit den Anderen.
Wenn man es einmal gleichzeitig tiefernst und humorvoll meinen will mit der Frage, wer einen eigentlich was angeht, so könnte man durchaus sagen: alle. Also im Sinne, dass wir alle gleichermaßen am Herumtüfteln sind mit diesem unauflösbaren Geheimnis unseres Aufenthaltes auf einem Planeten, den wir ein paar Jahre durchwandern, leider niemals überall hinkommen, wo die Anderen ihre Hütten und Häuser und Villen gebaut haben. Trotzdem kann man ganz gut rumkommen und einen Eindruck empfangen von der gigantischen Vielfalt, die es einerseits interessant macht, den Mitmenschen überall zu begegnen, aber andrerseits werden wir auch durch ihre oder unsere Entscheidungen ins Fassungslose transportiert, und der Kampf mit Göttern und Dämonen ist unausweichlich. Daher haben vor allem die Religionen Tricks erfunden, wie man mit dem ganzen Zauber umgeht, und noch hat jeder absurde und jeder erhabene Gedanken Followers gefunden. Hier in Indien hat der Buddhismus das Mitgefühl für alle lebenden Wesen in den Vordergrund gestellt, während ich von Hindus früher oft erzählt bekommen habe, man solle alle mit Respekt behandeln, da man nie weiß, ob sich hinter der Maske des Bettlers nicht ein uns testender Gott verbirgt. Kommt nun aber die Zeit, wo der Mensch sich immer mehr allein fühlt unter den Anderen, da wird guter Rat tatsächlich sehr teuer, denn es sind vor allem im Westen die Therapeuten und Therapeutinnen, bei denen die Nichtgehörten und Nichtgesehenen Schlange stehen und auch da oft keinen Platz finden. Das indische Leben in Großfamilien ist so extrem schwierig, dass sich sehr viele Familienmitglieder in eine Dumpfheit hüllen, die es ermöglicht, einigermaßen reibungslos durch den Tag zu kommen. Alle Frauen, die ich kenne, wissen, dass es ihnen unbedingt gut gehen muss, denn niemand kann sich wirklich kümmern oder sorgen um ihre Befindlichkeiten. Es gibt Ausnahmen, aber sie sind eher selten. Tatsächlich hat man in unserer Zeit den Eindruck, dass vor allem Smartphones gerade rechtzeitig gekommen sind, um die immense Überforderung oder die bedrückende Leere des Geistes aufzufangen, und nun liegt vemeintliche Hilfe in Reichweite, und man hat seine oder ihre eigene Welt, in die man hineinsteigen kann. Und wahrlich, da geht es ja auch um die Anderen, man kann ihnen zuschauen beim Durchackern des Daseins, und natürlich bekommt man auch Anregung, eben aus dem Virtuellen statt aus dem Direkten. Die Bücher, in denen eigentlich schon alles steht, wie man gut mit sich und den Anderen umgeht, sind m.E. alle geschrieben worden, als die Welt noch nicht aus allen Nähten platzte von all den angebotenen Ablenkungsmanövern. Als ich mich „damals“ in einem kleinen Tempel in der Wüste niederlassen wollte und Erlaubnis dafür brauchte vom Mahant (Boss) der Bruderschaft (der Naths), meinte Kailash Nath, man solle mich ruhig lassen, ich würde es eh nicht schaffen, denn selbst Mönche wüssten nicht mehr, wie das geht: ein Feuer am Leben halten. Es war Sahne des Daseins, denn ich hatte einen festen Platz, und jede/r, der wollte, konnte kommen, es war ja öffentlich. Die Gaben, die sie brachten, waren nicht für mich, sondern für den Tempel, das war perfekt. Kein Geld war involviert, aber als es ihnen am Feuer gefiel, brachten sie auf jeden Fall immer mehr Essbares, das war hilfreich. Vor allem hatte ich Zeit, Zeit zum Schweigen und Zeit für lange Gespräche. Natürlich fällt mir nun auf, dass ich das immer noch habe, und jetzt bedanke ich mich mal ins Irgendwo hinein.
Das Bild habe ich gemacht, weil der See zur Abwechslung mal mit Papierdrachen bedeckt ist (auch wenn man sie nicht sieht). Am Samstag war Sankranti, ein Drachenfest, das den Frühling ankündigt, aber auch eine Unmenge von Notfällen wie gebrochene Schädel beim Herunterfallen von Balkonen, dann vor allem verletzte Vögel durch den Wirrwar von festen Schnüren in der Luft, und vor allem Verletzungen von den verbotenen chinesischen Manjhas verursacht, bei denen die Strings mit zermahlenem Glas versehen sind. Rechtzeitig habe ich die Flucht vor dem dazugehörigen Techno-Terror ergriffen und mich für den Tag bei Shivani eingenistet, wo es auch, wie in der ganzen Stadt, freie Pakora-Schenkungen gab. Auf jeden Fall hat an dem Tag keiner gehungert. Mir aber kamen die vielen Einlieferungen in die Krankenhäuser vor wie die harmlosere Variante zum Krieg, wo alle Beteiligten schon vorher wissen, dass unermessliches Leid geschehen wird und man sich einreden muss, man werde nicht betroffen sein. Dabei sind wir alle betroffen. Wo wird Lautstärke illegal, wo genügt e i n auf dem Motorrad vorne sitzendes, durch Fäden enthauptetes Kind, um etwas zu ändern, nur was und wo und wie. Deswegen war ich erfreut, durch einen flüchtigen Blick die Zeilen von Kushwint Singh (in meinem gestrigen Beitrag) entdeckt zu haben, denn sie sprechen gerade direkt zu mir. Bei Shivani hatte ich im Rahmen eines gemeinsamen Essens mit weiteren (Frauen) Gästen zum ersten Mal formulieren können, dass auch deswegen meine Zeit mit den Göttern vorbei ist (so unterhaltend ich sie immer noch finde), weil ich ganz klar sehe, dass wir uns in einer Zeit bewegen, in der wir die Verantwortung für uns und die anderen übernehmen müssen. Damit wir allein und miteinander lernen können, auf beste Art und Weise durch den Irrsinn zu navigieren. Was ist denn die beste Art und Weise, und warum kommt es einem manchmal einfach vor und manchmal unerreichbar. Mir leuchtete einmal ein, dass es erstrebenswert ist, weil möglich, das Einfache mit dem Besten zusammen zu bringen. Beides muss man offensichtlich für sich selbst mal durchdefinieren, das kann Arbeit sein: was ist einfach, und was ist das Beste? Stephen Hawkins soll prohezeit haben, die Menschheit werde an der Dummheit zugrunde gehen. So weit bin ich noch nicht, verstehe aber die Wahrnehmung. Zum Glück wissen wir auch, dass die Katastrophen auch Gegenbewegungen hervorrufen. In ihnen liegt auf jeden Fall das Licht der Zukunft. Es kann ja gar nicht erlöschen.
(In meiner Aufzeichnung zukünftiger Religionen ersetzt der Mensch Gott. Unsere Mitmenschen sollten unsere höchste Priorität sein. Sie müssen nicht verehrt werden, sondern man sollte sich nur davon zurückhalten, sie körperlich oder mental zu verletzen. Ich würde die Fürsorge für alle lebenden Kreaturen der menschlichen gleichsetzen. Beraube sie nicht ihres Lebens für deine eigene Erhaltung)
Ebenso, wie wenn man überall Elefanten oder Bananen sehen kann, wenn man auf sie fixiert ist, so kann man auch ziemlich mühelos Götter sehen. Geballte Wolken eignen sich dafür, und hat man mal einen gewissen Grad an Überzeugung oder Besessenheit erreicht, tut’s auch eine Wand, an der der Monsoon gearbeitet hat. Es hat mich aber immer mal wieder beschäftigt, w i e lebendig und „real“ sich Dinge auf einer bestimmten Ebene anfühlen, wenn man die innere Energie in eine Höhe stemmt, die sich ganz leicht auch d e m entziehen kann, was wir gerne den gewöhnlichen Alltag nennen, wo Vernunft und Nüchternheit und Knowhow geschätzt sind, daran ist ja nichts auszusetzen. Erstaunlich ist doch vor allem, dass es die Möglichkeit einer freiwilligen Anstrengung in die Vertikale überhaupt gibt, genauso wie die dunklen Korridore der Psyche, zu denen man hinabsteigen muss, günstigerweise mit einer Laterne in der Hand. Nun habe ich von Reena diese vertrackte Trilogie eines Mannes geschenkt bekommen, der Amish Tripathi heißt und viele Jahre bei der Bank sein Leben dahingab ins trübe Muss des Verdienens, bevor klar wurde, dass er geeignet ist dafür, Romane über Götter zu schreiben. In dieser Trilogie wuseln sie nicht im Himmel herum, sondern sind Menschen auf der Erde, und es geht ihm vor allem um Shiva, der natürlich ein heldenhafter Typ ist mit einer blauen Kehle, der von seiner Vergottung nichts wissen will. Doch für viele ist er der Nilkantmahadev (der große Gott mit der blauen Kehle), auf den sie gewartet haben, also von denen erwartet wurde, die die Prophezeiung kennen. Das erinnert mich natürlich an „Dune“ von Frank Herbert, wo auch einer zum Gott gedrillt wird und die Zeichen erfüllen muss. Oder Jesus, dem seine angeblichen Wunder leider nicht viel geholfen haben. Anil meinte mal zu mir, jeder Mensch wolle doch ein Gott sein, ach echt jetzt, wunderte ich mich. Aber vielleicht ist ja was Wahres dran an der Tatsache, dass wir das Erhabene so mögen, wenn jemand es produzieren kann, und dann wollen wir auch so ein Dumbledor sein oder von mir aus eine Naga Queen, die mit den geheimen Pfaden des Dschungels vertraut ist, auf jeden Fall vieles besser kann als wir wie zaubern und heilen und mächtig Gutes tun unter den Menschlingen. Natürlich reizt es mich auch zu wissen, wie weit ein Mensch jenseits des Phantastischen wirklich Mensch werden kann. Oder haben wir hier den Kipppunkt, auf den viele von uns bewusst oder unbewusst konzentriert sind: dass wir, solange wir uns selbst im Weg stehen, nicht wirklich wissen, was sich verbirgt hinter unseren Masken und Identitäten, und was, wenn wir eines Tages von uns selbst befreit sein könnten und einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen. Denn die Welt wird sein, was immer die Gedanken der Weltbevölkerung daraus machen, aber man selbst kann ja ruhig mal schauen, wer man wirklich ist, und ob es eine wirkliche Wirklichkeit überhaupt gibt.
