gesehen werden

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Soweit ich mich an vergangene Ewigkeiten indischen Zeitgefühls erinnern kann, war immer klar, dass dieses Land aus Augen besteht. Alle sehen alles, da gibt’s kein Entrinnen. In keiner Ecke kann man sicher sein, dass nicht irgendwo Augen auf einen schauen. Als es noch keine Toiletten in den Häusern gab, gehörte es vor allem für uns Frauen immer zu den kniffligen Leistungen, die zu bewältigen waren.  Wurde über längere Zeit gutes und eindeutiges Verhalten  sichtbar, konnte man als Fremde entweder mit Staunen oder Neugier betrachtet werden oder wurde langsam aus den Augen verloren. Bricht in einem Haus mal wieder ein Skandal aus, kann man von erhöhtem Augeninteresse ausgehen. Wie überall sehen Einheimische gern, wenn einer stürzt und die dunkle Karmawolke sich über einer anderen Familie verdichtet als der eigenen. Alle schauen zu, wie die Sache sich bewegt, denn hier gibt es vor den Läden noch kein Glas, dh die Betroffenen müssen sich der Augenmeute aussetzen und mit ihr umgehen. Ganz schrecklich wird es, wenn ein verliebtes Paar unbedingt zusammen sein will trotz unterschiedlicher Kasten, und sie denken, sie könnten untertauchen in einer der Millionenstädte. Aber die Eltern schicken Angehörige los, um sie zu suchen, und die fragen sich durch und finden sie tatsächlich, denn überall sind Augen, die nichts anderes tun als Ausschau halten nach dem Wasauchimmer. Das führt ziemlich häufig zu furchterregenden Ergebnissen, denn die Eltern sind nicht bereit, sich der Sichtweise der meist volljährigen „Kinder“ zu beugen. Die Augen sind so traditionsfixiert, dass nur selten einer durch das Netz schlüpft, oder eben im Internet-Netz verschwindet. Es wird auch sehr viel geschrien. Wenn ich manchmal aus der Stille meines Raumes draußen die extrem lauten Stimmen höre, denke ich, es gilt als „gut“, da man nichts zu verheimlichen hat, eher was Bedeutsames zu verklickern. Inder sind riesig stolz auf ihr Wissen, und es grämt die älter Werdenden, dass sie nicht mehr gehört werden. Doch der Abgrund zwischen Idee und Wirklichkeit ist so groß geworden, dass nur noch Seiltänzer ihn überqueren können.
Als bräuchte ich noch eine lebendige Anekdote zu meinen Gedanken, kommt Raju zu meinem Platz am Wasser und erzählt mir, dass seine Frau am 26. Dezember ein Kind zur Welt bringen wird. Wie bitte!? sage ich, du hast doch schon drei Töchter! Drucks drucks, er meint,  die Eltern und die Schwiegereltern (und Onkel und Tanten) wollten, dass sie es noch einmal versuchen sollen –  ja was denn – na den Sohn! Der Sohn muss her auf Teufel komm raus. Das hat auch mit Augen zu tun. Die Augen wollen den Jungen sehen, dann erst können alle das Zeitliche segnen. Der Mann mit nur Töchtern wird nicht gut angesehen, als würde dadurch seine Männlichlkeit in Frage gestellt. Als ich mich früher mal über einen extrem fiesen Visatypen aufgeregt habe, sagten die Leute beschwichtigend: aber Kalima, er hat 6 Töchter! Sie dürfen nicht aufhören, bis der Sohn kommt. Da muss ich mich dann doch immer wieder mal einschalten und sagen, dass ich das anders sehe, bin ich doch auch von der weiblichen Rasse und habe mich gerne und gut inmitten Ihrer Kultur alleine auf den kraftvollen Weg meiner Bestimmung gemacht. Denn was weiß man schon, was in den Gehirnen vor sich geht, und wer da wie –  aus welchen Augen – auf was schaut und daraus Schlüsse zieht, von denen ich nichts ahnen kann, wenn du sie dir nicht selbst, und dann mir, ernsthaft vermittelst?

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Das Photo habe ich auf dem Rückweg von einer Wand abphotographiert mit dem Gedanken: wie absurd! Überall Göttinnen!

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