Weg-sein

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Das vorausgedachte oder  stattfindende oder schon stattgefundene Wegsein eines Menschen (vom Lebensprozess) kann so viel Verschiedenes auslösen, dass man versteht, warum auch das Verlassen des Planeten, wie ich es gerne nenne, ein sehr individueller Vorgang ist. Auch als Begleiter:innen des Vorgangs drängen sich unwillkürlich die Fragen oder die Gedanken auf, die um das unlösbare Rätsel kreisen. Was ist das Rätsel? Geht es um die vielen Einzelteile, die man zusammenfügen gelernt hat, um durch die Klarheit des entstehenden Puzzlebildes einen Überblick zu bekommen, wie denn das ganze Drama des menschlichen Erdaufenthaltes für mich persönlich gelaufen ist, oder überhaupt: der Blick! Der Blick auf diese Welt, den ich selbst gesteuert habe, da niemand anderes Zugang hatte zu diesem Sicherheitstrakt außer mir. Ich meine natürlich jedes Ich hat diese Gehirnkammer, in der die wesentlichen Dinge entschieden werden, außer man hat sich geistig in die Sphären der Anderen so eingelassen, dass man glaubt, sich in der eigenen Welt zu bewegen. Auch das birgt Gefahren, und wer weiß nicht, wie klein die Welt werden kann, wenn wir nicht aufpassen auf unsere Reichweiten. In Indien hätte man jederzeit in eienm Zugabteil den einleuchtenden Satz „Stirb, bevor du stirbst“ erwähnen können, ohne Widerstände dadurch hervorzurufen. Aber hier im Westen habe ich ihn dann wegen der Missverständnisse nicht mehr gesagt. Bewegen wir uns aber in der Nähe eines Sterbeprozesses, erkennt man durchaus den lichten Kernpunkt des Satzes. Das Überflüssige, in dessen Wasser man sich gerne bewegt, tritt hervor ohne Maske. Überhaupt fallen die Masken. Doch Krankheit und Tod sind nicht automatisch mit Liebe verbunden. So muss bzw. kann man all das, was man dachte zu wissen, noch einmal frisch bedenken, oder einfach den Blick schärfen auf das Daseiende und sich selbst vertrauen, dass einem das Angemessene nicht nur einfällt, sondern auch zufällt.

 

*C.M.Brinker

Ausdruck

Es war einmal ein Mensch, der rief
die Götter um Hilfe, da er seinen
Ausdruck suchte und ihn nicht fand.
Die Götter staunten. „Aber du bist
der Ausdruck!“ riefen sie ihm zu.
„Es gibt keinen anderen Ausdruck
von dir, es gibt nur e i n e n, und der
bist du!“ Doch obwohl die Götter
die Stimmen der Engel einsetzten,
leuchtete es dem Menschen nicht
ein. Und wenn ihr ihn trefft, erinnert
ihn daran. Unbedingt!

unbedingt

 

Wenn Menschen bewusst wird, durch eine Diagnose, die keine Strohhalme mehr zulässt, oder durch die Eingebung, dass der Aufenthalt auf dem Planeten seinem Ende zugeht, steht den Mechanismen der Veränderung nichts mehr im Wege. Auch sie müssen wahrgenommen und zugelassen werden, alle Bezeuger:innen sind beteiligt. Der eigene Tod wird fast wie nebenher erkannt als ständiger Begleiter. Nicht, dass man die Möglichkeit hat, sich ständig damit zu befassen, nein. Man muss sich früher oder später damit befassen, und wenn man einen sterbenskranken Menschen begleitet, kann man vieles lernen, was davor nicht möglich war. Heute dachte ich zum Beispiel, dass vielleicht ich es bin, die am Leben so hängt, dass sie es unbedingt erhalten möchte. Dabei kann jeden Nu der eigene Atem stocken, und dann stoppen, und dann hoffentlich den Körper nicht mehr zwanghaft halten wollen, so, als hätte uns das japanische Sprichwort nicht belehrt, dass es Wichtigeres gibt als das Leben. Aber wann ist das, und durch welche erhabene Erkenntnis wird dieser Gedanke emporgeboren? Ist nicht jeder Windhauch gerade dann besonders schön, jedes Lächeln einmalig, die Bühne noch offen für Auftritte. Dann versagt zur rechten Zeit auch die Vorstellungskraft, denn hier kommt das große Unbekannte und zeigt sich in der persönlichsten, vielleicht der intimsten Form. Man staunt, dass alles noch Überraschungen birgt: Worte, Begriffe, Persönlichkeiten, aus deren Schatztruhen das Unsterbliche fließt, denn das, was mit uns gekommen ist und mit uns geht, das hat sich gesammelt und wird wenn man Glück hat, jetzt als das Einzigartige wahrgenommen. Da hat man als Zeugin des Vorgangs keine andere Wahl, als aufmerksam zu betrachten, was auch Geschenk ist.

nachdenken

 
Saphira
Als ich vor einigen Wochen in einem Krankenhaus meine Cyborg-Identität aufbauen konnte (wobei ich körperlich herzlich wenig Wahlmöglichkeiten hatte), fiel mir ein buntes Blatt an der Wand des Krankenzimmers auf. Es zeigte eine Schmerzpyramide. Unten, auf der breitesten Ebene, waren die gelben und freundlichen Farben, und je höher es ging, desto feurig roter wurde es, der Gipfel des Schmerzes also oben und brandrot. Jeder auftauchende Arzt stellte die Frage, auf welchem Level des Schmerzes man sich befand. Das widersprach all meinen  Vorstellungen eines Pyramidenkraftfeldes, das auf der untersten Ebene das jeweilige Potential der Spieler:innen auslotet und aktivierend unterstützt, wenn sie dort ankommen, also auf dem letzten Teil der Ich-Reise, wo es (noch) auf etwas ankommt. Und dann geht es natürlich weiter bis zur Spitze, wo man sicherlich bei noch lebendigem Leib die Grenze der Materie verlassen kann und sich vertrauensvoll der Leere überlassen, die man nun als das eigentliche Potential erkennt. Trotzdem war das Modell der Schmerzpyramide durchaus hilfreich, und dankbar registrierte ich die Leichtigkeit, mit der ich zwischen Level 0 und Level 2 jonglierte. Wir können ja den Schmerz der Anderen nicht wirklich kennen, oder nur dadurch, dass wir selbst Ähnliches erlebt haben. Aber was spielt da nicht immer alles mit! Das ganze (persönliche) Leben mit all seinem von außen schwer erkennbaren Epos und zuweilen als dramatischer Opernumhang hinter einem herwehend. Die Helfer mit den Schnüren, die man vielleicht nicht zur Verfügung hatte (wie z.B. Odysseus), um den oft tödlich endenden Verlockungen des großen Gaukelspiels widerstehen zu können. Die entglittene Lenkfähigkeit, die notwendige und nüchterne Einschätzung der eigenen Bedeutung…slosigkeit, immer alles in Maßen. Zuerst also: Erkenne dich selbst, und dann (am zweiten Tor): alles in Maßen. Und ist es „nur“ Glück, dass man von den Toren, den Ebenen und den Stufen gehört hat, „nur“ Schicksal, mit dem man notgedrungener Weise umgehen muss. Und da es offensichtlich (für einen selbst und die Anderen) darauf ankommt, wie man das Ganze täglich, stündlich und sekündlich handhabt, bleibt einem praktisch nichts anderes übrig , als über das Wesen des Geistes nachzudenken.

27.8.2023

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Genauso gut könnte ich aufhören, denn meine Idee, das Fenster dieses Blogs 7 Jahre lang offen zu halten, hat sich am 6.6. (Hamids Geburtstag) erfüllt. Dann wiederum unterliege ich keinem Mentor, der mir davon abraten könnte, dem Fluss des Geschehens Worte oder Deutung zu widmen, denn es ist natürlich wünschenswert, dass man sich selbst um die Freuden und die Abgründe  des Daseienden bemüht. Und immerhin haben Gedanken die Kraft, einen in alle Schattierungen des Erfahrens zu lenken, und gut ist, wenn man die Richtung erkennt, die einem zusagt. Das tiefe Erschrecken, wenn man begreift, wie frei wir immer noch sind in dieser Gesellschaft, in deren Nähe Kriege die letzte Stufe des Wahnsinns demonstrieren, eben was mit dieser verfügbaren Freiheit alles angestellt werden kann, und was es auch in diesem Kontext bedeutet, was man mit der eigenen Lebenszeit anfängt, die ja ein Tor hat am Ende, durch das man sich alleine fortbewegen muss, egal, wer dabei herumsteht. Oder doch nicht egal, sondern gerade da, am Übergang, das erkennbar Wesentliche sich entpuppt zu welchem Ich man gelangt ist, und welchen Anderen man noch danken kann, dass sie einem dabei behilflich waren. Liebe – ein einfaches Wort…So bin ich zurück von meiner eigenen Odyssee, mit dem hohen Wellenschlag neuer Erfahrungsgebiete und der notwendigen Verantwortlichkeit (sich selbst gegenüber), das einem so kostbar erscheinende Stückchen Leben sicher in den Hafen zurück zu bringen, das ist auch gelungen. Daher gibt es keinen wirklichen Grund, das Wortfindungsamt nicht wieder zu eröffnen, und vielleicht doch eine Sprache zu finden für die Sprachlosigkeit. Mal sehen – noch schaut keine/r zu.

 

* Henrike Robert

3.8.2023

     noch

Noch ist nicht aller
Morgende Mittag.
Alles kann noch geschehen,
oder noch nicht geschehen,
oder gar nicht geschehen.
Manches muss noch
geschehen, manches
soll nicht geschehen,
manches darf nicht
geschehen, ja, darf nicht
geschehen. Doch ist es
geschehen, dann ist es
wohl richtig,
wohl richtig.

Aber noch besser:
Verstehen, dass schon aller Morgende
Mittag ist, und in welcher Reichweite
sind Zeugin und Zeuge in Bezug auf
die ausgerichtete Frage:
Auge?
Mein Auge?

Auge, Auge, mein Auge,
mein Paradiesapfel.
Komm zurück,
zurück zum Baum, wo der
gerissene Film nun die gerissenen
Autoren der Wunde bewegt,  und
bewegt sie, sich selbst zu vergeben.
In den wiedergeborenen Wäldern
weben die Feen den Stoff
für den Mythos von morgen.

Noch ist nicht aller Frühstücke Nacht.
Noch kann alles geschehen.