jetzt hier sein


Kiesel VI
Wenn alle Zugang zu so ziemlich allem haben, was auf den Weltmärkten zu haben ist, dann wehen auch die verborgenen Sätze der Geheimwissenschaften hinein in die Lebensräume der Bürger:innen, oder sind zu lesen in Artikeln ehrwürdiger Zeitschriften, und niemand würde groß staunen, wenn da als Haupttitel zum Beispiel „Be here now“, oder noch besser „Sei jetzt hier“ stünde oder schon  steht. Wo soll ich denn um Himmelswillen sonst sein, fragt sich vielleicht der Leser, doch wo ist „hier“,  und wer drückt hier den nobel gemeinten Befehl aus, und was heißt „jetzt“? Jetzt, in diesem Augenblick, mit mir hier sein, wie geht das, oder warum klingt das, als müsste man darauf aufmerksam gemacht werden, nicht im Woanders herumzuwandern, so, als könnte ich dort draußen, also im Außen, etwas erkennen, das ich nicht von innen her wahrgenommen habe. Selbst die Kulisse für menschliches Tun (die Natur) war nicht immer ganz so bedrohlich, wie sie jetzt erscheint, seit wir wissen, dass es genau der Mensch ist, also wir, der die Eingebungen des eigenen Geistes nun als Resultat einer ungeheuren Zerstörungslust beobachten kann, die sich mit den tiefsten und den höchsten Interessen der Menschheit kaum vereinbaren lassen. Selbst Freud sah seine hochangelegten Analysen eher fruchtbar für gesunde Menschen, die sich für ihre geistige Entwicklung interessieren und mit ihm einen Vergil zur Seite hatten, der sie beim Spaziergang durch die abgründigen Level der Hölle begleiten und sicher zurückführen konnte, wissend, dass aus diesem Wurmloch niemand unverändert herauskommt, wenn überhaupt. Auch wenn „Be here now“ wirklich mit einem geschieht, kann es unheimlich werden. Vor ein paar Jahren hatte es mich mal interessiert, zu welchem Prozentsatz Menschen (auch in Indien) sich als sich selbst seiend einschätzen. Also zu welchem Prozentsatz denke ich, mich selbst zu sein. Sehr überraschende Antworten kamen. Niemand stellte in Frage, dass man sich zu sich selbst aufmachen muss, und oft hing die Antwort unter 50 Prozent, also mit dem Kopf noch unter Wasser. Wurde man selbst gefragt, musste man aufpassen, nicht zu hoch zu pokern, oder aber zu seinem Einsatz zu stehen. In guten geistigen Schulungen wird beides gelehrt: die Gefahr des aufgebauschten Selbstgefühls wahrzunehmen, und mit der verfügbaren Entscheidungskraft und einer geistigen Rasierklinge Raum zu schaffen für das, was übrig bleibt, wenn die Ich-Blase ausgedient hat und das, was auch immer es ist, spürbar und sichtbar wird.

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