bezeugen

Am Nachmittag ging ich zu meiner Lieblingstreppe mit den uralten Steinen. Vor ein paar Jahren gab es sie noch rund um den See, bis alle nach und nach ausgerissen wurden und ersetzt durch neue, blasspinke Zerbrechlichkeit, den Affenhorden und ihrem zerstörerischen Spieldrang gewidmet.  Zwei Bewohner(innen)  der königlich gebauten Häuser müssen sich gewehrt haben, so auch hier, wo ich saß. Es gab Momente meines Aufenthaltes, da fürchtete ich fast, ich liebte nur die Steine so sehr, wie ich sie lieben konnte, aber es war zum Glück nur in diesen Momenten wahr. Ich liebe sie noch immer, und Worte wie „Treppen“ und „Säulen“ und (ja!) „Tempel“ und sanft ummauerte „Gärten“ können kleinere und größere Wellen von Ekstase in mir auslösen, denn mein Geist hat sich niedergelassen im unzerstörbaren Glück dessen, was der Mensch  sehen und fühlen und wahrnehmen kann von dem, was seines und ihresgleichen selbst geschaffen haben: das Schöne und das Gute, zumindest als vorherrschende Impulse. Solchermaßen dehnte sich mein Wohlbefinden aus, als eine junge indische Frau auf mich zukam und mich bat, ein Photo von ihr zu machen. Klaro, mach ich doch gerne. Sie setzte sich in Pose, schürzte die Lippen und zeigte mir an, wann ich nach oben und nach unten gehen sollte mit ihrem Smartphone. Bei einem Bild blieb es natürlich nicht, sie war nicht ganz zufrieden mit ihrem Aussehen, ich meine, mit ihrem Selfie-Image, das offensichtlich einen ganz extremen Anspruch erhebt auf die Performance. Nach jeder meiner Verrenkungsleistungen schaute sie kritisch auf das Bild, dann klickte es gute fünfzig Mal, und das Bild war 50 Mal irgendwo bei jemandem angekommen. Irgendwann verschwand sie, kam aber zurück mit zwei Freunden, einem Mann und einer Frau so um die Zwanzig herum (die Keimzellen der Zukunft!). Zu nah und zu aufdringlich drängten sie um mich herum und wollten Photos mit mir zusammen. Da war nicht das geringste Interesse an menschlichem Zusammentreffen zu spüren. Da wollte es, und kannte nur dieses neue Wollen, das für sie  Seltsame, das zufällig herumsaß, auch drinnen zu haben in der Maschine und zum tausendfach bereits vorhandenen Schmollmund dazuzufügen. Urfernen der Fremdheit, Kälte des Herzens. Die Aufdringlichkeit irritierte mich, wir bekamen Angst voreinander. Das geistlose Wollen saß als Zwerg zwischen uns und hatte nicht einmal die Kraft, sich zu verabschieden. Ich versetzte sie wie durch Zauberhand in die Fassungslosigkeit durch meine Weigerung, mich mit ihnen zusammen photographieren zu lassen. Ja, ich habe das auch schon zugelassen in harmloseren Augenblicken. Aber das hier war zwanghaft. Ich bat sie, sich woanders hinzusetzen, und die Stimmung wälzte sich dumm kichernd und gefährlich an der Bösartigkeit entlang. Meine Steinliebe wankte ins Bedeutungslose. Hier war Menschsein am Versagen, ich hatte nicht den richtigen Zugang gefunden. Tatsächlich betrachte ich etwas besorgt diese plötzliche und leidenschaftliche Neigung zur Oberfläche, die auch mit „Jugend“ nicht zu erklären ist. Es fasziniert mich auch, diesen vor allem in Indien gerade stattfindende Sturz von der Aufgehobenheit der Götterwelten kopfüber hinein in die Wollust des Habenwollens zu bezeugen. Da breitet sich nun der schwarze Asphalt über der Schönheit und Beweglichkeit des Wüstensandes aus, doch der Sand kehrt zurück in den Augen, der Dunst, der Nebel, das nicht mehr Gesehene. Da mein Wohlbefinden eh vorbei war und eine ungute Szene eine Weile an einem kleben bleibt, schaute ich ab und zu hinüber zu den Dreien, die sich unentwegt, ohne jemals was anderes zu machen, gegenseitig photographierten. Das Thema ist öde, ich weiß, wir wissen ja alle, was läuft, wir kennen unseren eigenen Trieb zu den Abhängigkeiten. Doch es gibt ihn, diesen Gong, der auf das Verblassen des menschlichen Verhaltens aufmerksam macht, und ich denke, es ist nie umsonst, sich immer mal wieder auf das Wesentliche zu besinnen, auf unser Wesen, zart und verletzlich, wie es nun mal ist, und auf das Wesen der anderen, ebenfalls irgendwo tief drinnen zart und verletzlich. Ich weiß, ich hätte einen Zugang zu ihnen finden können, aber ich war gestört, weil ich es nicht leiden kann, wenn Menschen es zulassen, Angst voreinander zu haben, dabei haben sie vielleicht Grund genug dazu.

One thought on “bezeugen

  1. Anja Antworten

    Menschen
    pandemische Verlorenheit
    haltlose Werte verunsichern
    Begegnungen berühren tiefe Sinne
    Menschlichkeit

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert