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Schade, dass man als gerade Geborenes sich nicht dazu äußern kann, welche Vorstellungen man von seiner Existenz hat. Vermutlich wären die Aussagen aller PlanetenbewohnerInnen nicht so unähnlich, vom letzten, noch unentdeckten Stamm bis ins hochangelegte Wasauchimmer. Überall hätten Menschen gerne freundliche und unterstützende Eltern, keine Sorge um Essen und Trinken, und ums Kühlsein im Sommer und das Warmsein im Winter. Dann entspannt schauen können, was man so machen möchte mit der Zeit, die einerseits zu lang werden kann, um sie nicht bewusst gestalten zu müssen, und dann auch zu kurz, um sich mit all dem Erworbenen zu entkräften, was man nicht mitnehmen kann am unsicher gelegten Endpunkt. Sich also niederlassen können mit einer Tätigkeit, die Freude bereitet, weil sie einem entspricht und daher keinem Konkurrenzgedanken unterliegt. Es ist ja nicht das Besondere, was ein Mensch kann, sondern das Geheimnis der Zusammenhänge seines inneren Wesens, das durch geeignete Handlung zum Ausdruck kommen kann. So ein grundsätzlich simples Lebensmodell ist ja kein grober Hochmut, sondern erschwinglich für alle. Von da aus sieht man, wie kompliziert und komplex das menschliche Leben ist. „Karma“, nennen das die Inder, ein Schicksalspaket, das man mitbekommt, ohne gefragt zu werden, obwohl es hier natürlich wegen des Reinkarnationsgedankens so gesehen wird, dass jedes Leben das Resultat vergangener Leben ist usw. Auf jeden Fall hat man das Paket und muss, ob man will oder nicht, zuschauen, was man damit macht. Leider wird dieser Vorgang selten als unterhaltsame Anregung gesehen, weil der Weg oft mit so vielen Katastrophen gesät ist, sodass manche schon sehr früh nicht mehr wollen, und manchmal auch nicht mehr können. Das ist die Tragödie im Gegensatz zur Komödie, die man beide in ihrer puren und lehrreichen Form nur noch selten auf den Bühnen der Welt erleben kann. Es ist der Geist, der hinter den Stirnen nach wie vor seine Dienste anbietet, doch kann niemand wirklich die unbrechbaren Gesetze brechen: so wie ich hineinrufe, schallt es heraus. Das ist umwerfend wirksam in seinem Angebot der Notlösung, und auch der Nachfrage: wie rufe ich denn hinein, damit es mir entsprechend tönend herauskommt? Muss ich dazu nicht wissen, was für Gesänge in mir wohnen, und wieviel Unausgesprochenes, was noch die Bilder benötigt, vielleicht auch die Sprache. Und wieviel Stille in mir noch möglich ist, mit der ich ernsthaft umgehe als der Kompass für tonlose Töne. Ich finde es beunruhigend, dass es hier in Indien um mich herum so viele Selbstmorde gibt. Kinder bringen sich um, weil sie beim Mogeln erwischt werden, oder weil sie eine Prüfung nicht bestehen, oder weil sie gemobbt werden in der Schule etc. Wenn der alte Mönch auf meinem Weg mir fast täglich erzählt, wie genug er hat von allem nach diesem reichhaltigen Dasein, dann finde ich das letztendlich eine freie Entscheidung, wenn er „es“ zu Ende bringen will. Es ist gesund, dass man am Ende eines gut gelebten Lebens genug hat von der Vorstellung. Der Humor und die Freiheit sind immer noch da. Der Anspruch auf letzte Befindlichkeiten. Die Kultivierung einer Fähigkeit, das Unerwartete anzunehmen. Das Abschiedslied im Paket. Der Schwanengesang.
Bei der Frage, was denn nun diese „magische“ Kraft von Indien ausmacht, denke ich jetzt öfters mal an einfache Dinge. Da man ständig überfordert ist mit Eindrücken, die es zu verarbeiten gilt, bleibt man auf natürliche Weise mehr bei sich. Auch das heißt jetzt nicht, in Ruhe und dem so leidenschaftlich proklamierten Frieden zu landen, sondern es heißt eher, wachsam zu sein, weil um einen herum alles ständig in schwer einschätzbarer Bewegung ist. Ich muss mich auch immer wieder daran gewöhnen, dass so viele Tiere unterwegs sind auf ihren eigenen Bahnen, die ich vom Westen nur eingezäunt oder an der Leine geführt kenne: Kühe, Bullen, Hunde, Affen, Gänseherden, Tauben immer um einen herum, alle auf Nahrungssuche, und es wird durchaus als Pflicht gesehen, etwas Nahrhaftes für sie dabei zu haben, auch eine kluge Idee, weil man sie dadurch beschäftigen kann, um das eigene Weitergehen zu sichern. Obwohl man um 11 Uhr am Vormittag schon ziemlich viele Erschöpfte wieder schlafen sieht, machen die Inder generell einen sehr wachen Eindruck, da sie an das ständige Wahrnehmen der Bewegungen gewohnt sind. Zum Beispiel kann ich Mohan, der (brahmanische) Hüter eines der Zugänge zum See, fragen, ob er die braune Äffin, die jahrelang ungewöhnlicherweise mit einem großen, silberhaarigen Affen gelebt hat und mit seiner Gruppe gereist ist, ob er sie gesehen hat. Und ja, er weiß, dass sie nun zu einer braunen Gruppe zurückgekehrt, ihr braunes Kind aber mit den Lemuren weitergezogen ist. Dem Kleinen fehlt die rechte Hand, erzählt er, aber er sei clever und geschickt darin, sich um seine Nahrung zu kümmern. Andere Fragen, die mich interessieren, habe ich aufgehört zu stellen, da von mir erwartet wird, dass ich weiß, was läuft oder was Hindus so denken. Ich bin auch tatsächlich ziemlich gut informiert darüber, was Hindus denken, bin aber bei aller Begeisterung für die Tragweite dieser Kultur immer auch bei meinem eigenen Denken geblieben. Das wurde allerdings ziemlich gefordert, und ich kann mir nicht einmal das antike Griechenland mit seinem Denken so fordernd und förderlich vorstellen, wie das hier gang und gäbe ist. Nicht, dass die Tiefen des Denkens überall anzutreffen sind, aber jeder Hindu ist damit in Kontakt gekommen. Nun muss man bedenken, dass, wenn ich von Indien berichte, es zwar nicht von einem ländlichen „Dorf“ aus ist, wie ich es gerne nenne, sondern es ist ein „Tirtha“, ein sakrales Feld, das mit einem Wasser verbunden ist, und es ist, gemäß ihres Denkens, das Opferfeuer von Brahma, dem Schöpfer, das Ganze an den Rand der Wüste gelegt, von wo ab und zu noch ein frischer Windhauch zu uns gelangt, während man ein paar Kilometer weiter in der nächstgroßen Stadt sofort das Tuch über die Nase bindet, um die Erstickung einzudämmen. Heißt: ich berichte aus einer vergehenden Welt. Aber vergeht sie nicht immer? Und wer weiß, was bleibt und sich immer wieder behauptet als Ewigkeit?
Da meine Kindheit noch mit der (deutschen) dunklen Zeit verbunden war, gehörte ich zu einer neuen Bewegung, die sich sicherlich aus sehr unterschiedlichen Gründen nach Indien ausrichtetete und dort eine farbenprächtige und facettenreiche und auch von vielen als menschlich empfundene Menschheit antraf, die Möglichkeiten und Orte anbot, wo das Zusichkommenwollen ein vertrauter Gedanke war. Ja, es schien das Herzstück des ganzen kulturellen Kollektivs, dass durch gute Angewohnheiten, gutes Essen, gutes Spenden, freundliches Verhalten u.s.w. es dem Menschen ermöglicht wurde, ein gutes Leben zu führen. Einfaches Leben, gutes Denken. Es müssen auf jeden Fall genug Menschen gewesen sein, die diese Richtung und Anstrengung für unabdingbar hielten, und es sind vermutlich genau solche freiwilligen Anstrengungen der Menschen, sich lernbereit in einer bestimmten Ordnung aufzuhalten, die dem Wunsch nach innerem Reichtum auch zu einer Umsetzung verhelfen können. Es ist ja immer schwer zu sagen, wo und wann die Veränderungen einer Zeit beginnen, sich durchzusetzen und vom Verborgenen ans Tageslicht gelangen. Dann können sich Löcher zeigen im Verbindungsnetz, und das Netz hat nicht mehr die Kraft, die gemeinsam getragene Substanz zusammenzuhalten. Im entstehenden Chaos ist auf einmal jeder allein. Nun gibt es eine Menge attraktiver Strohhalme, an denen man sich festhalten kann. Sie haben die Form von Spielzeug und werden geliebt von den erwachsenen Kindern, die keine sein konnten. Was hier helfen könnte, ist nicht geschult worden. Keinerlei Aufmerksamkeit ist den Zusammenhängen unter Menschen gewidmet worden, Götter über alles gestellt, Söhne gnadenlos bevorzugt, weibliche Föten gnadenlos abgetrieben. Ich empfinde eine Freiheit, mich von den subtilen Identifikationen zu lösen. Kein angebundenes „Mein“ mehr, und doch zu sehr vielem Zugang. Die Liebe ist hartnäckig. Die Liebe ist verlässlich. Das Navigieren im Ungewissen wäre schwer ohne die Liebe. Vielleicht wäre es gar nicht möglich.