Wenn ich an meinem zeitlosen Erker sitze und meine Augen sich ins friedvolle Außen versenken lasse, ist es fraglos mein weltbürgerliches Recht, diese Erfahrung als eine der Prioritäten zu sehen, die mir wesentlich erscheint: den Frieden wahrzunehmen, wenn er da ist und man nach Worten suchen kann, wenn man möchte, für dieses Erleben. Auch wenn am Rande des Wassers, mittendrin im selben Bild, regelmäßig belogen und betrogen wird, in größeren und kleineren Beträgen und einem hohen Maß an unumstößlicher Arroganz. Vermeintliches Besserwissen, das hier verpasst wird wie überall als die letzte und einzige Wahrheit. Und doch, ich muss es zugeben, sind die Götter auch verantwortlich für den anderen Teil, die Ruhe, die das Ganze umweht und eben in allen Gehirnen dem Schöpfer gewidmet ist und dem Ort, den er (ihrer Gewissheit nach) persönlich erschaffen hat. Sei’s drum, es hat diese epische Weite, in der wir als Kreaturen unser eigenes Schicksal gestalten können, eben durch genau das, was wir sehen und erleben, und wohin unser Augenmerk ausgerichtet ist. Natürlich bin ich auch, was ich denke, wobei das Denken immer wieder mal neu bedacht werden muss, damit wir wissen, von was wir reden, denn davon hängt es ja ab. Und das Bewusstsein ist doch als Träger dieses Denkens verantwortlich für die Richtschnur, auf der das oder unser oder mein Drama sich abspult. Denken hat mit aktiver Bewegung zu tun, und das Sichversenken mit Sein. Tief innen verbunden mit dem Geschehen, aber genau deshalb nicht damit verstrickt. Dann fällt mein Blick auf die unausweichlichen Nachrichten des Krieges in der Ukraine. Ich habe das Wort „Ukraine“ ein paar Mal ausgesprochen, aber obwohl alle Zugang zu den Weltnachrichten haben, gibt es so gut wie keine Kommentare. Von hier aus ist es sehr weit weg, obwohl in den Regierungsgebäuden zweifellos viel diskutiert wird und Modi und Putin schon Küsschen gegeben haben unter Männern, die sich verstehen, was Weltregierung für sie bedeutet. Die Wahrheit über zerfetzte Menschenkörper ist nicht wirklich genug durchgedrungen, um sich als Beweisführung der niedrigsten Stufe der Spielsucht zu eignen. Will man jedoch das Fassungslose an dem Erscheinen der Finsternis ergründen, dann kann man in so eine Abartigkeit wie den Krieg hineinschauen und merkt, wie alles nahe beieinander liegt, und in jedem Winkel der Erde sich Menschen, also wir alle uns täglich entscheiden müssen (und können), wie wir und mit was wir unterwegs sind. Denn es macht einen Unterschied in der Wirkung: wenn ich einerseits nichts beschönige, und andrerseits dem mir Entsprechenden verbunden bleibe.
Obwohl ich indisches Essen sehr schätze, habe ich nie einen Wunsch gehegt, die mir zu komplex vorkommenden Gerichte selbst herstellen zu können, ganz zu schweigen von den Süßigkeiten. Denn solches Können rinnt durch die Adern der Ahnen direkt ins Blut der Nachkommen. Aber nun ergab es sich, dass sich Kusum bereit erklärte, mir die schlichte Zubereitung von Upma beizubringen, einem südindischen Grießgericht. Dabei stellte sich heraus, dass sie und die Großmutter einen Fastentag hatten, und nur ich und der Mann würden essen. Sie erklärte mir, dass dieses Fasten für den Ehemann ist, und ist er tot, dann für den Sohn. In Indien ist Fasten beliebt. Für mich ist ihr Fasten eher eine Quelle des Humors, denn es ist nicht so, dass gar nichts gegessen wird, nein. Man isst nur e i n e Mahlzeit, dann aber tüchtig, sodass ich im Stillen immer dachte, dass ich dann wohl immer faste, verzichte allerdings nicht auf zwei Chapati-Mahlzeiten. Die Frauen fasten also an diesem Tag und tragen heiliges Gerät durch die Gegend und wollen, so will es das Ritual, diesen Mann noch weitere 7 Leben. (Wer kommt nur auf solche Ideen?) Aber die Frauen nehmen es meist selbst nicht so ernst, und schnell lachen wir beim Upma-Machen, als ihr Mann auf meine Frage, wann denn er für seine Frau fasten wolle, schnell meint, er könne Fasten nicht leiden. Haben sich die Frauen mal gefragt, ob sie das leiden können? Aber solche Riten können natürlich auch einen Lustgewinn bringen, wenn man dafür geeignet ist. Sich demütig zeigen, wenn man eigentlich alles beherrscht. Kusum meint, dass Frauen in Indien nicht respektiert werden, obwohl sie alles zusammenhalten. Kein Wunder, wenn Frauen nicht aufhören mit dem Bedienen, sodass es der Mann für die natürliche Geste der eigenen Überlegenheit hält. Und sie finden es nie heraus, wie sie einander wirklich sehen, denn das wird zwar erfahren, dringt aber durch Tabubegrenzung nicht in den Ausdruck vor. Da eh alles arrangiert ist, ist dieser Umgang miteinander vielleicht für beide entspannter. Und fragen muss ich noch, ob auch für die Tochter gefastet wird. Aber tatsächlich bewegt sich was. Kusums Tochter ist vor Kurzem nach Deutschland gekommen, um nicht geflohen zu sagen, geflohen vor dem Druck arrangierter Heirat, eine für sie aussichtslose Lage, bis sie eine Entscheidung getroffen hat, die Eltern haben immerhin zugestimmt zum Studium in Hamburg. Was ich auch noch erfahre ist, dass Mutter und Tochter sich täglich ein Photo von dem schicken, was sie gekocht haben. Deswegen habe ich diesen Impuls (kurz!) aufgenommen und ein Photo vom Upma gemacht, das ich von jetzt an auch alleine machen kann.
Wenn man das Glück hat, seinen oder ihren, bzw. ich meinen Tag selbst zu gestalten das Glück habe und meine eigenen Ordnungen sich innerhalb dieser Freiheit wie von selbst entfalten können, dann erfahre ich mich in diesem ständigen Wandel als dem kosmischen Spiel zugehörig. Denn das ist doch die (innere) Freiheit, die wir in so ziemlich allen Situationen haben: dass wir sie handhaben gemäß unserer Fähigkeiten und Ansprüche, die wir an uns selbst in Bewegung setzen. Denn warum sollte man sich nicht vom Besten nähren, das einem begegnet ist und einen anspricht und innen einen Klang auslöst, von dem man dann weiß, dass es der eigene Ton ist. Etwas beruhigt sich, vieles wird klarer und leichter sichtbar. Auch sollte ich d i e nicht vergessen, denen das aus vielen nachvollziehbaren Gründen versagt bleibt, aber ich kann auch nicht nur an sie denken, denn das eigene Schicksal kann nur jede/r selbst ergründen, bei allem Respekt und der Dankbarkeit für die vielen helfenden Hände. Als uns Nelson Mandela beigebracht hat, wie viel schwerer es ist, das geheimnisumwobene „Gute“ in uns zu akzeptieren und zu aktivieren, da wussten wir irgendwann, dass es stimmte, denn wie löste man es denn aus, wann war es verlässlich, wann glaubwürdig, wann sieht man die Gefahren, wann nicht. Auch der Beruf steht dieser Freiheit nicht im Weg, man muss nur wissen, warum man dort ist und man d a s, was man da tut, mit einem Erkennen verknüpfen kann. Immer ist es hilfreich zu erkennen, warum man hier (auf dem Planeten) ist. Als ich zum ersten Mal in der Oase ankam, in der ich noch immer sitze, wenn auch in sehr veränderten Umständen, da tanzte ich mich zu ihrer Freude in einen bereits vorhandenen Aspekt von mir hinein und bekam den Namen „Kalima“. Vor mir auf dem Tisch liegen ein paar Blätter eines Buches von Ajit Mookerjee, die mir mal jemand vor langer Zeit kopiert hat, aber stets blieb ich beim Lesen irgendwo hängen, denn es war bald klar, dass ich die glanzvolle Bürde des Namens auf mich nahm. Er hat mir durch all die Jahre in so vieler Weise gedient und mir Schutz gewährt vor meinem Schatten, der sich hier erfahren und ausagieren konnte, heißt: ich war nicht unter Druck, den männlichen Vorstellungen weiblicher Tugenden entsprechen zu müssen, sondern ich legte an mich mein eigenes Maß an und verstand, dass genau d a s die weibliche Kraft ist, die dem männlichen Verhalten gegenüber den notwendigen Pol darstellt, das Gegenüber also, das sich durchaus loslösen kann von überflüssigem Gendergerangel. Und ich kam nicht nur einmal in lebensbedrohende Gefahr durch die männliche Sucht, das Weibliche zu kontrollieren. Und ja, wir haben nicht diese Muskeln, aber wir haben Zugang zu uns selbst und unsere inneren Kräfte. Dass ich dem Missbrauch entkommen konnte, verdanke ich ihnen, den weiblichen Kräften, die mir im richtigen Moment die richtige Eingebung zukommen ließen, sodass es einen Fluchtweg gab, den ich nutzte. Ich hätte meine Arbeit als Opfer nicht fortsetzen können. Und ja, das Wort „kosmisch“ kann ungefähr bis albern klingen, aber es fehlt oft an den Worten, die das Unbeschreibliche beschreiben können, also das, in was wir hineinlauschen, erst in uns selbst, dann in die Welt, dann in das universelle Geschehen, so weit und so tief das alles erlauschbar ist. Damit man versteht, warum man hier ist, und dass ich persönlich noch keinem Gott begegnet bin, der mich behindert hätte in meinem Selbstsein. Hat er mich doch, das muss ich schon sagen, freigelassen auf meiner Spur. Oder habe ich den Gott in mir freigelassen?
Über viele der religiösen und glaubensfordernden Geschichten kann man sich durchaus wundern, oder vielmehr weiß man gerade durch sie, dass im berühmten „Immer“ Hell und Dunkel nah beieinander lagen und noch immer liegen, und das Licht kommt ohne Schattierungen gar nicht zur Geltung. Auch das als paradiesisch Wahrgenommene kann leicht zur Ödnis werden, und man will zum Apfel der Erkenntnis greifen und eigene Klamotten anziehen. So sitze ich an einem großen und wohlgeformten Tisch, den Blick nach außen gerichtet, wo (heute mal) still der sogenannte heilige See ruht. Hinten aber im Dorf ist ein Mensch ermordet worden, es war am Samstag, ich war unterwegs mit Reena. Es stellte sich heraus, dass dem Cousin unseres Fahrers das Hotel gehört, in dem der Mord vor ein paar Stunden stattgefunden hatte. Ein Racheakt wegen einer Tat, die vor über zwanzig Jahren stattgefunden hat. Die Söhne des damaligen Ermordeten wuchsen heran und lebten mit der Gewissheit der Rache, jetzt sitzen sie den Rest ihres Lebens im Knast. Aber vielleicht auch nicht, denn es kommt auf die Beziehungen an und wer mitspielt. Dann kam, das alles fünfminütlich während der Autofahrt, durch das Smartphone des Drivers ein Photo des Getöteten, sein Mund weit aufgerissen und die Augen entsetzt starrend, offensichtlich überrascht vom Offensichtlichen. Die Details wurden immer finsterer, aber letztendlich will man wissen, was los war. Deswegen treffen sich angeblich viele Deutsche abends in einer Kneipe zum gemeinsamen Tatort. Will ich wissen, was war? Nein, in diesem Fall nicht, schon weiß ich zu viel, von Männerclubs war die Rede, nur mit Ausweis, und Mafiabossen, die sich so sicher glauben wie wir, dass sie selbst nicht umgebracht werden. Ich denke aber, dass es mich vielmehr zutiefst bestürzt, wenn Leben einfach weggepustet wird. So, als sei es das Normalste der Welt, Menschen (und Tieren) das Leben vor ihrer eigenen Zeit zu kürzen. Adam und Eva wurden ja dann hinausgeworfen aus dem Paradies und schon einer ihrer Söhne wurde zum Mörder, aus Eifersucht und Neid auf seinen Bruder. Und auch mir hier am Rande der Wüste konnte es natürlich beim Durchblättern der Weltnachrichten nicht verborgen bleiben, dass der royal Harry ein Buch geschrieben hat über seine persönlichen Erlebnisse, unter anderem, er hätte ein paar Taliban niedergemäht, das sind (für ihn) doch keine Menschen, sondern solche, die man tötet. Da töten sie einander also täglich nicht nur im Krieg, sondern auch so, aus Lust und Laune und im Affekt und wegen der psychischen Störung, die keiner gefährlich genug eingestuft hat – wer kann das schon. Und so knobelt man weiterhin unermüdlich an der Kostbarkeit des in immenser Vielfalt Dargebotenen und spürt diese Tiefe der Wertschätzung und der Dankbarkeit. Und bin auch froh darüber, dass es mir doch hin und wieder ganz gut gelungen ist, anderen Menschen die Angst vor mir zu nehmen, und habe seĺbst (verhältnismäßig) wenig Angst vor den Menschen. Auch fürchte ich in mir selbst nichts mehr, was mich oder andere bedrohen könnte. Aber wer weiß? Man muss aufmerksam sein und bleiben.
Eine Seite des Hauses, in dem ich zur Zeit lebe, geht zum See hinaus, die andere zum „Ghat“, also dem Zugang zum See. Dort finden regelmäßig, wie auch an den anderen 51 Ghats, gigantische Zeremonien statt, zum Beispiel, wenn mächtige Spendenströme fließen und der Spender bekränzt und besungen wird und neuerdings natürlich auch gefilmt, damit auch von einem selbst nicht vergessen wird, wer man einmal alles war. Heute früh saß ich auf meinem Bett und wartete auf die Stromsperre, angeordnet im ganzen Land von der Regierung für eine ganze Stunde und die einzige Möglichkeit, den besessenen Mantrasinger inmitten seines lückenlos präsentierten 578sten „Om Namo Shiva“ zum Schweigen zu bringen. Meine Suche nach Mitleidenden war vergeblich. Die meisten hörten es gar nicht, obwohl die Lautstärke ein Nichthören eigentlich nicht erlaubt. Shivani meinte, dass sie das Weghören alle gewohnt seien, ich solle aber ruhig mal bei der Touristeninformation Klage einreichen. Es ist ja sinnlos – warum? Weil es bei dem Mantra eben um einen Gott geht, und als ich da so saß und mir immer zu den Mantraklängen neue poetische Absurditäten ausdachte im Rhythmus mit dem Gesang, da wusste ich (als hätte ich es nicht schon vorher gewusst), dass die Götter hier immer die Vorherrschaft haben werden. Das wird nie vergehen, denn es gibt keinen indischen Blutstrom, in dem sie nicht in jeder vorhandenen Tiefe oder Höhe oder Oberfläche vorhanden sind und (u.a.) das oft erschreckend lieblose Zuhause aufhellen mit ihrem Glanz und ihren Talkshows. Denn sie, die Götter, haben ja unzählige Vertreter im ganzen Land verstreut, vor denen immer noch in großen Mengen Menschen sitzen und andächtig lauschen, wenn sie nicht selig einschlafen bei den endlosen Diskursen, wo einer gelernt hat, den Eindruck zu erwecken, als hätte Gott ihn ganz persönlich zum Sprachrohr erzogen, um das Unsterbliche