unfassbar

Als mir klar wurde nach der unausweichbaren Nachricht von Beate Zschäpes Verurteilung zu lebenslanger Haft, dass es nie wirklich dazu kam, dass ich tiefschürfendes Interesse an diesem langatmigen Gruseldrama entwickeln konnte, und habe heute zum ersten Mal mit Freunden darüber gesprochen. Wie war das so für Euch, wollte ich wissen. Mir kam es  vor, als wäre ich selbst gar nicht in Deutschland gewesen, und es stimmt, zu der Zeit verbrachte ich schon die Hälfte des Jahres in Asien, und meine politischen Einstellungen, soweit schon vorhanden, waren in den Sechzigern etwas versandet, oder hatten völlig andere Richtungen und scheinbar grenzenloses Neuland vor Augen. Vor allem, wenn genug Leute derart erzürnt sind über ihre Lebenssituation und keine Möglichkeiten sehen, selbst darin etwas zu gestalten, blühen extreme Formen des Umbruchs hervor. Zuerst haben die Gedankengruppierungen keine Namen. Die einen müssen sich vor der Polizei hüten, weil sie Cannabis rauchen oder andere Drogen nehmen, die anderen reiben sich auf miteinander und müssen etwas gemeinsam im Schilde führen, das dann im schlechtesten Fall zum Morden führt, wenn ihre Vorstellung von Gerechtigkeit sich nicht durchsetzen kann. Wenn wirklich geschadet und gemordet wird, nimmt das Ganze hässliche Formen an, und man sollte sein Gehirn nicht unnötig damit beschäftigen, wenn man ähnliche Phänomene schon einmal reflektiert hat. Nicht immer führen die Wurzeln eines gesellschaftlichen Zurückgeworfenseins ins Nichtige in Bündnisse, die terroristische Handlungen als angebrachte Antwort auf das durch ihre Augen Gesehene wahrnehmen. Aber, wenn ich mit Verlaub nochmal Sokrates mit einem ihm zugeschriebenen Gedanken nennen darf, so wundert es schon, dass so viele bereit waren und sind, mit sich selbst als Mörder das weitere Leben zu verbringen. Und dass „Liebe der Verzicht auf Mord“ ist, fällt mir auch noch dazu ein. Es sollen ja viele Liebende auch gemordet haben, aber kann man sich Mord wirklich als Liebe vorstellen, oder geschieht nicht eher vor dem Morden etwas mit den Gefühlen, was zuerst nicht auffällt, sich aber immer mehr zeigt? Es wird ja noch stets mal gerätselt, wie vor allem die führenden Mördergehirne im Dritten Reich gerne sehr liebvoll abgelichtet wurden: „Seht, seht!, ich bin kein Ungeheuer, sondern tue das Angemessene. Auch im Umkreis von Zschäpe wurde vermutlich gelächelt, auch wenn ich staunen kann, wie unsympathisch diese Frau auf mich gewirkt hat. Vielleicht kann s o totale Gefühllosigkeit aussehen, ein persönliches Zulassen von Kälte, ein Sich-einrichten im Hass als einem Wohnort, der einem immer angenehmer vorkommt, da man sich als eigenen Feind nie erkannt hat. Schon damals also: raus mit den Fremden! Und da sitzt sie nun, die lebenslang Inhaftierte, für alle nur noch die Verkörperung des Feindlichen und Fremden und nicht mehr Erreichbaren, sich selbst und damit allen gegenüber menschlich erkaltet. Bei solchen Prozessen wird ja viel öffentlich nachgedacht und kommentiert, einfach weil sich viele Berufstätige um das Unfassbare kümmern müssen, das nicht gelöst werden kann und auch diesmal nicht wurde. Auch die Fähigkeit, sich in die Gehirne Anderer hinein versetzen zu können, hat eindeutig seine Grenzen. Schweigen kann ja auch sehr beredt sein. Es kann gut sein für den Schweigenden, und es kann schaden. Aber was heißt schaden? Was hätte man besser verstehen können, hätte sie geredet? Das hat bestimmt auch so manchen beruflich Gerechten hochkochen lassen, der sich für beherrschter hielt: dass da jemand sitzt, die vermutlich alles weiß, was gerne gewusst werden würde, und sie hat eben diese Route gewählt. Die Nebentussi hat man ihr nicht abgenommen. Man kann so ein Spiel nur bedingt lange aufrecht erhalten. Aber wenn man gutes Spiel gar nicht kennengelernt hat? Oder sich nicht dafür entscheiden konnte? Und was ist gutes Spiel? Auf der anderen Seite des sogenannten Bösen, banal und erbärmlich und kleinkariert, wie es immer noch scheint, habe ich ganz ähnliche Verschlossenheiten gesehen, nämlich da, wo das Erhöhte geheiligt wird. Das liegt sehr nahe beieinander, und in jedem Klub, an jedem Stammtisch, in jedem Familienkreis, in jeder religiösen Vereinigung usw. kann man die Spuren dieser gefährlichen Wege sehen. Missbrauch und Mord und leise Verurteilung des einem nicht vertraut Vorkommenden richten sich ein in den Korridoren der Welt, als wäre die totale Abschreckung des Unmenschlichen nie geschehen. Immer war sie da. Und da ist sie noch immer. Daher, egal von welcher Richtung und von welchem Gerichtssaal man kommt, man stößt auf Delphi. Eben: Delphi ist überall.

Das Bild wollte ich schon mal in den Papierkorb werfen, aber heute passt es ganz gut, finde ich. Es fängt einen Hauch vom unfassbar Schrecklichen ein.


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