Auf dem Photo, das ist Ayesha, die junge Frau, die ich gerne hier in der Gegend meine Tochter nenne, obwohl jeder weiß, das sie es nicht ist und auch nicht sein kann, aber es ist das Winzlingswesen, das ich einmal vor 23 Jahren auf der Straße „zufällig“ mit dem Schuh berührt habe, und zuerst dachte, es sei ein überfahrenes Tier, das jemand zugedeckt hatte, aber siehe da, es war ein Kind. Ich habe diese Geschichte schon einmal in diesem Rahmen erzählt, aber da sie mich gestern besucht hat, teile ich gerne nochmal ein bisschen davon mit, mit so einer tiefen Freude, dass wir die ganzen Jahre ihres Lebens in Kontakt geblieben sind und ich die 6 Monate, die sie mit mir aufgewachsen ist, in so wunderbarer Erinnerung habe, weil niemand das geringste Interesse hatte, sich einzumischen in unsere Verbindung. Da klar war, dass sie bei mir bleiben würde, bis eine Lösung gefunden war, war der Umgang mit dieser völlig neuen Situation ziemlich herausfordernd für mich, da ich mich bereits für ein bestimmtes Leben entschieden hatte, das als Quelle die Meditation hatte, und nun war das Kind da und dieses Leben doch vorübergehend sehr verändert. Es hatte also die ganze Ernsthaftigkeit einer mütterlichen Verantwortung, aber auch sehr viel Spielerisches und Poetisches, was mich in ein anhaltendes Staunen versetzte, auch über meine Ignoranz, die ich vorher über die Anwesenheit dieser kleinen Geschöpfe kultiviert hatte. Dann habe ich Dr. Shyama getroffen, eine Ärztin, die mich unterstützte und mir später half, ein Ehepaar zu finden, das bereit war, das Mädchen zu adoptieren. Sie nannten sie „Asha“, Hoffnung, und als wir gestern zusammen saßen, dachte ich, dass sich schöner eine Hoffnung gar nicht erfüllen kann. Neulich bin ich an der Stelle vorbeigekommen, wo ich sie gefunden habe und früher ab und zu mal eine Riksha fuhr oder ein Bus, wo ich jetzt mindestens 10 Minuten warten musste, um eine Lücke zu finden, um unter Lebensgefahr hinüber zu rennen auf die andere Seite. Da dachte ich, wie wenig Überlebenschance sie gehabt hätte, und wie verblüffend es immer noch ist, dass ich ausgerechnet da entlang kam, wo, wie ich später erfahren habe, ihre Mutter sie kurz vorher, und direkt nach der Geburt, abgelegt haben musste, wir wissen nicht genau, warum. Als langsam klar wurde in diesen ersten Monaten, dass ich sie nicht werde mit mir nehmen können, fing ich an, mich als ihre „Agentin“ zu bezeichnen, ein ziemlich alberner Begriff, aber irgendwie auch stimmig. Bis heute schwebt etwas Unaussprechliches zwischen uns, eine schicksalshafte Nähe, die geschmiedet wurde durch eine bis dahin für mich unvorstellbare Realität. Ist Realität überhaupt jemals vorstellbar? Das Photo hat sie mir gestern geschickt (wir sitzen ja jetzt auch zusammen da mit unseren Smartphones), Es ist von der Hochzeit einer gemeinsamen Freundin, die vor Kurzem stattfand. Sie selbst hat zum ersten Mal von ihrer Hochzeit gesprochen, die wohl demnächst geplant werden wird. Sie hat jemanden getroffen, mit dem sie sich ein gemeinsames Leben vorstellen kann.
Eine Titel-Variante des Bildes oben könnte sein „die Ruhe nach dem Sturm“, oder nach dem Vollmond. Titel und Überschriften sind ja immer sehr suggestiv, auch ein reizvoller Gedanke, obwohl mir persönlich das „o.T.“ immer besser gefallen hat. Auch die Freiheit, etwas Bestimmtes sehen zu wollen oder nicht. Dann bin ich erstmal raus zu meiner täglichen Morgenrunde, wo der öffentliche Raum fast menschenleer wirkt, was in Indien eher einen relativen Eindruck beschreibt. Dann erkundige ich mich bei dem Sadhu, der nicht weit von „meinem“ Sitz in einer Mini-Zelle wohnt, wie’s ihm heute geht, denn er hat einen qualvollen Ischiasnervschmerz und möchte „gehen“. Zur „Kumbh Mela will er noch einmal reisen, dem großen Sadhu-Treff (und größtes religiöses Fest der Welt), das alle 3 Jahre in vier verschiedenen „heiligen“ Städten stattfindet. Danach, denkt er, kann er das alles beenden. Sie können nie zugeben, vor allem nicht vor sich selbst, wie ungeheuer zäh und langweilig die Zeit für sie vergehen kann, so als würde der Anspruch auf Heiligkeit automatisch gedehnt werden und wäre in sich stets erfreulich. Deswegen hat auch ins Zentrum der heiligen Männerhorden das Smartphone eingeschlagen wie Shiva’s Dreizack. Die Abhängigkeit von den Devotees hat sich umgepolt in eine neue Form, deren Wirkung es erst noch zu erleben gilt. Dann sehe ich beim Weitergehen auf einmal ein riesiges Aufgebot an Polizisten. Fahrzeuge müssen umkehren, ich werde gefragt, wo ich hingehe. „Paricrima“, sage ich, der Name für die Umrundung des Sees, ein Schlüsselwort, das in ein Schloss passt. Heute kommt Rahul Gandhi hierher zur See-Segnung, denn am 7.12. sind Wahlen, und er taucht bei den Muslimen und bei den Hindus auf für seine Congress Partei. Seine Mutter, Sonia Gandhi, hat sich trotz aller Schikanen und Anfeindungen, weil sie Italienerin ist, souverän durchgesetzt, hat aber diesen Sohn, der es bis jetzt nicht geschafft hat, die Inder von seinem Hindusein zu überzeugen. Sie sehen ihn als Weich-Ei und fragwürdigen Spr0ss der Gandhi-Dynastie. Aber gleichzeitig ermüdet gerade die Begeisterung für die regierende Partei (BJP) unter Narendra Modi, einer unheimlichen Figur, die vom Westen aus noch schwerer zu erfassen ist als etwa die Vorstellung des nordkoreanischen Machthabers beim Frühstück mit seiner Frau. Ich treffe auch hier selten auf jemanden, der weiß, wer Deutschland gerade regiert, aber Modi’s Methoden sind wahrhaft undurchsichtig. Seine Identifikationen reichen von Vorzeige-Yogi bis zukünftigem Weltenherrscher, was wegen dem ständigen Lächeln keiner vermutet. Für diese heimlichen Machthaie ist Donald Trump als der perfekte Vortänzer gekommen. Während also durch ihn da vorne am Vorhang die alberne Show abläuft, wuselt es hinter den Vorhängen unter konzentriertem Druck und bastelt an Plänen, bis die Zeit reif ist. Wann eine Zeit reif ist für etwas unterliegt entweder der individuellen Entscheidung, oder etwas Ungesehenes hat sich energetisch zusammengeballt, oder wird durch die gemeinsame Überzeugung einer Masse in eine Wirklichkeit katapultiert, oder die Bemühung um das Verständnis eines guten Lebens oder schon eines gut gelebten Tages kann eine natürliche Reife hervorbringen, wenn das Innen und Außen zu einer gewissen Harmonie gelangen, ohne voneinander abhängig zu sein, d.h. eine Freiheit entsteht im verfügbaren Raum, am besten dem hinter allem sich endlos ausdehnenden Raum, der einen großzügig zulässt als sich selbst, ganz und gar beteiligt (und auch gar nicht), am aktuellen Vorgang. Man kann auch danken, dass man noch lebt und beim Herumgehen nicht ausgerutscht ist auf den Unebenheiten.
RAUM
Sein Geist war grenzenlos als er
Ausflog, er war ein Schweigen wie angegossen
Auf Luft und Wasser mannigfaltig
Gestoßen aus dem Schoß einer Arche
Licht-Atem, webende Flügel beim Wirken
Des Unermeßlichen, von der Kuppe des Betens
Trennten sich Hände, um die Versprechen
Des ersten, ungestörten Es Werde einzulösen
Er fliegt und macht die Strohhalm-Probe auf die Sintflut
Durchwatet den verhangenen Meeresarm des Zorns
Kurier aus dem Schlummer und First des auserwählten
Treibguts, einer von all den Zugrundegegangenen
Durch Glühwürmchen-Gewebe trieb er
Einen sachten Keil ins Splintholz des Himmels
So sicher wie der Pilger zum Ursprung gelangt
Brachte den weißen Schatten auf dem Webstuhl unter
Seine Fülle war ein weißes Zelt auf
Kobalt-Sänden, und er, Focksegler –
Damit die Flut-Perioden nicht vergessen werden –
Pflückt der Karawane eine Dattel. Der Stein
Der Herzstein Quelle wahrer Fata Morganen
Öffnet sich auf eine glühende Oase im Osten
Beim Fliegen flügellos, Weihrauch-Boot mit
Eingelegten Hoffnungs-Strömen, ein Nebel-Beben
Das an ein körperloses Luftlied rührt
Ein ovales Kleid aus verblassendem Mondlicht
Eine Pause leuchtend von Schweigen, hingezogen
Zu Geisterfingern auf dem bezauberten Webstuhl
Zwischen der äußeren Reise und dem Blick
Zurück auf den Glanz von Oberflächen bevor sie
Leer waren sah er – neu aufgekommene
Staub-Spannen, den Raum abzumessen!
Ist es ein Wunder, daß er nicht zurück will?
Er sucht seine Ruhe auf Seitenwinden –
Die leeren in eine einzige einsetzende Flut
Ewige Sintflut des Entwurfs eines Wortes!
Während die Kamele wieder in ihre Heimatdörfer zurückkehren und diese unvorstellbaren Scharen von Gläubigen (350 000 sollen es gewesen sein) sich wieder zurückziehen in ihr Jeweiliges, wie vermutlich auch die Gottheiten, lese ich in der Times einen Artikel mit einer sehr langen Überschrift: „Wie die Welt lernen muss, ohne Angela Merkel zu leben, Kontinentaleuropas wichtigste Führungskraft im letzten Jahrzehnt.“ Ich bin natürlich froh, hier im uralten Indien sitzend, auf der indischen Spezialnachrichtenseite ein paar anerkennende Worte über Frau Merkels Persönlichkeit und Arbeit zu hören, gehöre ich doch zu der offensichtlich schrinkenden Gruppe derer, die zwar einsehen, dass Regierungsjahre mal ein Ende haben müssen, aber das nicht unbedingt so sehen, dass Angela Merkel jetzt wegen Regierungsunfähigekeit vorzeitig aus ihrem Amt auf unwürdige Weise hinausbugsiert werden muss, weil so viele hochtalentierte Geschöpfe Schlange stehen, die man unbedingt schnell regieren lassen muss, damit ihr politisches Genie sich über die Welt ergießen kann. Ich habe wegen schlechtem Internetempfang die drei Herausforderer noch nicht reden hören, aber ich finde es schon bedenklich, wie die politische Unlust sich durch diese Debatte noch vertieft, und wenn ich’s flüchtig bedenke, so ist es nicht viel anders als ich es hier mit den Riten und den Gewohnheiten und den Machtausübungen und den Unterwürfigkeiten und den menschlichen Bemühungen und all dem Erforderlichen in einer enorm schwierigen Zeit, ich es hier also gesehen habe, wie alles einfach weiter geht und gehen muss. Und manchmal wird man selbst ergriffen von einer großen Ohnmacht, die einem die Entscheidung aufzwingt, an welche Quelle man sich letztendlich halten möchte und kann, damit dort zumindest das eigene Seinsgefühl zu einer gewissen Gelassenheit gelangt. Das Traumhafte an der manifestierten Welt ist ja durchaus auch das lebendige Weben der unendlichen Geschichten als Stoff und Matrix der eigenen Befindlichkeiten, und ohne das letztendlich Illusionäre käme man nicht in eine konkrete Wahrnehmung des Schachspiels (ohne Remis). Ich habe mal gehört, dass der Muezzin in der Moschee an d e m Punkt seinen Ruf anhebt, wenn sich ein weißer Faden von einem schwarzen nicht mehr unterscheidet. Die Ankunft der Dämmerung!
So, das ist jetzt ein kleiner Einblick in die letzten Stunden des Baderausches, bevor um 11 Uhr 09 der ganze Zauber vorbei ist und der Vollmond ausgeschöpft. Man fragt sich natürlich, warum bei diesem tausendfüßigen Andrang in der Mitte des Beckens keiner badet. Ganz einfach, weil die meisten Inder (vor allem Frauen) nicht schwimmen können und sich an den angebrachten Ketten festhalten. Auch wenn ich in meinem kleinen Palazzo in der Mitte des gigantischen Getümmels in aller Ruhe meinen Kaffee trinken kann, bleibt mir ein Gefühlsbad nicht erspart. Die ganze Nacht hindurch hat eine laute Glocke an der naheliegenden Treppe zum Wasser ununterbrochen gebimmelt, denn jeder Pilger signalisiert hiermit sein Dasein. Hallo, ich bin hier. Eine schöne Idee für jeden Haushalt, damit ein Gefühl für das eigene Dasein entsteht. Etwas in mir hält Ausschau nach dem Fleck in mir, wo ich meinen Humor vermute, der sich bedeckt hält. Ich denke an Mekka und wie glücklich Shafi, ein alter Freund, war, als er es endlich geschafft hatte, sich und seine Frau auf den Haddsch zu machen und sich in die Millionen Glückseligen einzureihen, die die Kaaba umkreisen dürfen. Den Wunsch, die Religionen mögen Simsalabim vom Erdboden verschwinden und Raum machen für weitere Entwicklungen des Menschseins, kann man im Dialog mit sich selbst nur als kindlich bezeichnen. Das Wasser, in dem die Pilger hier vor meinem Fenster baden, soll ursprünglich mal einen leprösen König schlagartig geheilt haben. Auch als ich einst im Dorf ankam, war das Wasser noch klar und voller Algen und Fischen und Schildkröten, und der Monsoon überschwemmte die Brücken. Aber egal, wie weit es noch kommen wird, so wird alles getan werden von den Verantwortlichen, um vor allem für diese paar Tage genug Wasser zu besorgen, damit alles so weitergehen kann, wie es immer war. Da muss die Not schon sehr groß werden, bis das zu einer Akzeptanz der realen Vorgänge führt, das kennt man doch von sich selbst und erinnert mich an einen Satz meiner früheren Yogapraxis, und zwar „Stirb, bevor du stirbst“, und meint, wach auf aus dem traumähnlichen Schlaf und sieh, wie es wirklich ist, und das, bevor die kurze Zeit rum ist. Ich sehe an der Seinsweise der Hindus, dass sie sich in den Ritualen bestens auskennen. Aber in den Familien, zu denen ich Zugang habe, sehe ich nicht, dass sie sich miteinander gut auskennen. Sie ertragen ihre gegenseitige Fremdheit mit Gedanken, die keiner kennt, am wenigsten sie selbst. What to do. In den Prophezeiungen dieser dunklen Zeit (eisernes Zeitalter!) gibt es natürlich wie in jedem Märchen einen Lichtblick, ein Gold, dass man durch seine oder ihre Augen fließen lassen kann, sehr aufwendig auf Hindi, „jaagarookata“, Bewusstsein. Eine frühere Mediationslehrerin sagte mal, Bewusstsein sei auch nicht der letzte Schritt, weil da noch „Wissen“ enthalten ist. Happy Purnima, I said to myself, denn mein Humor (verlässlich wie stets) hat mir gerade noch im angemessenen Moment geholfen, die Kurve nicht zu verpassen.
Das Figürchen habe ich heute auf meinem Weg gefunden. Es ist ungefähr 4 cm hoch und erinnerte mich auf liebevollste Weise an die vielen Pilger und Pilgerinnen, die ich in den letzten Tagen all diese Mühen habe auf sich nehmen sehen, das Bad, das Gedränge, die notwendigen Spenden, die Suche nach einem einigermaßen sauberen Platz zum Essen und zum Trinken, und dass man die große Familie nicht verliert, und dass man seine Schuhe wieder findet, wenn man geht. Mit den liegengebliebenen Kleidungsstücken und Schuhen kann man ein ganzes Dorf ausstatten, und soweit ich sehe, werden auch die Bündel der Kehrerinnen nicht untersucht. Da die meisten Inder ein riesiges Gedrängle im eigenen Haushalt gewohnt sind, kann man auch bewundern, wie gut und freundlich sie sich miteinander arrangieren. Auch die Herren Mönche in den orangenen Farben waren heute zahlreich vertreten. Ungefähr 200 von ihnen stellten sich den Photographen für ein Gruppenbild bereit, meine Hand griff auch schon zum Smartphone, sank dann aber ermüdet wieder in die Tasche. Mehr als eine Million Photos werden diesen Ort verlassen und irgendwo gesehen werden, wo sich niemand auch nur vorstellen kann, was da los ist, und wer diese Gestalten sein könnten. Muss ja auch nicht sein. In der Zwischenzeit könnte man mit Plastiktüten aller Art, die seit 3 Jahren verboten sind, ein kleines Business aufmachen (bemalte Plastiktüten!) Was sich einmal richtig gut bewährt hat, ist schwer wieder weg zu kriegen. Man füllt also als guter Mensch pflichtgetreu die Tüten mit allerlei Futter, das man unterwegs irgendwas Lebendigem spendet, und die leeren Behälter lässt man einfach fallen. So kann man später das Sterben der Fische sehen oder eine an Plastik gestorbene Kuh. Ob der Mensch von seinen Fehlern nicht lernen kann, ist vermutlich eine der müßigen Fragen. Die planetarisch gerade Anwesenden erleben ihr Schicksal ja immer neu, und man lernt mit den Jahren, was man sich selbst zumuten kann. Ach ja, eine Gruppe habe ich noch vergessen zu erwähnen, das sind die Polizisten, und vor allem die Polizistinnen. Sie sind überall, die meisten mit ihren Smartphones beschäftigt, da es in der Tat wenig für sie zu tun gibt, obwohl terroristische Anschläge bei jeder Großveranstaltung erwartet werden. Da die nächstliegende Stadt eine Hochburg des Islam ist, kann man geradeaus von einem Wunder reden, dass noch nichts Schlimmeres passiert ist außer diesem Fall vor ein paar Jahren mit dem Terroristen Headely, der angeblich die Einrichtung einiger orthodoxer Juden, die sich hier eingenistet haben, in die Luft jagen wollte. Man kann sich vorstellen, warum Frauen in Indien Polizistinnen werden wollen, das muss erstmal eine Weile ein gutes Gefühl sein, wenn sie nicht so streng und knochenhart aussehen würden. Dann habe ich noch den tiefgläubigen Brahmanen getroffen, der mir jedes Jahr berichtet, wie schwer es ist, zu Gott zu gelangen, keiner hätte auch nur den blassesten Dunst, w i e schwer es ist. Er sieht sehr ungesund aus und ich frage ihn, ob es leichter geworden sei inzwischen. Er lächelt etwas gequält. Only „SitaRam SitaRam“ sagt er erklärend, was soviel heißt wie, dass er zur Zeit in der Übung ist, nichts anderes zu denken und zu sagen als SitaRam, die beiden Hauptdarsteller der Ramayana, dem beliebtesten Epos der Hindus. Dass das indische Volk generell als untherapierbar gilt, heißt nicht, dass es nicht adäquate Formen gefunden hat, vorhandene Neurosen auszuleben. Wer will es beurteilen?
Das Bild von dem badenden Sadhu habe ich spät abends gemacht, als ich dabei war, das Fenster zu schließen. Immerhin hatte er das Becken für sich, und man kann nicht leugnen, dass selbst die durchgebadetste Brühe mit einigen Blüten drauf noch eigene Schönheit entfalten kann. Ungefähr 300 der sogenannten „heiligen“ Männer sitzen um den See herum, oft mit gewaltig aufgetragenen Stirnzeichen, die ihre Bruderschaft oder geistige Zugehörigkeit kennzeichnen. Es gibt eine Menge „fake“ Sadhus, die zum Beispiel eine „heilige“ Kuh mit irgendeinem Sondermerkmal hinter sich herziehen, und überhaupt ist es ein Gauklermarkt ohnegleichen, der die humorvolle Ader direkt treffen kan. Gemäß des kulturellen Wissens hat man allen Grund, die unbeschreibliche Vielfalt illusionärer Manifestationen zu rühmen als das einzige Kunstwerk, das nie eingefangen werden kann, ständig sich wandelnd und offensichtlich genug Vorstellbares hervorbringend, damit jeweils genug Menschen von der Logik des Erschienenen so überzeugt sind, sodass wir es meistens als die einzige Realität wahrnehmen, die uns entspricht. Überhaupt (!) Heute früh saß ich um 7 Uhr indische Zeit beim Frühstück, als mich ein Freund aus Boston über WhatsApp erreichte. Er war auf dem Weg zum Nacht-Supermarkt, um für seine Familie „organic food“ zu kaufen. Es war klirrend kalt in Boston, irgendwie immer noch verblüffend, all diese Möglichkeiten der Erfahrung. Und das Weite manchmal näher als das Nahe. Erheiternd beim Festival ist natürlich auch nach den vielen, westlichen Cannabis-Debatten, dass diese heiligen Herren hier öffentlich ihre Haschisch und Cannabis Chillums rauchen, und ohne diese organische Zufuhr wohl auch einiges nicht ganz so erträglich fänden. In der Times war der Artikel einer Komödiantin, die ab und zu eine Kolumne schreibt, über Cannabis, wo sie meinte, das gäb’s doch hier nun schon seit tausenden von Jahren und ein Großteil der Menschheit würde es zu sich nehmen, and what is wrong suddenly with the excellent medicine, sagte sie. Immer wieder alles ein bisschen frisch sehen, das ist hilfreich. Es zwingt einen ja niemand zu irgend einem Glaubensbekenntnis. Allein das!
Wenn man eine Kultur oder ein Land oder eine Tradition oder eine Person baden gehen sieht, sollte man vielleicht die Kraft aufbringen, nicht genau hinzuschauen. Oder sollte man spätestens dann genau hinschauen, auch wenn man die Beobachtungen nicht unbedingt verbal weitergeben mus?. Auch in diesen Begrifflichkeiten geht es ja hochkomplex zu. So gibt es die tausenden von badenden Pilgern, die täglich ihr Karma zurechtbürsten, denn nachdem man es geschafft hat, hier im heiligen Teertha von Brahma, dem Schöpfer des Weltgefüges, anzukommen und auch noch das rituelle Bad hinter sich zu bringen, kann einem anschließend nicht mehr allzuviel passieren. Bestimmte Orte gelten als Prüfsteine, ob du deinen Weg auch ordentlich gegangen bist. Auch für die Asche deines Körpers, wenn es denn mal so weit ist, ist hier ein günstiger Platz. Hier zu sein in den laufenden fünf Tagen, wo Brahma das Dorf aus der Luft herunterholt, damit mal wieder ein Schuss Unsterblichkeit in das Ganze gepumpt werden kann…ja, das sind einige Dinge, die gerade laufen. Verblüffend auch immer bei all der hinduistischen, moralischen Strenge, wie viel totale Nacktheit sich in den extra angelegten Becken tummelt. Das Rituelle gibt dem Enthemmten noch einen gewissen Glanz. Auch überwältigt einen zuweilen das arglose Lachen, wenn das menschliche Verhaltensspiel ins Absurde gleitet. Dann kommen zu so einem Fest natürlich die Sadhus, also Ausgestiegene aus dem Heiratsrad und meistens geordnet und initiiert in Bruderschaften, die oft immense Architekturen zur Verfügung haben, in denen alles Mögliche stattfindet, was in der zeitlosen Geschichte des Menschseins gewusst und gelehrt und weitergegeben werden wollte. Wieviel von diesem „Wissen“ aktuell durch die „Wissenden“ (Sadhus) weitergegeben wird, ist, erlaube ich mir mal zu sagen, keine ernsthafte Einschätzung mehr wert. Und sollte es sie geben, die lebenden Weisen Indiens, so würden sie vermutlich nicht in diesem inzwischen touristisch empfohlenen Zirkus herumsitzen und hoffen, dass sie etwas Kohle machen fürs Weiterreisen. Auch das dumpfe und autoritäre Beharren auf bestimmte Sitzen oder geistigen Stellungen kommt nicht mehr so an, dass man sich zum Dabeisitzen angeregt fühlt. Es gab sie, die geistigen Kraftakte, und wenn sie möglich waren, war es immer eine große Freude. Wie spricht man so miteinender, dass man sich erkennt oder auch zu erkennen geben möchte, wenn das Feld der Gedanken sorgsam ausgebreitet wird und man schaut, wie groß der Raum zwischen zwei Geistern werden kann, wo dann der angemessene Austausch stattfindet. Jetzt bleibe ich gar nicht mehr stehen, arbeite ja schließlich auch für keine Überprüfungsstelle. Aber egal wo es noch hingehen muss und wird, ich kenne mich gut genug aus in ihrer Kultur, um zu wissen, dass man ihnen alles zutrauen kann. Inzwischen wird weitergebadet, und egal, wie man es sieht, es gibt sie immerhin noch, die Möglichkeit, im vorhandenen Wasserbecken die angebotene Todlosigkeit zu empfangen, wenn man doch dafür extra angereist ist.
Ja, vielleicht (unbewusst) ausgelöst durch Stan Lee’s Tod (Schöpfer der Marvel Comics), (die ihm Gemäßen mögen seine Seele begleiten), hat sich bei mir auch ein Super Hero gemeldet. Man sieht, dass er noch Schwung und Absicht eines „Silver Surfer“ in sich trägt, auch die Sorge um den Zustand der Welt und der Menschen ist deutlich in seinen Zügen zu lesen, aber da ist auch noch etwas anderes. (?) Während der Silver Surfer, bei aller Verzweiflung, die ihn da oben im kalten All auf seinem Surfboard ergreifen konnte und zu gewaltigen Reden anregen, den zeitlosen Epen ebenbürtig, so verlor er doch nie das Vertrauen in die Möglichkeit der Weltrettung. Ein Job, für den er zweifellos geeignet war. Gut, da war Zen-La, sein Zuhause, wo er sein hautenges Kostüm mal ablegen und etwas Gesundes (vegan?) zu sich nehmen konnte, um in Form zu bleiben. Und da war auch Shalabal, die liebliche Verkörperung des Wartens auf den Weltenretter, der viel zu tun hatte – multitasking, sozusagen. Doch was hat der bildlich bei mir Erschienene zu tun? Er hat nicht einmal einen Namen. Er schaut und schaut, und was er sieht, das wissen wir nicht, nur, dass er kein Weltenretter ist, sondern ein Weltenschauer. Vielleicht weiß er auch, dass er keinen retten kann. Er betrachtet von oben im Bewusstsein einer Drohne, wie die Schulkinder durch geschriebene Botschaften klar machen, was sie alles retten wollen. Rettet das Wasser! Hier vor Ort gibt es schon mehr Hotels als Wohnhäuser, und hat man noch kein’s, baut man eins. Alle Menschen, die dort vorübergehend tagen und nächtigen, duschen ausgiebig. Der Besitzer möchte ihnen nicht sagen, dass sie Wasser sparen sollen, denn die Zimmer sind teuer geworden und Wasser für die Reisenden selbstverständlich. Deswegen wird Wasser gekauft. Wo und wie rettet man Wasser? Und wo und wie rettet man das weibliche Kind? Und das Leben? Wo und wie rettet man das Leben? Der Held, der sich da durch die Lüfte schwingt, fühlt eine Ohnmacht dem nicht mehr Fassbaren gegenüber. Wenn nichts mehr gerettet werden kann oder möchte, dann fallen da, wo die letzten Surfer noch ihre Ausbildung erhalten, eine Menge Jobs weg. Auch die Luft macht das Surfen nicht mehr so angenehm. Es ist nicht schön zu sehen, wie die Menschheit sich allmählich vergiftet. Doch der Surfer surft unbeirrt weiter. Gut, er ist namenlos, aber gibt es Schöneres als surfen? Wenn man das lange genug und unermüdlich praktiziert hat und die Stunde erlebt, in der es fast wie von selbst geht, nur dass man wach sein muss und anwesend. Man legt dann das Board an die Seite und verlegt die Bewegung nach innen: die Freude, die Präzision, die Lebendigkeit! Er surft also weiter. Was soll er sonst tun?
Die Kühnheit, tiefe Fragen zu stellen,
erfordert möglicherweise eine
unvorhergesehene Flexibilität, wenn
wir bereit sind, die Antworten
zu akzeptieren.
Gestern ist hier das große Novemberfest im Monat „Kartik“ von der Regierung eröffnet worden. Ich komme nicht umhin, es zu erwähnen, denn ein paar Tage läuft nichts anderes. Viele Jahre war ich um diese Zeit meist nicht da, und wenn ich da war, bin ich in eine andere Stadt für ein paar Tage, weil mir die Entwicklung des Festes mit Schwerpunkt auf Tourismus nicht mehr gefallen hat. Ich gehöre in lockerer Verbundenheit zu der Gruppe, die sich noch an ein gewisses Gefühl erinnern können, das eher im Wortlosen lag, auch ein Wahrnehmen des permanent Ungewissen, das sich aber auf eine bestimmte Weise verlässlich kristallisieren konnte, wenn man etwas Wert auf innere Haltung legte. Ich saß also gestern Abend an meinem Fenster zum See hinaus und weidete meinen Blick an den tausenden von Öllämpchen, die SchülerInnen aus allen verfügbaren Klassen aufgestellt hatten. Sie machten auch farbige Mandalas entlang des Gehwegs, und in den bunten Blüten gab es Sprüche wie „save water“, und „save the female child“, und „save life“, alles wichtige Dinge. Auf einmal flog eine Drohne an mir vorüber, Pilger und Pilgerinnen saßen auf den Stufen herum nach der Auftakts-Puja der Brahmanen. Wenn in Indien ein einziges Ding sich durchsetzen kann und von vielen gekauft wird, dann kann der bescheidene Beginner Millionär werden. Wenn nun so eine Drohne die kollektive Bereitschaft zu gierigem Haben genug anstacheln würde, dann…ja was dann..(alle PilgerInnen mit Drohnen im Handgepäck!).Ich bin dann mal wieder am Shani Mandir vorbei gelaufen, dem Gott Saturn gewidmet, wo Frauen nicht in die Nähe des schwarzen Steines kommen dürfen, weil, so erklärten es Priester, als Frauen letztes Jahr die Sache in Frage stellten, weil Frauen die massive Kraft des Gottes nicht verkraften könnten. Ein Freund, dessen Frau Shani-Verehrerin ist, meinte auf meine Frage, wie er das sieht: warum wollen die Frauen unbedingt da rein. Sollen doch einfach wegbleiben. Immer wieder beschäftigt einen die Tatsache der vielen Möglichkeiten, wie man alles sehen kann, was da ist. Erstaunt war ich heute früh, als Ashok, bei dem ich jeden Morgen ein paar Blumen hole, in vehementer Laune war und mir erklärte, dass das kein richtiges Fest mehr sei, dass überhaupt alles zu Ende ist, und dass auch der Götterhimmel zu Ende ist. Für ihn war das einfach: Keiner kommt mehr wegen dem Kern der ganzen Geschichte, sie gerät ins Vergessen. Die Regierung nennt das Fest „Kamelfest“, weil es den Tourismus fördert und Kohle ins Land schwemmen soll, und im religiösen Kontext geht es um ein Opferfeuer, das Brahma, der Schöpfer höchstpersönlich, mit ungeheurem Aufwand in die Wege leitet, und einst jedem Pilger Unsterblichkeit versprochen hat, wenn er den Ort gefunden hat und das Notwendige tut. Weil aber zu viel Andrang war (für die Unsterblichkeit) nahm Brahma schlicht und einfach das ganze Dorf in die Luft und ließ es dort hängen. Nur 5 Tage im Monat Kartik, eben jetzt, holt er es herunter, damit das Spiel weitergeht. Der Pilger und die Pilgerin jedoch sind mit ihren Smartphones beschäftigt. Es gibt neue Körperstellungen, die am förderlichsten den Instagram Blick erhaschen, dieses hingerissene Sich-selbst-für-sich-selbst-halten“, ohne den Hauch einer Belastung aus der antiken Sphäre. Wenn die kollektiv verbundene Vorstellungskraft auseinander fällt, ergeben sich neue Gebilde aus den Wahrscheinlichkeiten, Auch schlafenden Göttern mangelt nicht unbedingt eine gewisse Erotik.
Die Trauer kann sich ruhig noch eine Weile bei mir aufhalten, das hängt vermutlich auch nur teilweise von meiner Entscheidung ab. Es ist auch nicht nur mein ganz persönliches Trauern um den einst blühenden Garten der Götter und der Verlust dieses großzügigen, geistigen Ortes, sondern es ist eine Trauer, die keine Grenze sucht und da ist, wenn man sie braucht. Das hat auch nichts mit dem Wunsch zu tun, etwas festhalten zu wollen, was eh schon die Spuren gewechselt hat, und man kann das nennen, wie man möchte: Kali Yuga, Verwandlung oder Ende des Kreislaufs, an dem ein neuer Wirbel sich vielleicht erheben kann, ein Phoenix, aus der Asche dunkler Zeiten geboren, wieder emporgeschwungen in eine neue Runde, wie das Universum halt so seine Unterhaltung formuliert. Und damit es keinem langweilig wird, gibt es die Materialien, mit denen man umgehen lernt. Und wer kann das nicht unterhaltend finden, dass jetzt Frauen auf dem (indischen) Land, ohne ihren Namen schreiben zu können, mit ihrem Smartphone Dinge bei Amazon bestellen, die sie haben möchten. Was kann man nicht alles haben möchten! Sakshi, die gerade geheiratet hat und nun in „Susrals“, der Schwiegereltern Haus, ihre Pflicht absitzt, erzählt mir, dass auch dort die riesige Flatscreen von morgens bis abends an ist. Was vorher verbindliche Kommunikation war, ist nun ein Meinungs-Schlachtfeld oder eine Verstummngs-Kammer. Sieht man das Ganze mit einem humorvollen Blick, ist man als Zeuge/in der Zeit gut aufgehoben. Man nimmt sich das Beste, was eine Kultur einem beibringen konnte (und weiterhin beibringt) ernsthaft ans Herz und erkennt sehr wohl, wie schwierig es ist, wie abenteuerlich, wie permanent überraschend es sein kann, auch nur das Einfachste mühelos und adäquat umzusetzen. Ich meine im Sinne, was man sich selbst gerne zumuten möchte. Trauer hat ein tiefgehendes Wirkungsfeld, wo eine Menge Platz ist. Stan Lee ist gestorben, lese ich in der Times. Ein Schöpfer, der mir auch mal ein Zuhause geschenkt hat.
Auch wenn einem ein Gedanke schon lange vertraut vorkommen mag, schadet es nichts, eines Tages von ihm getroffen zu werden wie ein Blitz, so, als hätte er endlich die Wirkung auf das eigene Wesen, die die ganze Zeit in ihm gelagert war. Manchmal muss man auch genügend vor sich hinreifen, um das ganze Ausmaß eines Erkennens verkraften zu können. So ist es kein Geheimnis, dass die ganze Welt ein Produkt der Vorstellungskraft ist, das ist ihr Reiz, das ist ihr Spiel, das ist ihr Drama, wie auch immer jede/r Anwesende es für sich erfährt und gestaltet. So ist es für mich in den letzten Tagen wie ein schwieriges Erfassen gekommen, dass ich verstehen muss, dass der (unausgesprochene) Wunsch, Hindus mögen aus ihren Götterwelten purzeln und zu sich kommen, völlig irrelevant ist, sondern dass es vielmehr darum geht, dass i c h erkenne, dass ich (für mich) nicht mehr vorhanden bin im Alltag ihres Götterolymps und einen neuen Weg finden muss, damit umzugehen. Ach die wunderbaren Götter, welcher unerschöpfliche Reichtum an Wesenheiten, an Zuständen, an Prinzipien, an hohen Ordnungen und menschlichen Verhaltensweisen. Gut war es, dabei zu sein, ich meine wirklich dabei, einmal mit ganzer Seelenwucht etwas so Ungeheures ans Herz nehmen ohne den Impuls eines zwergenhaften Zweifels. Ich denke, das ist nur möglich in Indien, eben weil es eine Lebensweise ist, die offensichtlich so vielen darin Eingebetteten einleuchtet, dass sie es, wohl oder übel, als ihr Schicksal, ihr Karma, erkennen. Und viel Übel ist da, ziemlich viel Übles, das erschreckt jetzt auch in seinem Ausmaß. Vielleicht ist es da, dass das großgeistig gewebte Tuch an der Naht geplatzt ist, damit mal sichtbar werden kann und muss, was sich dahinter verbirgt. Wenn die finsteren Kräfte sich durchsetzen, reicht es nicht mehr, an die Ohren zu fassen, wie Inder es gern tun, wenn sie als arglose Kinder rüberkommen möchten, mit dem Blick nach oben gewandt in die bevölkerten Himmel, von wo aus alles geregelt wird, wird schon stimmen. Nein, stimmt nicht, das bin nun ich, die es sagt. Als ich dann eines Morgens beim Vorübergehen merkte, dass ich nicht von m i r getrennt war, sondern von ihrem ganzen Sein, da erfasste mich so eine Trauer, dass durch sie hindurch die Liebe zurückkam, die mir ja zugeflossen ist durch sie und ganz viel zu tun hat mit meiner Bereitschaft zu staunen über das kosmische Spiel, das muss doch für mich nicht anders sein, als es ist, auch wenn ich es nun von einem anderen Ort aus sehe. Das fällt ja draußen nicht auf, und muss auch nicht auffallen. Der Strom meiner Liebe und Dankbarkeit reicht noch für ein paar tausend Jahre. Wenn ich die Welt nicht liebe, wie kann sie für mich existieren?
Kaum hatte ich die erste Ausgabe der „Times of India“ vor meine Haustür navigiert, konnte ich einen Artikel lesen von Shobha De, einer indischen Autorin, die ich gerne in der Zeitung lese. Es war so etwas wie ein Aufruf an die indischen Frauen, die MeToo -Debatte nicht einschlafen zu lassen, jetzt, wo doch einiges in Schwung gekommen war. Sie regte auch die Männer an, einmal zu bedenken, was sie unter einer ’schwierigen‘ Frau (a difficult woman) verstünden, und ob es nicht nur die Tatsache sei, dass die Frau neuerdings sagt, was sie denkt, anstatt zu schweigen, versunken in der aktiven Anstrengung, den Gedankengängen des Mannes Folge zu leisten. Anscheinend hat es viel Mobbing und Angriffe gegen die Frauen gegeben, die sich gemeldet haben. Das kann man sich gerade nur in den Großstädten vorstellen, so ein Herauskommen mit all den Geschichten der Dunkelkammern, von denen niemand weiß und wohl auch nie wissen wird, wie lange das alles schon geht, was jetzt so tropfenweise ins Licht der Öffentlichkeit dringt (während ich den Wüstenstaub der Ewigkeiten hochhuste und am Flickenteppich des Seins entlangwebe). Männer und Frauen, die sich vermutlich schon vor den Epen fremd und staunend gegenüber standen, ohne sich auch nur vorstellen zu können, wie man so anders sein kann und die Welt als ein anderes Geschlecht erfahren. Man möchte gähnen und geistige Übermüdung vortäuschen können. Hat uns der Gott Shiva (als „Ardhanarishvara“, heißt: der Mann, der halb Frau ist), denn nicht beigebracht, wie elegant man beides sein kann, links Frau, rechts Mann, oder war es umgekehrt? Mal die goldene Kutsche als Mann lenken, dann mal als Frau. Ein Mann aus dem ehemaligen Sindh erzählt mir, dass nun auf den Dörfern so ziemlich jede Frau ein Smartphone hat und sozusagen in der Selbstbildung unterwegs ist. Als ich ihn und seinen Sohn frage, was sie so von der MeToo-Debatte halten, da haben sie noch nicht davon gehört. Sie benutzen ihre Phones, informieren sie mich, vor allem für Business, da bleibt wenig Zeit für Weltunterhaltung. Auch eine Tochter und der Sohn müssen noch verheiratet werden (die Stimme ebbt ab zu sorgenvoller Schwere), er ist schon am Ausschauhalten, der Vater, in der Gruppe der heiratsfähigen Menschen aus dem ehemaligen Sindh.
Links sieht man Hanuman, den Affengott, was Tiefes studieren, und rechts einen Auschnitt des Bildes von gestern, das birgt gerade eine gewisse Verbindung für mich. Zwischen dem gemalten Bild und dem von Hanumann, das ich gerade bei meiner Morgenrunde unter einem Baum entdeckt habe, habe ich eine überraschende Erfahrung mit mir selbst gemacht. Plötzlich hatte ich das Gefühl, wirklich anwesend zu sein, so, als wäre ich vorher herumgelaufen wie eine Hülse, die mühelos dahingleitet durch die vertrauten Wege, aber getrennt ist von allem mich Umgebenden. Der Hinduismus ist eine einzige, grandiose Zumutung. Ja, es wird als „Dharma“ bezeichnet, was auch mit Religion übersetzt werden kann (auch mit Recht und Sitte, Ethik und Moral), aber es ist eben keine Religion, sondern eine Art zu sein, hier wirklich auch zu verstehen als „Kunst“ zu sein. Was mich wieder verbunden hat damit, war, meinen eigenen Ort darin wieder zu finden, das, was ich daran und darin liebe, das, was mir in all den Jahren zugeflossen ist und durch meine Adern geströmt, und durch was ich geworden bin, was ich bin. Ich selbst bin durchdrungen und geschult von dieser gnadenlosen Anarchie mit den hohen Ordnungen, beides immer spürbar wie Tore im Gewebe des Alls. Hier ist mir gelungen und ermöglicht worden, meine Fremdheit in den kosmischen Zusammenhang zu bringen, ein Geburtsvorgang im besten Sinne des Wortes. Auch da hat niemand eingegriffen in meine Entwicklung, aber ich konnte sie selbst gestalten und habe sie reichlich genutzt, die Chance, noch einmal geboren zu werden, jetzt im Bewusstsein angebotener Möglichkeiten, die nicht in die Leere liefen. Das Erfahrungspotential war mächtig. Vom Leichenverbrennungsplatz bis zu den verborgenen Orten Shivas war alles an eine Realität gebunden, die ihr eigenes Wesen hatte und hat. Nun bin ich nicht mehr bei ihnen in den Götterwelten, das fällt nicht weiter auf und wer sollte sich darüber Gedanken machen? Jeder bei seiner oder ihrer Lieblingsgottheit im großen „As you like“. Und ich kann ja nicht, nur weil ich ohne Götter umhergehe, so tun, als müssten alle erwachen von einem Alptraum, nein, ich muss nur bei mir bleiben und mich erfreuen an der farbenprächtigen Maya, so wie Ramakrishna, der Weise aus Kalkutta, mal gesagt hat, als Vivekananda ihn mitnahm zu einer ‚Function‘: „Ja, was haben die denn!? Die Maya ist doch ganz hübsch.“ Und so ist es, sie ist unterhaltsam, und man kann auch ganz gut durch das Gewebe schauen, wenn es einen interessiert, was sich dahinter abspielt, oder auch nicht. Aber ganz in der Irgendwo-Tiefe, und noch ein Stück tiefer, wo es wieder ins Oben geht, da ist doch noch derselbe Ton, dem ich lausche: mein Symphonie-Orchester, meine Stille, mein Wesen.
Auf das Gedicht von Gabriela Mistral (gestern im Blog) bin ich durch den sogenannten puren Zufall gestoßen und kann nur sagen, dass es mir auf eine Weise stimmig schien. Ich dachte an die Kinder in den Kriegen und auf den Fluchtwegen, und an mich als Kind, und an die vielen Kinder, die hier in der Gegend herumstreunen oder auf Bettlerarmen sitzen und noch keine Ahnung hegen über ihr Schicksal. Als ich zuerst am See ankam, war ich auch wie ein Kind, das unversehens und arglos in sein Schicksal stolpert und es als großen, leuchtenden Garten wahrnimmt, in dem ein Platz für seine Anwesenheit vorhanden ist, ohne dass es jemand infrage stellt. Dieses Kind meldet sich manchmal und blickt dann hinaus auf das Ganze und in die zwei Ursprünge meiner Anwesenheit. Zwei Geburten: eine westliche inmitten von tiefer Dunkelheit, und eine östliche mit ziemlich viel Licht. Mir schien damals, als wären die Brahmanen tatsächlich die Hüter der universellen Geheimnisse und strebten mit aller Kraft danach, einen hellen Tag zu erschaffen durch ihre eigenen Mühen. In mir muss ein Unermüdlichkeitsgen stecken, das nicht nachgelassen hat, bis wirklich das ganze Gedankenkonstrukt auf natürlichem Wege ein Ende fand. Auch an den Feuern mit den Sadhus, den Mönchen, habe ich keinen Schaden genommen. Man nimmt keinen Schaden, wenn einem die Sache ernst ist. Es gibt sie, die kristallklaren Ideen, und es gibt ihre unzähligen Varianten der Durchführung. Was einem Menschen möglich ist, und was nicht. Das Kind hat viel damit zu tun. Kann es unversehrt bleiben, kann es geheilt werden, kann es sich wieder verbinden mit dem, was war, bevor die Abenteuer begannen und die Prüfungen, und die Überraschungen, und die Schrecken, und die unendlichen Anstrengungen des Daseins, ob man es nun selbst bewusst gestalten will oder nicht. Ich erkenne mich jetzt selbst an meinem Blick: wie er frei geworden ist davon, das Innere im Außen zu suchen. Das Staunen aber und die Liebe im Blick, die sind nicht verloren gegangen, man möchte danken, nur wem. Vielleicht erschafft sich deshalb in Momenten von mystischer Anmut der Pinsel die Hand einer Segnung, und spürt am Hinterkopf noch den Hauch sanfter und vertrauter Berührung.
Spielen wir, komm, mein Kind,
König und Königin!
Dies grüne Feld ist dein.
Wem soll es sonst gehören?
der wogende Klee,
für dich muss er sich wiegen.
Dies ganze Tal ist dein.
Wem sollt’ es sonst gehören?
Damit wir sie genießen,
werden Äpfel honigsüß im Hain.
(Nein, nicht wahr ist’s,
dass du frierst wie das Kind von Bethlehem,
dass deiner Mutter Brust
vor Schmerz versiegt!)
Dem Schäfchen wächst die Wolle.
Für dich wird man spinnen das Vlies.
Dein sind die Herden, die Schafe.
Wem sollten sie sonst gehören?
Und die Milch im Stalle,
die in den Eutern fließt,
und die Garben des Korns −
wem sollten sie sonst gehören?
(Nein, nicht wahr ist’s,
dass du frierst wie das Kind von Bethlehem,
dass deiner Mutter Brust
vor Schmerz versiegt!)
Ja, spielen wir, Kind,
König und Königin!
Übertragen von Albert Theile
‚Wer (es) glaubt, wird selig‘, war sicherlich einmal ein ernstgemeinter Spruch und beinhaltet ja auch für viele Menschen eine gewisse Dosis an Wahrheitssubstanz. Als mich mein Schicksal hier ans Ufer geschwemmt hatte, konnte ich davon auch einiges genießen, und bis heute erklärt sich nicht alles mit einfachen Worten, wie das, was man als nackte Wahrheit selbst empfindet, einen geistig steigern kann bis in die Tiefe des Unvorstellbaren hinein. Eben, die Vorstellung erweitert sich ins Nicht-Gekannte, das ist attraktiv und zieht vor allem auch in ein förmliches Oben, auf dem weitere Ordnungen herrschen. Das Gläubige hat mich nie angezogen, aber das Wissensvolle schon, das hier in Indien sehr großzügig und weiträumig gehandhabt wird, und es braucht schon entweder eine lange, hingegebene Reise im Inneren der Kultur, oder einen Sherlock Holmes Riecher, am besten aber beides, um das Eine vom Anderen zu unterscheiden. Das Gedruckte vom Ausgedrückten, das Geglaubte vom (noch) nicht Gewussten, das rechtschaffen Erschaffene vom unantastbar Gehandelnden. Ich muss auch sagen, dass ich mich in diesem Land nicht nur über die Reling meines Schiffes gedehnt habe, sondern habe jeden Zugang zu einem Anker hinter mir gelassen für eine Weile, die zeitlich nicht vorhersehbar war. Das war eine Arbeit ganz nach meinem Sinn, hier unter dem Schutz der Bevölkerung die (weibliche) Feuerstätte hüten zu können und wirklich ganz im Drin drin zu sein, da gab’s keinen Ausweg mehr. Und es kann einem selbst sehr schwer fallen zu glauben, ja, zu wissen!, dass es noch immer dieselbe Weile ist, und man selbst noch drinnen im Drin. Ja, ich sitze nicht mehr morgens im Brahma Tempel auf dem Marmortisch herum als geliebtes Schöpferkind und schreibe in mein vedisches Notizbuch, und Shiva, ja, der Yogi und der kreative Liebhaber, und der Störenfried in Brahmas Yagya, immer noch das Opfeuerfeuer von Brahma, wie kann das aufhören. Aber alles ist wie ein kostbarer Umhang geworden, den ich trage, unsichtbar, wie er nun mal ist, und all diese Geschichten sind in ihn eingewoben und haben mich zu diesem Stuhl gebracht, an diesen schweren Holztisch, zu diesem Blick hinaus an den See, wo die Priester das, was ihnen wesentlich erscheint, an die Pilger und Pilgerinnen weitergeben.
Gut, denke ich mir, sie haben halt i h r e Geschichten, ich habe meine. Man sieht an den Bildern, dass das ganz gut zusammenpassen kann, allerdings nur über die Anwendung einer weiteren Kunstform, der Photographie, die wiederum die unglaubliche Präsenz des Rituals nicht erfassen kann, von dem wir rechts im Bild einen Ausschnitt sehen, nämlich ungefähr hundert kleine Kuhdungfiguren in Menschengestalt, die vermutlich die Leute darstellen, die Krishna rettete vor der Eifersucht des Bruders seiner Mutter. Diese Geschichte lasse ich mir (nochmals) von zwei indischen Touristen erklären, denen nichts lieber ist, als einem Fremdling ihr Wissen weiterzugeben. Mich verblüfft, mit welchem Leuchten in den Augen der Eine von Krishna spricht, als hätte er ihn gerade erst verlassen und wäre noch ganz durchglüht von seiner Präsenz. Nicht der Hauch eines Zweifels darüber strömt durch seine Stimme, dass Krishna, der Gott der Liebe, diesen Berg Govardhan auf seinem kleinen Finger mit allem Drum und Drauf aus dem gegen ihn erzeugten Unwetter getragen hat. Auf der anderen Seite dieser von wilden Abenteuern durchwogten Epen der erweiterte Körpertei des neuen Inders: das Smartphone als purer Machtfaktor einer sich selbst langsam aber sicher entfremdenden Welt. Noch nie habe ich so viele Menschen anderen Menschen Befehle geben sehen, es sind Selfie-Befehle, unter denen jede/r zu der vom photographierenden Diktator gewünschten Maske erstarrt, und das vielfach geübte Gruppenselfiegesicht prägt sich ein in die Lebensspur. Manchmal sehen Menschen auf ihren Bildern so pepostet aus, dass sie sich gar nicht mehr ähnlich sehen. Ja und dann diese alten Geschichten, sie sind noch ganz. Darin ist der ganze Mensch noch enthalten. Das ist Stoff, der nahtlos durch die Ahnengalerien gerieselt ist, das geistige Band, das ein Volk lange zusammenhalten kann, bis eines Tages….ja was?…am Netzwerk rüttelt und sagt: wach auf? Wach auf zu was? Kein Gott der Liebe mehr weit und breit? Da sieht man erst, wie weit der Weg sein kann zu sich selber. Das macht selbst den kühnsten Wanderern zu schaffen. Wanderer aber können auch Krishnas Hand annehmen und weitergehen, denn er war ja nie weg, genau wie die Anderen auch nie weg waren. Alles und alle waren immer da, und so entstand wahrscheinlich diese Idee von einem Kreislauf, in dem bestimmte Dinge vorkommen zu bestimmten Zeiten, und wenn man die Zeichen erkennt, kann man sich wachsam um den Umgang damit kümmern.
Das ist meine ganze Bildauslese des gestrigen Festtages und gibt eine schöne Anregung dessen, was noch scheint: die edlen Gesten, die ernsthaft durchgeführten Rituale, das Öl-Lichterflackern. Im Markt habe ich diese Blüte gefunden und mir eingesäuselt, dass es eine Lotusblüte aus der alten Zeit sei, mich aber auch an der Wasserrose erfreut. Das Spiel hört ja nicht auf, nur weil es auf einmal so viel Duplikates gibt, was als Original angeboten wird. Da will man nicht weiterhin so streng trennen nach außen hin, damit es keinen unnötigen Ärger gibt. Nach innen hin muss erst verstanden werden zwischen trennen und nicht trennen, auch trennen können, auch Trennung aufheben und Getrenntes spüren können. Und das Verbindende und Verbundene zulassen. Den ganzen Morgen schon knallt es draußen ununterbrochen, die Tiere sind am Zittern, aber gnadenlos werden die Knallkörper, die nachts nicht zur Geltung kamen, nun am Tage abgeschossen und aufgebraucht. Irgendwann geht auch das vorüber, und wer kann schon sagen, was schon immer so war, oder wo das Ganze ins Unerträgliche hinüberschiftete, wo man vom Leidenszwang selbst gefordert wird, so als müsse sich jeder sprachlos einfügen in die kollektiven Lösungen. Auch hat es oft mit Lösungen gar nichts zu tun, sondern es sind Auswüchse, die durch das fraglose Zugeständnis an das, was sehr viele Menschen als „normal“ deklarieren, gemacht werden. Deklarieren ist vielleicht zu viel gesagt, eher einfach alles mitmachen, was sich ergibt, und es ergibt sich immer sehr viel. In Fledermauszeiten ist es eben genau umgekehrt: die Stille ergibt sich dem Lärm, das Wissen der Unwissenheit. Ein unheldenhaftes Ergeben, einfach so. Midterm der Menschheitsgeschichte, in der jede/r auf einmal am Anspruch teilhaben kann, ein Mensch zu sein, und dann was für einer, und wofür. Einer der reichsten Männer im Dorf ist letzte Woche gestorben, und Ashok baut sich vor mir auf und sagt, er hätte eine Frage an mich, ja was nütze es denn jetzt, so viel gehabt zu haben? Solche Fragen beantworte ich nicht. Wer weiß schon, wieviel er davon gehabt hat, und ob er ohne mehr gehabt hätte. Dass wir aber Aussage machen über uns mit Schritt und Tritt und Blick, das ist bedenkenswert, und ob es doch einen Weg gibt, dem Ungewissen freundlich und wachsam entgegen zu gehen.
Zu Diwali, dem Lichterfest, das dieses Jahr mit meinem Geburtstag zusammenfällt, habe ich mir ein Gruppen-Selfie gepinselt, ein paar meiner Ichs, die zusammen herumstehen, bevor ihnen diverse Dinge einfallen können, die zelebrierbar sind. In den neun Jahren, die ich einmal in Nepal wohnhaft verbracht habe, hatte die damalige Königin auch am 7. November Geburtstag, und das zelebrierende Land war hell erleuchtet. Leider werden an Diwali auch gerne Raketen gezündet, alle lieben Feuerwerke und Raketen, Hauptsache, es ist laut. Laut ist das neue Leise, und nach wie vor gibt es das Auge im Wirbelsturm, wo man sich aufhalten kann. Oder furchtlos hinausgehen und teilnehmen an dem, was einem möglich ist, der Liebe gedenkend, die einem aus großmütigen Herzen geschenkt wird. Frühstück bei Freunden einnehmen, dann ein paar symbolische Süßigkeiten für die Familie weitergeben, die mich hier so wohlwollend aufnimmt und einen Schutz bietet, der vor allem aus einer angesehenen Brahmanenfamilie kommen kann ohne Einschränkung. Auch von der zweiten Kaste, den Rajputs, habe ich schon Schutz erfahren, es sind Krieger und gerne Helden und haben früher die Brahmanen finanziell unterstützt, deren Arbeit aus der Durchführung komplexer Rituale bestand. Ich habe (leider) nie jemanden getroffen, der darin Meister oder zumindest Kenner genug war, um Einblick zu erhalten in die stark mystifizierte Präzision ihres Wissens. Auf jeden Fall ist Donald Trump leichter wegzudenken als das Kastensystem, und alle aalen sich förmlich auf ihrer zugeschriebenen Ebene, mit den Vorteilen, die sie daraus gezogen haben. Der Blick ermüdet an all den akzeptierten Seins-Lagen, bis hinunter und weit über die Schmerzebene hinaus, wo es einen auf einmal aus dem Strudel wieder hochzieht, und man dann wieder durchatmen kann und z.B. dem exzellenten Trommler vor dem Fenster lauschen, ein Sohn von Nathu, dem Trommler aus einer der niedrigsten Kasten, der durch seine Kunst die Welt bereist hat, weil es für Foreigners keine Rolle spielt, wo er herkommt. Das Zusammenspiel hat auch einen guten Einfluss auf die Geschehnisse. Ständig fallen gigantische und vereiste Meinungsbrocken ins Weltmeer, ein Auseinanderbrechen und Aufbrechen ohnegleichen, und schnell, sodass jede/r Einzelne aus der sich für ihn oder sie ergebenden Position heraus schauen muss, wie dieser Vorgang am besten zu handhaben ist. Das war zugegebenermaßen nicht viel Diwali oder Geborensein-Geschichte, aber ein Dipak (Diwali Lichtlein) lässt sich (außer meiner roten Lichtkette) sicher noch auftreiben. Oder ich setze doch noch ein Bild rein von der Lichterkette am Fenster, der Atmosphäre wegen. Ist ja erst früher Morgen und der Tag noch lang.
Alles ballt sich energetisch zusammen auf das wichtigste hinduistische Fest zu: Diwali, das Lichterfest, wo, symbolisch, versteht sich, der Sieg des Lichtes über die Dunkelheit, und der Sieg des Guten über das Böse, und Victory! des Wissens über die Ignoranz gefeiert wird oder werden sollte, denn wenn von der indischen Bevölkerung nur eine einzige Milliarde sich diesen Sieg erringen würde, gäbe es einen universellen Bewusstseinsschub ohnegleichen, nicht auszudenken.. Dafür wird Anbetung von Laxshmi, der Göttin des Reichtums, tierisch ernst genommen, denn es ist sie, deren Gunst sie alle brauchen, wir alle brauchen, denn ohne Goldmünzen nix zu kaufen, und auch kein Flug nach Indien. Ein Priester fragt mich, wie es mir so geht, ich sage „happy to be here“, er sagt „ah ja,“ happy Diwali“, Hauptsache happy, und jeder hört eh, was er möchte, und sieht, was er kann. Die Entscheidung liegt bei einem selbst, was man beim Hören und Sehen erfassen möchte, das kann sehr vielseitig und vielschichtig sein. Wenn die Farbe aus dem Pinsel rinnt, sind sie die Mittel, durch die die nächste Bewegung zustande kommt. Auf vieles muss verzichtet werden, nicht alles eignet sich zum Entstehen. Aber wer dirigiert das Entstehen, wo und wann ist der Moment, in dem man sich einlässt und Dienste anbietet, die behilflich sind bei der Schöpfung. Und was geschieht, wenn das Licht tatsächlich über das Dunkel siegt? Ist es nicht so, dass dann alles eher natürlich erscheint, jedem und jeder auf eigene Weise? Es gibt doch Reden, Worte und Gedanken, die leuchten einem förmlich ein, so als gäbe es in der Tat ein Menschsein, das für einander verständlich ist. Auch Symbole können Kraft entfalten, aber nur, wenn der Sinn, der sie einmal getragen hat, noch aktiviert werden kann. Diwali, das heißt auch eine Aneinanderreihung von Licht (symbolisiert durch kleine Öllampen mit Baumwolldochten). Also keine Müdigkeit vorschützen! Aneinanderreihen, was geht, sozusagen einen guten Nu an den anderen.
Das Bild könnte man natürlich so sehen, als streckten sich die Arme gen Himmel, es ist aber eher eine Schwimmbewegung durch den eigenen Schleier des Verborgenen hindurch, am ersten Morgen hinaus in die öffentliche Runde (im weitesten Sinne des Wortes). Im engen Sinne des Wortes drehe ich auch in Deutschland gerne morgens eine Runde, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Obwohl auch dort jederzeit etwas Unvorhergesehenes passieren könnte (ein aus dem Dickicht hervorbrechender Eber? Einer der neuen Wölfe?), so ist es hier eher ein wagemutiges Abenteuer, dem man es nicht gleich ansieht. Kaum habe ich die ersten Brahmanen hinter mir gelassen, stürzt ein Rudel Hunde in meine Richtung, mindestens zehn. Beruhigt sehe ich, dass eine junge Frau sie füttert und streichelt, wir unterhalten uns kurz über Hunde und Katzen. Ansonsten: glitzerndes Wasser, überall lagern schon Sadhus (Mönche) an guten Plätzen, denn nun kommt am 7. November Diwali, das Lichterfest, und danach das Kamelfestival, da fällt für jeden reichhaltig was ab. Alles an mir scheint automatisch zu funktionieren, das muss die Zeit sein in meinen Adern, die sich an sich selbst erinnert. „Kal“, die Zeit auf Hindi, heißt „gestern“ und „heute“, man kann es nur von der dazugehörigen Grammatik abhören, was gemeint ist. Zeit ist, was zwischen gestern und heute relativ gelassen vor sich hinströmt. Allerorten ist orangfarbene Kleidung zu sehen, ursprünglich eine Farbe, die bekunden soll, dass man sich aus dem Täuschungsmanöver der Illusion herausbewegen will, auch wenn heutzutage selten verlässliches Wissen oder Praxis unter Sadhus vorzufinden ist. Was ist verlässliches Wissen? Vielleicht bleibt am Schluss so wenig davon übrig, dass die Füße erleichtert zu tanzen beginnen. Man gibt die mitgebrachten, goldenen Luftballons an vorprogrammierter Stelle ab, dann die Vollmilchschokolade mit den Nüssen, dann ein Fläschchen Parfum für den jungen Brahmanen, der es kaum fassen kann, dass ich seinen Wunsch nach einem westlichen Duftfläschchen nicht vergessen habe. Geschafft! Und zurück durch das große, hölzerne Burgtor. Natürlich liegt vor allem morgens so ein eiserner Wille zum Frieden über dem Ganzen, und jeder, dem ich begegne, ist froh, dass ich sage, dass es mir gut geht, so, als stünden sie alle psychisch auf der Kippe und jede weitere Anforderung könnte sie umhauen. Dünn ist er, der göttliche Strohhalm. Dabei gab es immer schon die genialen Essenzen. Einfach leben, hoch denken, das lief doch ganz gut einst, als die Öllampen noch brannten und die Geschichtenerzähler unterwegs waren. Deswegen lächeln wir uns alle freundlich zu, denn es ist ja kein Geheimnis, dass dies das berüchtigte Zeitalter der Dunkelheit ist, wo die Werte verkommen und die falschen Könige auf künstlichen Thronen sitzen. An jeder Ecke wird gebaut und gebastelt und auf das Vorhandene noch zwei Stockwerke draufgesetzt, für alle Fälle. Das vorübergehende Staubkorn im All, dass wir auch sind, staunt über den riesigen Einsatz an Kraft für das flüchtig Bestehende. Die Pilger bewegen sich an den Ufern der Welt auf der Suche nach dem segensspendenden. Irgendwo und dem Irgendwas vom Irgendwem.
Das ist eine Frucht, bzw. ein Gemüse, das ich nur aus Indien kenne, und das nicht einmal bei Lord Google zu finden ist, und heißt Zingara. Von außen hat es tatsächlich etwas Zigeunerhaftes, wenn man „Zigeuner“ mit „unheimlich“ verbinden will. Dann bricht man die Schale, die sich leicht von der inneren Substanz löst, und voilà, hat man ein weißes Herz vor sich, neutral im Geschmack, aber saftig und voller Wasser, so dass man erfrischt wird und immer mehr davon isst. Eine wahre Freude, dieses Herausschälen des Inneren, vor allem, wenn es so eine angenehme Überraschung ist. Es ist gerade das teuerste Gemüse auf dem Markt: 50 Rupien das Kilo, sogar ich zögere einen Moment, auch wenn ich wissen sollte, dass das ungefähr 80 Cent sind. Je gründlicher man eine Tradition versteht durch ständige Berührung mit ihr, desto einfacher wird der Umgang, wenn man dafür geeignet ist: eine Gratwanderung zwischen freiwilliger Anpassung, wo sie für die eigene Entwicklung förderlich und nachvollziehbar erscheint, und einer soliden Treue zur eigenen Wahrnehmung und ihren Schlussfolgerungen. Ich bin jemand, der authentische und offene Begegnung zutiefst wertschätzt, aber ich schätze auch sehr den einsamen Raum, in dem man nicht allein ist, sondern weit über die Wüste hinaus verbunden, und im Genuss des eigenen Reichtums. Wenn ich hier im Haus ankomme, kümmere ich mich, sobald es die anderen Erforderlichkeiten erlauben, um den riesigen Tisch aus schwerem, kostbarem Holz. Das ist das Feld meiner Handlung. Nachdem ich die Fläche entstaubt und mit (bestem) Olivenöl eingerieben habe, breite ich die Materialien aus, die mir am Herzen liegen. Menschen liegen dort auch entspannt herum, aber es ist auch Raum für Materialien. Kurz vor meinem Flug habe ich neue Pinselsubstanzen eingekauft mit einer stolzen Rechnung und dem herrlichen Gefühl, mit exzellenter Ware zurückzukommen. Schon auch ein Rauschkauf, diese vielen Porzellangefäße mit den Substanzen, das gebrannte Umbra gar in einer kleinen Porzellanbadewanne mit Pinselablage. Dann die Papierumhüllungen gelöst, dann Wasser und den feinen Pinsel die Farben erforschen lassen. Es hat durchaus etwas Ekstatisches, dieses geheimnisvolle Potential, dem man ausgeliefert ist wie eine Süchtige. Gestern dachte ich zum ersten Mal, dass es mir gar nicht so sehr um das Resultat geht, sondern vor allem um die Erfahrung auf dem Weg dorthin. Allerdings schätze ich auch den Kampf, der mit der Abrundung der Dinge zu tun hat Zweifellos ist es nützlich, zu erkennen, was man produziert. Dann gibt es die anderen Erforderlichkeiten, die ausgleichen, das nie gehemmte Staunen über die funktionierenden Maschinerien: das Internet, die Waschmaschine, das Moskitovertreiberglas, das man in die Steckdose steckt. Künstliches Licht ist auch wichtig. Alles sollte angenehm geflutet sein, bei mir hier, meine ich, in der EinsiedlerInnen-Hütte.
OmJi, der Vater des Hausbesitzers, fragt mich, ob ich meine Runden am See schon begonnen habe. Nein, habe ich nicht. Ich schiebe es auf die Entstaubung des Hauses, die ich schon hinter mir habe. Im Moment kann ich mir vorstellen, tagelang hier drinnen in der Geräumigkeit des Ortes zu bleiben, umgeben von den vielen Geräuschen, vor allem die Jauchzer der Pilger im Wasser (heiliges Bad), die Zurechtweisungen der Brahmanen, dann der aufgezwungene Gottesdienst mit ihnen, und die energischen Worte der Foreigners: neiiinn! Keine Blume! Schon in „Lonely Planet“, der ehemaligen Foreigner-Reise-Bibel, warnte man vor der Blume, die einen in die Puja (Gottesdienst am Ufer des Sees) zwingt, wo gerne gedroht wird mit Ahnenverfall, wenn nicht genügend Dollars fließen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Kultur-Schock gehabt zu haben, aber geschockt sein ist immer wieder mal möglich. In der Tat kostet es ungeheure Mühe, Illusionen aufrecht zu erhalten. Ohne Worte und ohne greifbaren Übergang können sie zur Realität deklariert werden.Vor sich selbst, versteht sich., denn bei den Anderen ist das immer leichter zu erkennen. Noch ein bis zwei Tage drinnen bleiben, sagte ich mir also, obwohl ich wegen praktischen Erledigungen den Bazaar schon durchkreuzt habe, Handy aufladen, Identität registrieren lassen, Frühstücksmaterial holen, alles so, als wäre ich nie weg gewesen. Auf „RamRam“ übergehen, den hier üblichen Gruß, obwohl es eine Unmenge von Grußformen gibt, denen man sich bedienen kann, um klar zu machen, welcher persönlichen Gottheit man sich zugehörig fühlt. Was mich betrifft, so gehen die BewohnerInnen von allem Möglichen aus und kommen nicht auf die Idee, etwas zu hinterfragen. Das lässt mir viel Freiraum für Anwesenheit. Dann kam gestern Abend noch ein furchterregendes Geräusch auf, das sich ins Bedrohliche steigerte. Gerade rechtzeitig konnte ich beim Hinaustreten aus der Tür noch einen Menschen mit Mundschutz erkennen, der dann in einer riesigen, weißen Wolke verschwand. Ein Giftversprüher. Ich hatte schon gehört, dass die Reisebüros eine Warnung herausgegeben haben, dass das Dengue-Fieber umgeht. Das gehört auch für uns Fremdlinge zu der Indien-Erfahrung: die im Subtilen gehaltene Panik wegen diesem oder jenem Ausbrechenden. Die Bereitschaft, mit Tonnen von Gift (DDT?) um sich zu sprühen, und dann der Mann mit dem papierenen Mundschutz!, und weiter geht’s. Die Glocken bimmeln, die Pilger singen. Sie sind glücklich, dass sie es geschafft haben, heil hier anzukommen am Nabel der Welt, wo Brahma mit seiner Schöpfung beschäftigt war. (Bzw. i s t).
Wenn Menschen aus einer anderen Kultur als der eigenen einen mit „wieder zuhause?“ begrüßen, weiß man, dass man, so gut es eben geht, aufgehoben ist. Ich lebe nun eine Weile in einem eigenen Haus, alles da, was der Mensch so braucht: eigener Raum, wo man sich vom Draußen erholen, auftanken und d i e Arbeit tun kann, für die man geeignet ist. Dann eine Küche, wo man sein eigenes Essen fabrizieren kann, dafür der (teure) Gas-Tank, dann einigermaßen bekömmliches Wasser und, das ist schon Luxus: ein Eisschrank. Auch eine Toilette natürlich, das kann man schon mal erwähnen, wie es noch „vor Kurzem“ undenkbar war für die meisten Hindus, eine Toilette in Nähe des Wohnbereiches zu haben. Ich kenne noch den sternenübersäten Gang in die große Wüste, für Frauen immer ein unheimlicher und gefährlicher Ort. Viele haben jetzt all das, was vorher undenkbar war. Auch dadurch erweitert sich Denken, und immer kommt es darauf an, was man dann damit anfängt. Und es werden immer noch Füße von Menschen, denen man Respekt zeigen will, mit Fingerspitzen berührt. Tradition kann schön und edel sein, wenn es nicht zwanghaft wird. Als zwanghaft, denke ich, kann es nur empfunden werden, wenn Menschen (endlich) ausbüchsen wollen aus den starren Ritualen, wo der Mensch nur noch für die Durchführung dieser Rituale eingeschätzt und geschätzt wird. Meine Tür zum Draußen bleibt noch ein bis zwei Tage halb geöffnet, oder halb geschlossen, wie man’s nimmt. Ich lausche den Stimmen. Brahmanen, die Befehle geben. Sie toben ihre Heimfrustrationen an den badenden Pilgern aus und verlieren zusehends ihr Halbgottbewußtsein. Die digitale Revolution hat jede Kaste erreicht, und jeder Sweeper (aus der Kaste der Kehrenden), weiß inzwischen, wie man sich Zeug schicken lässt von Amazon und anderen Anbietern, aber das System selbst hält verbissen fest an seinen Machtansprüchen. Die meisten Planetenbewohner denken nicht daran, von ihrer Macht abzulassen, so, wie man auch von der Ich-Verhaftung nicht verlangen kann, dass sie sterben will. Alles will leben und sich selbst auf der Reise erfahren, isn‘ it? Inzwischen streife ich im Haus herum mit meinen Blicken und sehe überall meine Pinseleien in den Wänden. Wenn es nicht der Monsoon ist, der pinselt mit den eigenen Wasserfarben, dann ist es der Stein, der schon durchgepinselt ist. Was soll man tun? Überall, wo man auftaucht, muss man dafür sorgen, dass man lebendig bleibt und nicht zu viel Störung verursacht. Ich schätze eine großzügige Erfahrungsbreite zwischen der Wahrnehmung von Tragödie, wenn möglich mit einem Schuss Humor, das Zusichnehmen des Schicksalsnektars sozusagen. Das Beisischsein im Verlauf des Geschehens.
Da sind sie wieder, die außerordentlichen Berufe, die sich von meinem verborgenen Ort aus wahrnehmen lassen als Beobachterin des in diesem Rundblick Vorhandenen. Links ein Kameldekorateur im Schmuck der Kamelfestivitäten, rechts der noch unbemannte Laden eines Erdnussverkäufers. Erfreut sich das Auge an vertrauten Dingen, die bald nicht mehr sein können und dem kaum mehr steuerbaren Verkehr weichen müssen? Noch winden sich Motorräder, Rikshas, Kamele und fahrbare Läden umeinander herum, und Straßen werden erweitert und asphaltiert über dem Sand, den ich noch ohne Plastiktüten kannte, was der Vorstellung langsam abhanden kommt. Neue Illusionsgebilde entstehen und man kann weiterhin staunen, mit welchem Eifer alle daran teilnehmen, so, als hätte ein Gott tatsächlich die Fäden in der Hand, denen man sorglos folgen kann, weil er immer weiß, was für Menschen gut ist. Aber die Dinge, die für Menschen nicht gut sind, häufen sich. Das ruft einige Geister wach, kein Zweifel, aber es ist ein langer Weg von diesem Zweifel hin zu einer Selbstbesimmtheit, die für das Individuum klare und förderliche Dinge entscheiden kann, auch wenn der Rest der Welt in die andere Richtung zu strömen scheint. Die Ebene der Illusionen ist mächtig, und es braucht für jede/n Einzelne/n die notwendige Ernüchterung der Erfahrung, den Schmerz, die tiefen Schichten des noch nicht Erfassbaren, um Illusion überhaupt zu erkennen, deren einzige Macht es ist, sich als etwas Reales darstellen zu können. Wer hat das alles erschaffen? Die Epen, die Gesetze, die scheinbar unbeugsamen Ungleichheiten, denen sich Menschen unterwerfen müssen, weil es in ihrer Tradition als gegeben angesehen wird. Die Entwirrung der Fäden ist ein langer Prozess, und letztendlich bleibt den Einzelnen nichts anderes übrig, als sich auf sich selbst zu besinnen oder in einen gefährlich gewordenen Sog der Gesellschaft zu geraten, der in Richtungen mitzieht, die niemand mehr nachvollziehen kann. Ich selbst ordne mal wieder die rollende Reisetasche und mache mich am späteren Nachmittag sichtbar in einem Tuc-Tuc, wie wir sie nennen, eine motorisierte Riksha, auf den Weg ans andere Ende des Dorfes, ausgeruht und für alles Erforderliche bereit.