Das ist zweifellos ein sehr langer Sommer, das hebt die Stimmung und bietet viele Vorteile. Zum Beispiel höre ich unterwegs im Radio, dass man wegen des vielen Ins-Smartphone-Starrens mindestens zwei Stunden täglich draußen sein sollte gegen die Kurzsichtigkeit und die Halsstarre und gegen alles und für alles, was noch dazu gehört. Ich selbst muss heute, zwar verhältnismäßig wenig geplagt von diesen spezifischen Nöten, ins Visa-Zentrum, also in die Stadt, wozu immer ein gewisses Maß von Kraft gehört: der Stau, der Parkplatz und all das, auf was man gar nicht gefasst war. In einem Park, den ich durchqueren muss, sehe ich einen alten Mann, der sein Hab und Gut durch die Gegend schleppt, ein Obdachloser, der wie alle Obdachlosen irgendwann, wenn die Stadt brummt, aufstehen muss vom ergatterten Nachtplatz. Jetzt schon ist es kalt, man will sich das nicht vorstellen, und meine Vorstellungskraft, wie Menschen durch ihre Nächte kommen, ist in Indien schon weit über ihre Grenzen gedehnt worden. Was mich an diesem alten Mann berührt ist, dass er dunkelhäutig ist. Meine Güte, wo bist du, wo sind Sie, werter Mensch, hergekommen, um hier durch den Park zu irren, immer noch mit zu schwerem Gepäck, das das Mindeste enthält, was ein obdachloser Mensch braucht. Ich denke an Geld, ich denke an reden, ich lasse beides, denn ich sehe dieses bestimmte Lächeln, das zu einem gehört, der nicht mehr ganz bei sich ist, wenn er es denn jemals war, ein liebevolles Lächeln, das mildert ein wenig den Stich der Ohnmacht. Wie gut sich für ihn und seine Schicksalsgenossen die Sonne anfühlen muss, und wenn ein wenig Essen auftaucht, ist schon viel Gutes im Tag. Eine gute Freundin von uns, eine Poetin, schickt manchmal Geld nach Amerika, wo eine Frau, die sie gut kannte und kennt, durch eine Reihe von Schicksalsschlägen obdachlos geworden ist. Sie bewundert sie für ihre Kraft des Durchhaltens, eben auf einer Bank in einem Park zu wohnen. Auch dazu muss man einen Menschen kennen, der ein Bankkonto hat. Es gibt viele Wunder, die nicht weiter auffallen. Ich laufe auch gerne in den Sonnenstrahlen bei solchen Gängen, um die man nicht herum kommt. Das Visa ist teuer, 140 Euro, jedes Jahr teurer. Ach, dachte ich, als die lange Prozedur der Formulare vollbracht war, schau ich doch mal schnell bei H&M, oder woanders, rein. Tue ich aber nicht, was soll ich da. Mir fällt absolut nichts ein, was ich brauchen könnte. Ich fahre lieber zurück, trinke dort entspannt einen guten Kaffee und starre ins Grün. Ich bedaure, nicht mit dem Mann gesprochen zu haben. Wenigstens zu erfahren, wo er herkam und ob er sich überhaupt in unserer Sprache verständigen kann. Wenn so ein Mensch freundlich lächelt, denkt man, das kann nur der Wahnsinn sein. Vielleicht war es ein Mensch, der sein Schicksal akzeptiert hat, nun, in größerer Nähe des Todes.