gem/einsam

Hier ist sie also, die Natur, in ihrem vollkommenen Ungezügeltsein. Wirkt gesund, jedenfalls da, wo wir wohnen, auf den ersten Blick. Allerdings fallen vom Apfelbaum schon die welken Blätter. Der Boden sieht aus wie im Herbst. Wieviel Wasser kann man geben, und wer unter den Grashalmen braucht es am dringendsten zum Weiterleben. Ab und zu hört man einen Hubschrauber den Wald überfliegen, es ist wegen der Brandgefahr. Dann, ein Flugstündchen weiter, sind ein paar hundert Menschen im Meer ertrunken. Wir trauern um sie und mit ihren Angehörigen, meinte ein Politiker. Mit ihren Angehörigen? Wem gehörten sie denn an? Man wünscht sich inmitten dieses Nichtwissens, dass die Kunde von dieser tödlichen Gefahr sich durchsetzt, aber wahrscheinlich glauben alle aus der Not sich Aufmachenden, dass sie zu den Überlebenden gehören werden. Und vielleicht ist der Tod als potentielle Möglichkeit besser als das, was zuhause los ist, man weiß es nicht, oder vielmehr: ich weiß es nicht. Alle Zeitalter schlucken Menschenleben vor ihrer Zeit, und was meint man mit: vor ihrer Zeit. Die Zeit, die Menschen nicht mehr haben, deren Leben auf einmal gekürzt ist, und trudeln nun hinunter an die tiefste Stelle des Nichts. Man könnte auch behaupten, der Menschheit sei das Steuer entglitten, die Richtung nicht mehr erkennbar. Der Zwiespalt nagt an der geistigen Substanz; haben wir überhaupt noch eine gemeinsame Ebene, auf der wir uns souverän und ohne Anspruch begegnen können, und wer ist dieses Wir. Aus dieser Frage heraus scheint es mir so zu sein, und vielleicht war es immer so, dass wir, da wir aus Einzelnen bestehen, uns nur einzeln bewegen können, also „einsam“ eingebettet in das „gemeinsam“. Es ist sicherlich hilfreicher, mir selbst antworten zu können, als zu warten auf Beantwortung, die nicht stattfinden kann, wenn ich mich selbst nicht beantworte. Aber warum sehe ich zum Beispiel immer und immer wieder diese Leiber hinunterdriften in die Dunkelheit, und diese Gewissheit, die sich irgendwann im Geist einstellt, dass alles vorbei ist, die gerade noch hilfreichen Smartphones entgleiten und hinterhertrudeln, keinem Hilferuf mehr zugängig. Das Leben ist anspruchsvoll, jeder möchte ihm gerne in bestmöglichem Verständnis begegnen. Aber es ist nicht allen möglich, so ist es nun einmal. Irgendwann entgleiten uns unsere Leiber und mit ihnen das, was ihnen zu erleben möglich war. Das dritte Tor aber muss offen bleiben: Attention, traveller!, freischwebende Aufmerksamkeit!, denn es ist spät, doch es ist nicht, noch nicht zu spät. Wir tragen Wasser zum Apfelbaum.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert