Skip to content
Das Gelöste im Unlösbaren finden
Collage:
Claudia Maria Brinker
Gestern, am Samstag also, hat es zum ersten Mal geschneit. Am Morgen war sie, Claudia, noch am Leben, aber über Nacht war etwas Neues geschehen. Sie versuchte zu reden, aber ihre Worte waren nicht mehr zu verstehen. Auch der Wunsch nach Verstehen kann sich mal zurückziehen – ah, wie vorzüglich, keine/r, der weiß, wie es geht, und doch geschieht alles wie von selbst. Aus dem eigenen Selbst also fließt es heraus und ist mit dem, was geschieht, in Verbindung. Am Schluss, wenn die Sterbenden nach ihrem Ausweg suchen, dringen keine Gefühle mehr in ihr Außen. Wir sind dann das Außen, das für weitere Gestaltungen zuständig ist. Aber zuerst kommt der Moment, wo ein Mensch seinen oder ihren letzten Atemzug tut. Der kam dann, wie immer doch überraschend, denn das ist er (oder sie), der Tod, (la mort), so konsequent radikal, sodass hier (zum Beispiel) die Spielerin keine Geschichten mehr erzählen oder deuten oder mitbringen kann. Nichts kann sie berichten von dem, was sie innerlich sieht, und auch die Augen selbst bleiben zurück. Und obwohl der Tod auch unser/e Begleiter/in ist, drehen wir um mit den Nachen und fahren in eine andere Richtung als die, die gerade aus unserem Feld entschwunden ist. Und nun gibt es Hörenswertes: im Sterbeprozess, (erzählte sie einem gemeinsamen Freund am Telefon), hat sie ihre glücklichste Zeit erlebt. Alles, was an Wünschen noch übrig blieb und d a s, von dem immer etwas gefehlt hatte, das zog sie nun an sich wie ein Magnet. Und als sie, der Magnet, nur noch im Bett lag und vollkommen abhängig war von den Helfer:innen, da konnte sie vermitteln, dass sie frei war: alles erledigt, alles abgerundet, reisebereit. Ja, in den letzten Tagen gab’s noch ein bisschen Frust, weil sie das von ihr selbst bestimmte Sterbedatum nicht einhalten konnte. Aber gut, nur um zwei Tage hat sie sich dann vertan, bis sich das dazu Notwendige fand und löste. Wir sind Begleiterinnen. Unsere Sprache weist hin auf die Gärten des Augenblicks, wo das Geliebte sich findet. Dort trifft, ohne Widersacher, das Selbst die Vorboten des Leisen. Mit Dank und Hochachtung für die Gnade des Erlebens!
mm
…die äußere Welt
nicht mehr rufen…*
*Aus einem poetischen Text von Tamara Ralis
*
So gerne ich meine Beiträge in einer guten Balance halte zwischen dem persönlichen und dem eher unpersönlichen Gedankentum und Ausdruck, so bin ich nun beim Umkreisen des Vorgangs „Sterben“ doch beim ausschließlich Persönlichen eben dieses Vorgangs gelandet. Es ist (noch) nicht das eigene Sterben, sondern das Sterben eines anderen Menschen, mit dem man durch alle Facetten des miteinender Möglichen gewandert ist, auch öfters mal darüber hinaus, also sich zusammen gedehnt ins Erweiterte, wobei oft genug die Blasen geplatzt sind, in denen wir Menschen uns gerne niederlassen. Wir haben Dämonen zusammen gebändigt und traten gemeinsam auf als unsere Archetypen, und nannten uns „arglos“. Auch waren wir durchweg vier kraftvolle, weibliche Kräfte, auf Hindi „Shakti“ genannt. Wir konnten zu tragenden Säulen werden, wenn der Raum einen Baldachin brauchte. Es gab viele Verbindungslinien, wir nannten und nennen uns „Konstellation“. Den Lebensstil, den wir entworfen haben, gibt es, soweit ich sehe, nur hier. Klar, durch uns, die Spielerinnen, ist er entstanden, unsere Begabungen sind ebenso gebündelt im Einsamen wie im Gemeinsamen. Nun wird sie uns auf dieser weltlichen Ebene verlassen. Wir wissen nicht wann, aber der Augenblick rückt näher, bis auch in ihm etwas erlischt, das wir betrauern werden. Ihr Boot ist bereits unterwegs, und auch wir binden langsam unsere Nachen los. Wir rufen die Stille in uns hervor, die Totenstille (pin-drop silence!). Wir durchqueren die Leere, die in die mühelose Verbindung führt.
Diese Collage hat Claudia gestern abend noch gemacht
*
Seit April, also seit der lebensbedrohenden Diagnose, sind wir nun zusammen auf dieser Reise: wir vom Haus, und Ihr von dort draußen, die ihr genug gute Erfahrungen gemacht habt mit der nun Sterbenden, um die Energie aufzubringen, zu uns hierher zu kommen und „sie“ noch einmal zu sehen, oder zu hören und zu fühlen, bevor es in dieser Form nicht mehr möglich sein wird. Nun will sie sterben. Gut!, sagt Domniki, eine der hilfreichen Kräfte, mit der wir uns befreundet haben im Verlauf der vielen Lymphdrainagen. Und wir fühlen auch, dass es jetzt „gut“ ist, weil der Moment sich selbst erschafft. Man spürt, wenn genug wirklich genug ist. Das bringt Erleichterung und Klarheit in die Richtung, aber noch muss der Weg gegangen werden. Irgendwann verglüht die letzte Kohle am Lagerfeuer. Dann verschwindet die Wärme des Lichtes und die aufsteigende Kälte weht einen vom Fluss her an. Noch sind wir zusammen, aber bald wird Eine von uns alleine weitergehen. Ich muss es mir selbst sagen, damit ich verstehe, dass es nun soweit ist. Der Arzt empfiehlt Morphiumtropfen. Sie sollen den Körper entspannen und die Bewegung in das nächste Vorwärts erleichtern. Mir fällt auf, wie sehr unser Leben immer Hand in Hand geht mit dem Tod, aber das aktuelle Sterben ist doch ein sehr episches Ereignis, so radikal in seiner Eindeutigkeit, die wie nichts anderes das ganze gelebte Dasein auf dieser Erde in einem Punkt konzentriert: das Ich in seiner letzten erscheinenden Form. Der endgültige Auftritt im eigenen Drama, an dessen Script man im Leben Nu um Nu gearbeitet hat. Ich denke, sie ist ihrem eigenen Anspruch gerecht geworden, das sagt sie auch selbst. Ihr Lächeln ist schön.
* Bild: C.M.Brinker
*
Die Frage, die Florian Goldberg bereits im Titel seines Buches „Wem gehört dein Leben?“ gestellt hat, kann man zu den wichtigsten Fragen des Lebens zählen. Wir alle wissen, dass wir in diesem Weltgetümmel gar nicht existieren können, ohne von dem, was uns darin oder daraus anspricht, beeinflusst zu werden. Und zur geistigen Anregung und Schulung ist dieses Weltbewegende ja auch nicht nur gedacht, sondern wird von uns immer wieder neu gedacht und gewogen und aussortiert und günstigerweise durch unsere eigenen Gedankengänge transportiert, sodass wir das Kontemplierte als unser geistiges Eigentum betrachten können, das wiederum vereinfacht oder erweitert oder vertieft werden kann durch uns und durch andere. Fremdbestimmung dagegen ist etwas völlig anderes. Der sogenannte „Glaube“ spielt hier eine Hauptrolle, also z.B. die Bereitschaft, etwas als real zu sehen, was niemals als solches erfahrbar gemacht werden kann. Doch, erfahrbar schon, denn man muss sich nur an irgendeinen Gott lange genug halten, bis man „besondere“ Erfahrungen macht, die natürlich keinen Anspruch auf Beweisbarkeit haben. Doch wer will schon ein nüchterner Vernunftsklotz sein, wenn Menschen sicher sind, dass das, was sie aufnehmen, ihr Eigenes ist. Die körperliche Verdauung ist durchaus mit der geistigen Verdauung verbunden, und wenn eines dieser genialen Einrichtungen aussetzt oder zusammenbricht, dann kann die andere Kraft noch sehr viel ausgleichen. Vor allem aber kann der Geist erhebliche und verblüffende akrobatische Leistungen vollbringen, und bis zum Aschenrand können wir, wenn die Sache gut läuft, uns selbst innerlich begleiten. Und hat man sich die Selbstbestimmung mal gründlich gegönnt, heißt: die wesentlichen Bedingungen dafür erfüllt, dann gibt es kein Bedauern. Kein Bedauern!
Collage von C.M.Brinker
*
Natürlich wäre das wünschenswert, wenn auf der meist längeren Wanderung auf das Tor zu eine gefiederte Höchstform sich plötzlich aus dem Dunkel des Vorstellungsdschungels hervortreten würde, um Begleitung anzubieten und Weisheitsunterstützung. Eben, ob es Wissen darüber gibt bei euch Beflügelten, wie man das macht, dem Züngeln des Fegefeuers zum Beispiel zu trotzen, und es als die eigene Todesangst zu erkennen. Doch was soll drohen? Immerhin hat man am Spiel teilhaben können, wodurch es einem auch jetzt, in der Stunde des Abschieds, nicht erspart bleibt, d e n Ausgang zu wählen, der dem erzeugten Dienstfeld am meisten entspricht. Also da, wo es nicht mehr um Bezahlung der Leistungen geht, sondern um die Bedeutung des Ungedeuteten, egal, wieviele Gedanken es darüber schon gibt in der nun zu verlassenden Welt. Es ist reizvoll und lehrreich zu sehen, dass langsam aber sicher alle Kostüme aus den inneren und äußeren Schränken verschwinden, die Kopfbedeckungen, die Gewänder, die Ideen von dem, wer oder wie ich spielen musste und glaubte, wer oder was sein zu können, und vieles auch war, bis das Ichen ein Ende findet. Vielleicht können wir uns erst dann erlauben, uns Begleiter:innen zu erschaffen, die dem Anspruch gerecht werden können (warum auch nicht?), den letzten Abschnitt des Weges losgelöst und liebevoll zu begleiten, also in Resonanz zu dem, was du bist. Das ist dann, wenn man nicht aufhört, sich selbst zu begleiten.
Gerne nickt man bei diesem Satz von Dostojewski aus „Der Traum eines lächerlichen Menschen“, denn natürlich ist es egal, ob es ein Traum oder die sogenannten Wirklichkeiten sind, die uns auf einmal einen Wahrheitsgehalt schenken, der schon wegen seiner eindeutigen Erfahrung frei ist vom Zweifelhaften der Meinung. Denn sobald etwas diese Eindeutigkeit verliert, gehört es nicht mehr zum spürbar Wahren, aber auch das ist nicht unbedingt wahr. So haben wir unabhängig voneinander innerlich bei der Begleitung der Sterbenden eine Wende gespürt, so als hätten wir als die nahen Beteiligten ein paar Tage im Ewigkeitsstrom gebadet, nicht in einem Hoffnungsschimmer, der hier vollkommen unangebracht wäre, sondern es als ein Geschenk betrachtet, das wir gemeinsam gestalten und noch erleben können, bevor ein Leben, mit dem wir verbunden waren, tatsächlich zu Ende geht. Ihr Leben wird zu Ende gehen, das ist wahr. Heute früh hat sie es selbst ausgesprochen, nämlich dass sich in der Nacht eine neue Einstellung formiert hat. Sie kann und will nicht mehr, schon ist sie geistig auf die andere Seite gewandert, ein naher und spürbarer Zeitpunkt kündigt sich an. Sie wird sterben, weil sie bereit dazu ist. Es gibt ja keinen Weg mehr zurück, es geht nur noch vorwärts. Auch diese Wahrheit kann den Sprung ins ganz und gar Ungewisse erleichtern. Das Wunderbare ist, dass sie durch eine vollkommen unkonventionelle Weise bei sich angekommen ist. So ist bei aller Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Körpers gerade d a s so wunderbar, dass der Geist sich befreit von allem, was einem unwesentlich erscheint und dadurch Beflügelung stattfinden kann. Wir treten zurück und lassen den aufkommenden Wind durch die eigenen Federn wehen. Figuren am Ufer des Unwägbaren, umhüllt vom Geheimnis des Wahren.
Wenn ich zur Zeit viel von „ihr“ spreche, so als wäre ich, hier am Fenster sitzend, von einer gewissen (notwendigen) Distanz in das Tiefpersönliche geschliddert, oder eher in das Höchstpersönliche hinein, dann ist da ein Korn Wahrheit drin. Wir erleben gerade etwas, was immerhin möglich ist, zum Beispiel: dass Krebs, so gruselig diese Krankheit auch sein mag, doch auch eine erhellende Wirkung haben kann. Ein Mensch, der sich mehr als eine Zuspielerin erfahren hat und auf dem Tellerrand, wo die vielen möglichen Identitäten herumhuschten, den Sprung in die gähnende Leere des Ungewissen gefürchtet hat, ist nun in die Mitte des Geschehens gerückt. Und nein!, nicht nur der Krankheit wegen, obwohl auch hier die Tragödie lauert als sichtbares Erlöschen des Körpers, sondern weil der Geist, immer dienstbereit wie ein Gott, ihr Geist also, es ihr ermöglicht hat, zu sich zu kommen. Deswegen mag ich den Song von Ziggy Marley, den ich kürzlich zufällig unterwegs gehört habe, weil er den feinen Unterschied klar gemacht hat zwischen „Got to be true to myself“ and „Got to be true to yourself“. Also er sagt es nicht als Botschaft zu anderen, dass sie sich selbst gegenüber wahrhaftig sein sollen, sondern er sagt es zu sich. Und dass es nicht möglich ist, Glück zu geben (oder zu erhalten), wenn man nicht selbst glücklich ist. Nun mag es paradox klingen, dass sie, Claudia, die noch verbleibende Zeit bis zu ihrem Abschied vom planetarischen Treiben als „glücklichste Zeit ihres Lebens“ bezeichnet, aber das kann man spüren. Der Raum, in dem sie liegt, ist angefüllt mit Wohlwollen. Es ist schön, dorthin zu gehen, ein paar Sachen zu machen, oder einfach nur dazusitzen und ein paar Worte auszutauschen. Eine Schönheit ist um sie herum, die einen wortlos macht. Schön ist auch, dass es niemand erklären kann.
*
Niemand würde das Ver-rücktsein oder das Verrückt-werden als eine verlässliche Medizin empfehlen, sondern es wird eher gefürchtet gleich nach der Todesangst. Einmal ist mir das in Marokko passiert. Einige Dervische hatten uns, die Mitglieder des „Living Theater“, eingeladen zu einer Reise, herbeigeführt durch eine uralte, als heilig gehandhabte Droge, deren Rezept nur von Vater zu Sohn weitergereicht wird. Sie rieten uns zu einer gewissen Dosis, aber das Zeug schmeckte köstlich und wir waren einiges gewohnt. Da merkte ich etwas später, wie meine Hand nicht mehr zur Kaffeetasse hinkam, dann ging ich ins freie Feld des Nus. Ich wusste meinen Namen nicht mehr, fühlte mich aber gut und wollte weg von den vielen Gesichtern, die um mich herumsaßen und mir irgendwas einflößen wollten. Ich entkam ihnen und wanderte tagelang auf der Straße vor mich hin, das Angstmantra aus „Dune“ tauchte in mir auf, ich hatte es kurz vorher auswendig gelernt. Irgendwann kam ich wieder an einen sicheren Ort, es war in Tanger, jemand brachte mich in Sicherheit, meine Freunde waren da. Auch die Sterbende in unserem Haus ist durch einen Moment des Wahnsinns gegangen. Niemand konnte sie bändigen, und mit unbändiger Kraft schrie sie den Satz „Ich bin selbstbestimmt“. Als sie wieder erwachte (aus der Beruhigungsspritze) brauchte es eine Weile, bis sie wieder zu sich kam, oder besser gesagt: sie kam langsam heraus aus sich selbst. Und da ist sie nun geblieben, sehr wach, sehr präsent, mit einer etwas tieferen Stimme als zuvor, mit klaren, freundlichen Worten. Ich bin verblüfft, dass ich es erleben kann: dieses geheimnisvolle Wirken in unseren Innenwelten, dieses bei aller förmlichen Starrheit permanent sich bewegende Neu. Dieser Schöpfungsgeist, an dem man hier auf diesem Planeten teilnehmen kann, ein freier und unbezahlbarer Kurs in Wundern. „Humanes Sterben“ ist ein wichtiges und verlockendes Angebot von einem selbst an sich selbst, wenn zum Beispiel eine Weltmüdigkeit einen anfällt usw., aber es ist auch wichtig zu wissen, dass bei der Begleitung eines oder einer Sterbenden noch viel passieren kann. Wenn das eigene Wesen den Staub auf den Federn entfernt.
