Die Anbetung

Bevor ich nach Indien kam, kannte ich nur einen einzigen Menschen, der Yoga ernsthaft praktizierte. Es war in meiner fünfjährigen Zeit im Living Theater, und wir, die wir auch wild durcheinander meditierten, bewunderten ihn oft für sein Schweigen und seine permanenten Übungssessions, die auch nerven konnten und eher an das Unverbundene als an das Lebendige erinnerten. Ich ahnte damals nicht, dass Gene Gordon, so hieß er, so ziemlich der einzige Inder, denn er war Inder, bleiben würde, den ich in Indien unter Indern ernsthaft praktizieren sehen würde, und dem diese Praxis auf Leib und Seele geschrieben schien. Später fand ich dann die Unterscheidungen interessant, die in der Bhagavad Gita gelehrt werden (von Krishna zu Arjun), und die, sprachen sie einen an, einem gemäß der eigenen Anlage Entscheidungsmöglichkeiten ließen. Unter diesen Formen ist die beliebteste  das Bhakti Yoga, also die Anbetung, denn sie erlaubt so  ungefähr jedem, teilzuhaben am rituellen Götterreigen, ohne viel nachdenken zu müssen oder zu wollen. Man braucht, so meint man gern, einfach nur Hingabe. Von Anfang an hatte ich eine natürliche Abneigung gegen diesen Weg, dem man in Indien nicht ausweichen, an dem man aber vorübergehen kann, wenn auch oft mit Rührung im Herzen über die Schönheit ihrer Gesten und ihre demütige Hingabe an das, was sie als größer und mächtiger empfinden als sich selbst. Am schlimmsten traf es bei dieser Anziehung aber die Foreigners. Jahrelanges Trommeln und Chanten und stocksteifes Herumsitzen war die Folge, und immer rührte etwas sehr schnell an das Unglaubwürdige und Peinliche. Auch wir, die wir uns dem Wissen zugewandt hatten und buchstäblich Tage und Nächte (und viele Jahre) durchgeackert hatten mit Sitzen in höchsten Anstrengungen der Konzentration, landeten irgendwann in herbem Erwachen. Nicht, dass dieses stille Sitzen jemals ein Verlust sein könnte, aber etwas anderes kam in die Quere, das, ich wechsle jetzt zum Ich, mich nicht mehr losließ. Nämlich genau dieses zumeditierte Ich, ganz auf westlichem Boden gewachsen, stand auf einmal mitten in der Yogasonne und warf einen Schatten. Sudhir Kakar, ein indischer Psychoanalytiker, hatte einmal in einem Artikel in der Zeit berichtet, warum Therapie in Indien schier unmöglich war, da „das Ich“ keinerlei Aufmerksamkeit erhielt und das bewusste Reflektieren der persönlichen Geschichte, auch noch ohne Götter, völlig unbekannt. Wenn er in Indien überhaupt arbeiten konnte, dann nur mit Einberaumung der Götter. Hinter uns  westlichen Fremdlingen aber dröhnte, wenn wir Glück hatten, früher oder später unser westliches Ich mit seinen Abgründen und unverarbeiteten Konflikten, die offensichtlich kein Yoga und kein Meditieren wirklich an die Oberfläche bringen konnte. Von dieser indischen Praxis aber zurückzukehren mit Wachheit und Aufmerksamkeit, das verlangte schon einiges an neuer Versenkungs – und Erkenntniskraft. Vor einiger Zeit überkam mich endlich die erfrischende Nüchternheit, die es ermöglicht, mit einer gewissen Heiterkeit auf das Ganze zu schauen. Und genau diese heitere Nüchternheit macht wiederum möglich, zu wissen, dass z.B., der See in Wirklichkeit eine von künstlichen Leitungen genährte Dreckbrühe ist, in die ich schon sehr lange keine Hand mehr hineinhalte, dann aber auch eine glitzernde Oberfläche, die lebensnotwendig ist, weil sehr viele Familien im Dorf von der Anbetung der Menschen abhängig sind, und vice versa. Deswegen wird weiterhin Wasser, Milch und Butter über den göttlichen Penis gegossen, ohne dass jemand es hinterfragt, weil das Ich des Gießenden noch keine Ahnung hat von der eigenen Wirklichkeit und ihrem Potential, sich in alle vorstellbaren Weiten auszudehnen, dann aber auch das persönliche Ich und seinen gewebten Teppich nicht aus den Augen zu verlieren, damit der Kern der Sache nicht verloren geht.

 


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