Es gibt vermutlich in jeder alten Kultur Begriffe und Gedankengänge, die durch Jahrtausende hindurch immer wieder neu bedacht werden und ähnliche Denkmuskelübungen und Zauberformeln hervorbringen, vielleicht auch mal einen irrsinnig Erscheinenden (wie Ramakrishna), den man überprüfen ließ und der dann als „erleuchtet“ befunden wurde. Wer ist in der Lage, etwas Erleuchtetes zu befinden. An den meist glamourös gepolsterten Sitzen heutiger Gurus kann man sehen, dass der Draufsitzende sich wahrscheinlich auch mit den zeitlosen Themen beschäftigt hat, aber meistens doch seine Energie von dem andächtig lauschenden, weiblichen Publikum erhält, das auf irgendeine Weise hofft oder annimmt, dass der dort auf sie Herabblickende die Antwort hat auf die tiefen, unauslöschlichen Fragen. Das ist auch irgendwie sinnvoll: Gedanken, die nie beantwortet werden können, halten den Geist dessen wach, der sich für sie interessiert. Was ist der Unterschied zwischen dem alltäglichen ich („main“ in Hindi) und dem „tat twam asi“, „das bin ich“ (wirklich). Was bin ich wirklich? Schau, sagen zB. manche Buddhisten, so lange da hinein in dich und suche, ob du das findest, was du bist. Eine Substanz, die sich erkennt an vertrautem Gefühl, ist nicht zu leugnen. Ist das „Atman“, der Kern des Wesens, der Urstoff des Seins?, einerseits ganz Individuum, andrerseits fast schemenhaft integriert in den Strom, nur durch sich selbst zum Erwachen gelangend. Und heißt das nicht: zu einem bestimmten Bewusstsein, das diese Essenz befähigt, den planetarischen Ablauf und seine Gesetzmäßigkeiten soweit kennen zu lernen, dass die Neigung zu schleierhafter Bezeugung des Daseienden sich wandelt in etwas, das man im entferntesten Sinne noch ein Auge nennen kann. Ein Auge, das in eigener Sicht ruht und dadurch die Bilder in aller Offenheit wahrnehmen kann, wie sie an uns allen stetig vorüberziehen. Ich habe in meiner langen Zeit in Indien nie leidenschaftlich nach einem Menschen gesucht, der den Eindruck vermittelt, zu wissen, was „Atma(n) ist. Man kann auch wach werden, indem man sich eine Weile klar macht, dass man sekündlich tot umfallen kann, und dann…vorbei mit dem Atman? Oder wandert es weiter und sucht sich neue Kanäle zu neuem Auftritt? Und was ist Sein? Gibt es SeinsbewohnerInnen und Seinsflüchtlinge, und dann die vielen, die das keine Bohne interessiert. Anscheinend setzen doch alle das Wissen um, das ihnen zugängig ist. „Bewusstsein“ ist auch so ein Wort, das wir, in Vorbereitung auf Weiteres, dringend brauchen, obwohl wir bereits ahnen, dass es verblüffend wenig verlässlich zu Wissendes gibt, und auch sehr Wenige, die einem da weiterhelfen können. Schön an Indien sind ja nicht nur diese unhabbaren Antworten, sondern auch auf der körperlichen Ebene ist Wachsein angesagt. Neulich musste ich hintereinander zwei Ratten aus dem so sicher wirkenden Lagerraum in einem im letzten Jahr organisierten Rattenkäfig hinaustragen und dort von der hohen Brücke ins Schlammloch plumpsen lassen. Sie hatten all meine biologisch nahrhaften Lebensmittel, die ich aus Deutschland mitgebracht hatte, gründlich durchgefressen, sodass ich trotz tiefem Nachdenken alles wegwerfen musste, um nicht an irgendeinem Gift zu verenden. Natürlich drängte sich auch der Nachgedanke auf, wie wenig ich das alles vermisste. War das nun meine nüchterne Vernunft oder der mystische Atman, der sich ratgebend im Inneren kundtat? Oder einfach nur: Auge, sei wachsam!
Die zwei Photos habe ich von meinem Fenster aus gemacht, einmal mit und einmal ohne Fliegengitter. Das rechte Bild zeigt zwei Freunde, die beide von sich selbst Selfies machen.