* Claudia Maria Brinker
Dann kann es passieren, dass die Welt einem vorkommt, als würde sie nur aus Zeichen bestehen, die alle auf die Vergänglichkeit des Daseins hinweisen. Was Poet:innen betrifft, so warten sie selten bis in die späteren Jahre, um dem Tod einmal ins Auge zu schauen. Immerhin ist er auch mal als Frau gesehen worden, wie sie das kostbare und unerschwingliche Schwert durch die Nacht trägt und ihrer eigenen Stimme lauscht, die sie lehrt, das Unangemessene vom Angemessenen zu trennen. So schiebt sich (zum Beispiel) in die Realität, die gerne als das Normale und das Erkennbare bezeichnet wird, ein Hauch von Ewigkeit ein, aber nur, wenn man ihr den Raum überlässt, den sie braucht, um zu sein, wer sie ist. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Maus und Ewigkeit, aber dann auch wieder nicht. Wir sind eingebettet in das uns Mögliche und rangeln uns entlang am Faden, bis auch er keine Muster mehr weben kann. Auf einmal wird Nacktheit die Stütze dieser letzten Akrobatik, die verbunden ist mit dem unausweichlichen Schritt in die Fülle der Einsamkeit. Von dieser Form des Leuchtens kennen wir nichts, es kann nur erfahren werden. Und nie gab es weniger Garantie als hier, auf Level Eleven, wo die kosmischen Kräften (wieder) die Führung übernehmen, die einzige Führung, der man sich bedingungslos überlassen kann. Denn selbst wenn ich bei meinem „wahren Ich“ angelangt bin, soll auch d a s nicht zum Hindernis werden.
Collage: C.M.Brinker
*
Die Gazelle auf dem Bild hat sie (die Sterbende) erst vor ein paar Tagen aus dem Internet bestellt (für 9 Euro), weil ihr die vorherige zu klein war. Tatsächlich kann man sie selbst als eine Gazelle sehen, so zerbrechlich und gleichzeitig so stark sitzt sie nun da und schaut uns mit diesem neuen Blick an. Sie erzählt uns, dass sie jetzt in beiden Räumen lebt, eben im Hier und auch schon im Dort, und eigentlich nur noch im Raum und nicht mehr in der Zeit. Noch grämt sie sich etwas, wenn ihr die Zeit verlorengeht, die Termine nicht mehr erinnert werden, oder etwas, was gerade noch da war, nicht mehr zu finden ist. Sie bewegt sich seit drei Tagen auf einer Ebene, auf der sie sich noch mit uns verbinden kann, und nun, da sie bei sich ist, sind große Nähe und angemessene Distanz gleichzeitig möglich. Ihrer Rede mangelt es nicht an Respekt, aber es blitzt auch das Verschmitzte durch wie so vieles, was vorher entweder nicht möglich oder zu eingeschränkt war. Auf ein paar locker gestalteten Blättern, die wir gestern zusammen gefunden haben in einer der vielen Schubladen, nannte sie sich in einem über sich selbst lachenden Ton „Die ängstliche Ausbremserin“, dann „Die brave Unterordnerin“, dann „Die tugendhafte Gutmenschin“, dann „Die vernünftige Ordnungshüterin und „Die pflegeleichte Zustimmerin“. Und wir Begleiter:innen sind nun in dieser Möglichkeit einer bereichernden Erfahrung und Beobachtung, dass sie, die Sterbende, all diese Identifikationen hinter sich gelassen hat. Nackt und bloß, erzählt sie, ist sie durch die Hölle gegangen, sie nannte es das Fegefeuer. Nun hat sie keine Wahl mehr: der Zwiespalt hat sich geschlossen. Die Ambivalenz hat sich verzogen. Mit hoher Konzentration spürt man den Atem der unermesslichen Weite, bestätigt durch unser Nicht-Wissen.
*Collage von Claudia Brinker
Habe ich nun in der ganzen Zeit meiner Wanderungen um das Thema „Tod“ herum etwas von ihm, dem großen Es, gelernt? Auf jeden Fall nichts, was Epikurs Bemerkung erweitern könnte, denn nach wie vor sieht es so aus, als müsste man sich eigentlich über den Tod keine Sorgen machen, denn wenn er da ist, bin ich nicht da, und solange ich noch da bin, ist der Tod nicht da. Klar wird, dass es eher um die Kunst des Sterbens geht, und was heißt hier: Kunst? Natürlich kann man kreativer an die mysteriöse Sache herangehen, wenn man keine Schmerzen hat, oder aber die denkwürdigen Palliativmedikamente zumindest notfalls zur Verfügung haben, die immerhin ein gewisses schmerzloses Feld erschaffen können, das einem ermöglicht, die nackte Wahrheit dieser letzten Reise an sich herankommen zu lassen. Gestern hörte ich mich ein paar mal in mein Handy sagen, dass ich im Moment keine Zeit hätte für Gespräche, weil ich bei einer Sterbenden sitze. Ich, beziehungsweise wir sitzen nicht nur bei einer Sterbenden, sondern mein Geist ermuntert mich förmlich, alles dahinfahren zu lassen, was nicht der Erfahrung des eigentlichen Vorgangs entspricht. Denn in allen tiefen Prozessen fällt auf, dass sogenannte Wunder auch an der Tagesordnung sein können. Ein Mensch sagt (zum Beispiel) „Ich sterbe“, und man trommelt alle nahen Beteiligten zusammen zum Abschiednehmen. Da taucht die Sterbende auf einmal auf einer anderen Ebene wieder auf, und wir sehen uns genötigt, das Prädikat „partiell erleuchtet“ zu erfinden. Da hatte es nämlich in der Sterbenden, als wir schliefen, einen unbezeugten Durchbruch gegeben, und als wir am Morgen zu ihr kamen, war sie an einem anderen Ort, den man sehr wohl als den tiefsten persönlichen Kern bezeichnen kann. Etwas war im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt. Da war, für alle sichtbar und hörbar und spürbar, eine große Klarheit in dieser neuen und gleichzeitig uralten Persona. Oder ist das schon gar nicht mehr „Persona“, sondern das, was noch weiterwandert, während wir uns noch um die vergängliche Hülle werden kümmern müssen.(?)
Für die stummen Brüder
„ich dichte erst jetzt ein lied über die freude am sprechen
ein lied für stumme autisten zu singen
in anstalten und irrenhäusern
nägel in astgabeln sind die instrumente
ich singe das lied aus der tiefe der hölle und rufe
alle stummen dieser welt
erklärt den gesang zu eurem lied
taut die eisigen mauern auf
und wehrt euch ausgestoßen zu werden
wir wollen eine neue generation der stummen sein
eine schar mit gesängen und neuen liedern
wie es die redenden noch nicht vernommen haben
unter allen dichtern fand ich keinen stummen
so wollen wir die ersten sein
und unüberhörbar ist unser gesang
ich dichte für meine stummen schwestern
für meine stummen brüder
uns soll man hören und einen platz geben wo wir unter
euch allen wohnen dürfen in einem leben dieser gesellschaft“
*
Da ich mich in den letzten Monaten im Kontext unserer momentanen Erfahrungen in Haus und Welt viel mit dem Tod beschäftigt habe, habe ich natürlich auch das bereits Gewusste besser und tiefer verstanden. Zum Beispiel, dass das Sterben ein langer Prozess sein kann, der Tod aber nur einen einzigen Moment dauert, nämlich dann, wenn er da ist. Ein machtvoller Auftritt in der Tat, denn wenn er da war, verschwindet er gleich wieder, hinterlässt aber enorme Bewegungen, die gehandhabt werden müssen. Außerdem habe ich jetzt von einer bereits Gestorbenen (durch ihre hinterlassenen Texte) und einer sich im Sterbeprozess Befindlichen gehört, dass Sterben gar nicht so „schlimm“ ist. Ja, es kann vorkommen, dass diese letzte, noch verbleibende Zeit ein Ansporn wird zu vielen freudeerzeugenden Dingen, wie etwa das Kramen in all den Dingen, die nun wie ein zäher Strom voller Erinnerungen hin zu Freunden, Johannitern oder Containern fließen. Was man alles so hatte, was sich in dunklen Schubladenwelten auf unerklärliche Weise ansammelte, um nie mehr hervorgeholt zu werden ans Licht. Aber eben doch kann es hervorgeholt werden, eben jetzt, wo endlich klar ist, dass dies auch das Ende der Schubladen ist, das Ende eben vom Ende aller Enden. Ich habe mir an einem bestimmten Flecken in meinem Gehirn eine Notiz gemacht, auf die ich vielleicht eines Tages zugreifen kann: hat man den Tod also einmal voll akzeptiert, kann man ihm, beziehungsweise dem Faktor X, ohne weiteres oder gerade d a n n einen gewissen Genuss abringen, ihn sozusagen zum Sahnehäubchen ernennen und ihn die großen Epen über die Gaukeleien der Menschengeschichte deklarieren lassen, während man weisheitsträchtig und aus der von einem selbst legalisierten Distanz heraus dem Spiel im Sandkasten zuschaut, oder auch nicht.
*Collage C.M.Brinker
*
Das Bewusstsein drängt uns in regelmäßigen Abständen bestimmte Fragen auf, die vielleicht nach neuen Antworten suchen, anderen Sehensweisen, anderen Denkkonstrukten. So die Frage, ob uns das wirklich, hätten wir unterwegs im Leben und an bestimmten Kreuzungen andere Entscheidungen getroffen, die Prägung eines scheinbar anderen Menschen gegeben, das denke ich schon. Aber hätte ich wirklich souverän diesen anderen Pfad wählen können, oder gibt es doch eine Art Script, das man, wenn man wollte, irgendwo anders in der Welt auf Palmblättern nachlesen könnte, oder so wird es zumindest erzählt. Aber das ist ja nicht die letzte Erzählung von uns Menschen, der wir lauschen, sondern wir müssen uns so wachsam wie nur möglich durchackern durch den kosmischen Wust der Erzählungen, günstigerweise an einem Faden entlang, den wir selbst spinnen, oder aber der Illusion des Selbstspinnens erliegen im guten Glauben an die Großzügigkeit des Universums. Deswegen, und nur aus diesen wogenden Hintergründen heraus, wird von dem zeitlosen Chor uralter Stimmen her gerne dazu ermutigt, das Dasein im direkten Nu wahrzunehmen als den präzisesten Ort, an dem Schöpfung und das daraus resultierende Schicksal sich unter unserer Obhut ungehindert manifestieren kann. Unter gewissen Bedingungen, die allerdings zu erfüllen sind, bis ein noch anderer Ort sich darbietet als Bühne für das Bedingungslose. Schauder der Freiheit!, ich grüße hinein in das namenlose, noch formlose Voraus.
*Collage von C,M. Brinker