an die Generationen weiterzuleiten. Und es klappt. Natürlich klappt es auch bei den Christen, obwohl die vielen Austritte aus der Kirchenwelt eine neue Sprache sprechen. Oder im Islam, wo man aufpassen muss, dass man nicht was Falsches sagt über den Menschenhüter, und dann mit dem Kopf in die Erde gesteckt und gesteinigt werden darf, weil Gott dargelegt hat, wie die Sache läuft. Irgendwas ist hier in Indien anders und daher war es auch für mich so verführerisch, mich ein paar Jahre in der Welt der Götter zu bewegen. Nur hier habe ich die Erotik des Göttlichen in aller Freiheit (in mir) aufblühen sehen mit Menschen, die dieselbe Begeisterung aktivierten wie ich für diese unterhatsamen und hochgeistigen Formen, die einem überall begegneten und begegnen und sehr viele menschliche Züge und Befindlichkeiten haben, sodass man sich eher nahe als entfernt fühlt. Und ich bedaure nicht die knisternde Nähe, die einem da mit einem Lächeln ermöglicht wurde. Wem konnte man besser alles, was man liebte, schenken, nicht als Ersatz für die menschliche Liebe, sondern als heller Sahneklacks auf den Schattierungen des Alltags. Ich spreche aus meiner Vergangenheit, denn ich bin nicht mehr zuhause in der Götterwelt mit meinem Herzen. Es ist genau so, wie wenn ich Kontakt aufnehme mit dem einstigen Griechenland, oder mit dem Geheimnis des immer noch (und trotz allem) im Schweigen verankerten Ägypten: wir wollen die Götter lebendig haben, aber es kommt der Tag, da sind wir, beiehungsweise bin ich wieder in die Fremde zurückgewichen, ohne Konflikt, ohne Ablehnung, ohne Verlust der Freude an den Spielen, die die Follower sich erdenken, um lebendig erscheinen zu lassen, was nie Wirklichkeit, aber immer verlässlich und unterhaltsam war. So betrifft mein innerer Abschied nur mich, die ich verlassen habe, was das Ganze zusammenhält. Die in den Augen der Einheimischen noch diesselbe ist wie die Sadhni an der Dhuni des feurigen Shiva. Und tatsächlich bin ich noch dieselbe, nur weitergewandert auf meinem Weg, wo es passierte, dass mir unser menschliches Leid so ungeheuer und unheilbar erschien, sodass der göttliche Glanz wie von selbst erlosch. Jetzt berührt mich der menschliche Glanz, unsere atemberaubenden Möglichkeiten, mit der geistigen und unerschöpflichen Substanz angemessen umzugehen, und um dieses Maß kreisen meine Gedanken.
Ich nehme also den Faden, der gestern in der Luft hängen blieb, noch einmal auf und kläre für mich, warum es in mir nicht nickt, wenn ich „That’s life“ höre. Natürlich kann man keinem einzigen daseienden Ding oder Menschen Lebendigkeit absprechen, also, dass wir alle zum „Leben“ gehören, auch wenn es nicht schadet, diesen Begriff mal für sich zu definieren. Wie auch immer diese Kontemplationen, die uns zuweilen egreifen, ausfallen, so beinhaltet es doch kein eigenständiges Bewusstsein, wenn wir dem sogenannten Leben alle Schuld zuweisen, so als würde es einfach auf uns zuströmen und alles für uns entscheiden und uns gnadenlos in die Überwältigungen führen. Ja, auf uns kommt es zu, wir aber spielen doch mit, sind beteiligt am Schöpfungsakt jeder Stunde, bewusst oder unbewusst, wir sind dabei. Das indische Volk hat als Kollektiv und Umsetzer gewaltiger Rituale eine grandiose Ebene des Seins erschaffen, und lange hat es gehalten und dann alle in suspendierter Animation erstarren lassen, das lebendige Drama zwischen den Göttern und den Menschen, und wo sie sich ähneln, und wo überhaupt nicht. Jetzt, allein gelassen an den Maschinen, muss alles neu erobert werden und ins Zeitgemäße gebracht, damit es zuckt an den Rändern des Schlafes. Und lange wird es dauern, bis „Freiheit“ wieder definiert werden kann, wenn man so viel nachholen muss, und macht auch das über die Kopie. Deswegen fängt das nicht nur im Alter an, dass man sich fragt, wer man ist oder war, nein, es gibt keine Anweisung für den Anfang. Die Frage ist bei denen, die sie immer mal wieder stellen, gleichbleibend beliebt. Und wenn es dann lebedig wird durch das, was oder wen man liebt, dann ist man ja anwesend und freut sich seines oder ihres Lebens.
Jetzt bin ich schon fast zwei Monate hier und kann mein Glück immer noch kaum fassen, dass ich ausgerechnet dieses Jahr, in dem die Fahne meines Abschieds von Indien unruhig im Wind flattert, in dieser zeitlosen Herberge wohnen kann, die dem Luxus des Einfachen geweiht ist. Na ja, so einfach ist es auch nicht, einerseits die Kaffeemaschine, der Toaster und die Waschmaschine, und der Herd natürlich, meine Güte, der Gasherd mit vier Flammen!, und andrerseits waren bestimmte Bedingungen im Spiel, die zufällig auf mich passten, zum Beispiel ein gutes Verhältnis zu den Einheimischen, allen voran den Brahmanen. Der Besitzer des schlichten Palastes ist auch Brahmane, die Besitzerin aus Deutschland, sie sind verheiratet und haben zwei Kinder, die jetzt beide dort zur Schule gehen, daher die Luxuslücke. Wo habe ich nicht alles sonst noch gewohnt in diesem Umkreis! Von hoch angelegten Balkonen direkt zum Leichenverbrennungsplatz, wo Sadhus (Mönche) sich gerne niederlassen, weil es so still ist. Dann mal in einer riesigen Höhle, wo über mir die kleinen Skelette einer Kobra und einer Ratte zwischen Steinen eingeklemmt hingen, die nicht loslassen konnten voneinander. Dann im kleinen Tempel in der Wüste, wo ich mich immerhin als geschminktes, weibliches Bleichgesicht behaupten konnte, Dann vorübergehend in anderen Zimmern, heimlich einen elektrischen Ofen in Betrieb nehmend, dem ich u.a. mein gutes Überleben zu verdanken habe, da man auch darauf kochen konnte, gesegnet sei der Strom. Nun fand die Einsiedlerin, also ich, ihre Traumebene, eine (Menschen)Fee hatte es ihr einfach hingeschenkt, da verblassen einem die potentiellen Klagen im Mund. Bewusst gemacht hat mir das alles noch einmal der Besuch von Tiko, der mir abends selbstgemachtes Brot brachte. Er ist ein hochbegabter Restaurant -und vieles andere Betreiber, in dessen Kopf so viel zu managen ist, dass er sich an nichts mehr erinnert und deshalb seinem Manager beigebracht hat, das zu erledigen, was auf seinem, also Tiko’s Handy steht, dadurch gibt’s Platz für weitere Projekte, die wiederum aufblitzen als endloses Wollen, was man auch Kreativität nennen könnte, wäre das Zuviel nicht ganau d a s, was alle Kreativität hemmt und oft zum geheimnisumrankten Burnout führen kann. Was machst du denn so den ganzen Tag, fragt er mich, unruhig herumschauend. nachdem er die prächtige Kaffeemaschine genau inspiziert und feststellt, dass seine noch superer ist. Gerne setze ich zur Aufklärung über mein Tagesgeschehen an, aber schon erzählt er, dass sein Bruder ihn einmal dazu anregen wollte, gehaltvolle Bücher zu lesen. Er fing mit einem an und verstand derart wenig Begriffe, dass er sich ein Dictionnary kaufen musste und noch verwirrter wurde im Versuch, die Definitionen alle in einem Sinn zu bündeln und dann auch noch die Rückkehr zum eigentlichen Satz zu leisten. Nein, meinte er, er sei kein Philosoph, das hatten wir dann geklärt. Immerhin lebt er sich aus in all den intensiven Ablenkungsmanövern, die uns menschlichen Kreaturen permanent offeriert werden. Und was auch immer ihr Sinn und Zweck sein soll, das müssen wir offensichtlich selbst entscheiden. „That’s life, Kalima!“ ist ein Lieblingskommentar meiner Gesprächspartner, aber nein, ich nicke nicht zustimmend, sondern lasse den Gedanken alleine in der Luft hängen.
Das Schweigen kann reden!,
wandert hörbar an den
Aschen-Runen entlang und tritt auf
als unzerstörbarer Kern.
Festlich ist sein Gewand im
seltsamen Spiel mit der Wahrheit.
Weist nach das Unnachweisbare
in den Kulissen des Ichs.
Daraus entsteht wieder Leben.
Selber leben!
Jenseits der Engstirnigkeit.
Und wenn der Schmerz kommt,
schenk‘ ich ihm volle Aufmerksamkeit.
Ich achte nicht mehr auf die Grenzen der Mythen. Losgelassen hab‘ ich den Faden des Labyrinthes.
Wo alles begann, ist kein Dunkel.
Sanft ist es und hell. Stille fließt
in den erweiterten Raum.
Dort werfe ich meinen Anker
in die erwachende Welt.
Am Nachmittag ging ich zu meiner Lieblingstreppe mit den uralten Steinen. Vor ein paar Jahren gab es sie noch rund um den See, bis alle nach und nach ausgerissen wurden und ersetzt durch neue, blasspinke Zerbrechlichkeit, den Affenhorden und ihrem zerstörerischen Spieldrang gewidmet. Zwei Bewohner(innen) der königlich gebauten Häuser müssen sich gewehrt haben, so auch hier, wo ich saß. Es gab Momente meines Aufenthaltes, da fürchtete ich fast, ich liebte nur die Steine so sehr, wie ich sie lieben konnte, aber es war zum Glück nur in diesen Momenten wahr. Ich liebe sie noch immer, und Worte wie „Treppen“ und „Säulen“ und (ja!) „Tempel“ und sanft ummauerte „Gärten“ können kleinere und größere Wellen von Ekstase in mir auslösen, denn mein Geist hat sich niedergelassen im unzerstörbaren Glück dessen, was der Mensch sehen und fühlen und wahrnehmen kann von dem, was seines und ihresgleichen selbst geschaffen haben: das Schöne und das Gute, zumindest als vorherrschende Impulse. Solchermaßen dehnte sich mein Wohlbefinden aus, als eine junge indische Frau auf mich zukam und mich bat, ein Photo von ihr zu machen. Klaro, mach ich doch gerne. Sie setzte sich in Pose, schürzte die Lippen und zeigte mir an, wann ich nach oben und nach unten gehen sollte mit ihrem Smartphone. Bei einem Bild blieb es natürlich nicht, sie war nicht ganz zufrieden mit ihrem Aussehen, ich meine, mit ihrem Selfie-Image, das offensichtlich einen ganz extremen Anspruch erhebt auf die Performance. Nach jeder meiner Verrenkungsleistungen schaute sie kritisch auf das Bild, dann klickte es gute fünfzig Mal, und das Bild war 50 Mal irgendwo bei jemandem angekommen. Irgendwann verschwand sie, kam aber zurück mit zwei Freunden, einem Mann und einer Frau so um die Zwanzig herum (die Keimzellen der Zukunft!). Zu nah und zu aufdringlich drängten sie um mich herum und wollten Photos mit mir zusammen. Da war nicht das geringste Interesse an menschlichem Zusammentreffen zu spüren. Da wollte es, und kannte nur dieses neue Wollen, das für sie Seltsame, das zufällig herumsaß, auch drinnen zu haben in der Maschine und zum tausendfach bereits vorhandenen Schmollmund dazuzufügen. Urfernen der Fremdheit, Kälte des Herzens. Die Aufdringlichkeit irritierte mich, wir bekamen Angst voreinander. Das geistlose Wollen saß als Zwerg zwischen uns und hatte nicht einmal die Kraft, sich zu verabschieden. Ich versetzte sie wie durch Zauberhand in die Fassungslosigkeit durch meine Weigerung, mich mit ihnen zusammen photographieren zu lassen. Ja, ich habe das auch schon zugelassen in harmloseren Augenblicken. Aber das hier war zwanghaft. Ich bat sie, sich woanders hinzusetzen, und die Stimmung wälzte sich dumm kichernd und gefährlich an der Bösartigkeit entlang. Meine Steinliebe wankte ins Bedeutungslose. Hier war Menschsein am Versagen, ich hatte nicht den richtigen Zugang gefunden. Tatsächlich betrachte ich etwas besorgt diese plötzliche und leidenschaftliche Neigung zur Oberfläche, die auch mit „Jugend“ nicht zu erklären ist. Es fasziniert mich auch, diesen vor allem in Indien gerade stattfindende Sturz von der Aufgehobenheit der Götterwelten kopfüber hinein in die Wollust des Habenwollens zu bezeugen. Da breitet sich nun der schwarze Asphalt über der Schönheit und Beweglichkeit des Wüstensandes aus, doch der Sand kehrt zurück in den Augen, der Dunst, der Nebel, das nicht mehr Gesehene. Da mein Wohlbefinden eh vorbei war und eine ungute Szene eine Weile an einem kleben bleibt, schaute ich ab und zu hinüber zu den Dreien, die sich unentwegt, ohne jemals was anderes zu machen, gegenseitig photographierten. Das Thema ist öde, ich weiß, wir wissen ja alle, was läuft, wir kennen unseren eigenen Trieb zu den Abhängigkeiten. Doch es gibt ihn, diesen Gong, der auf das Verblassen des menschlichen Verhaltens aufmerksam macht, und ich denke, es ist nie umsonst, sich immer mal wieder auf das Wesentliche zu besinnen, auf unser Wesen, zart und verletzlich, wie es nun mal ist, und auf das Wesen der anderen, ebenfalls irgendwo tief drinnen zart und verletzlich. Ich weiß, ich hätte einen Zugang zu ihnen finden können, aber ich war gestört, weil ich es nicht leiden kann, wenn Menschen es zulassen, Angst voreinander zu haben, dabei haben sie vielleicht Grund genug dazu.
Heute las ich in den deutschen Nachrichten, dass die Silvesternacht eine wahre Schreckensnacht war, was vor allem die Verletzungen des menschlichen Körpers betrifft. Ich bin auch immer froh, wenn diese unpräzise Schicksalskurve vorbei ist. Meistens war ich zur Jahreswende in Indien und habe immer gestaunt, wieviel hemmungsloser Lärm gemacht werden kann, vor allem über Lautsprecher, die hier als Lockvögel dienen für alles, was in erlebnishungrigen Köpfen herumgeistert. Und früher bin ich dann, weil schlafen eh nicht drin war, mal raus, an den Junge-Männer-Horden vorbei zur Quelle der Ohrenbetäubung – und da war nichts. Was soll sein? Silvester kann ja für die, die gerne dabei wären, aber nicht wissen w i e, der Neujahrspartyhype noch schlimmer sein als die Weihnachtseinsamkeiten. Hat man es warm und sitzt oder spricht mit Freunden, kann das sehr genau das sein, was jeder Mensch möchte. Und nichts gegen Parties, doch auch sie müssen im Rahmen des Vorstellbaren stattfinden. Man kann sich gerne mal kurz ausmalen, dass praktisch die ganze Welt, und das sind viele Menschen, Silvester feiert, denn da ist auch kein trennender Glaube im Spiel, sondern es ist mehr ein planetarisches, spielerisches Herumgrübeln um das, was war und das, was sein könnte, wenn man es nur wissen können würde. Aber man kann es nicht wissen. Es geht ja auch eher um das Davor, etwas Erhofftes im Festgewand, eingerichtet von Menschen für Menschen, damit man die Kurve kriegt, wenn die Ziffer an der kosmischen Uhr klick macht und man dem Abschied vom Planeten eine Zahl näher rückt. Deswegen will man unbedingt, dass es anfängt, so, als wäre man auf einmal in der Kurve ein anderer Mensch geworden, der nun neu und wagemutig weiterschreitet. Im Vorher wurde so viel investiert, bis dann endlich die Böller wirklich knallen und klar wird, wo man sich befindet, und mit wem. Gestern abend war ich um die Dämmerung rum bei Gopal Milch und Honig holen, und wie ein tanzendes Etwas konnte ich mich durch die unruhigen Massen bewegen, die, einem nervösen Kollektivkörper gleich, sich willig transportieren ließen vom Techno-Gott, mitten ins Ungefähre hinein. Als die Schallintensität sich bis ins Illegale steigerte, ging ich ans Fenster und schaute zum See hinaus: Totenstille. Techno-Tanz und Totenstille. Eigentlich ist es heute früh sonnig und warm und hell, das vermittelt mein heutiges Video allerdings nicht, aber es gefällt mir trotzdem. Wie ich durch die Dunkelheit des Raumes tastete und mich dann von der Stille des Außenraumes überraschen lassen konnte. Eine guten und angenehmen Beginn des Jahres wünsche ich allerseits.