Es kann einen regelrecht in einen Denktaumel versetzen, wenn man die stocknüchtern machende Tatsache einmal gründlich vor Augen führt, dass alles, was wir erleben und sagen und denken und vordenken und nachdenken und tun und handeln, alles in zweifachem Sinn Geschichte ist. Einmal als sich selbst gestaltendes Gesamtwerk, als Weltgeschichte, und dann auf den einzelnen, persönlichen Ebenen von uns Sterblingen, die wir uns unter den vorgefundenen Bedingungen zurechtfinden, und, solange wir atmen, dabei sind, mitgestalten und unsere eigene Geschichte dazugeben. Ich denke, es gehört zur persönlichen Freiheit, dass man weiß, dass man die Geschichten auch anders erzählen kann. Was wissen wir schon wirklich von Sokrates (z.B.). Na ja, wir wissen d a s, was Platon uns erzählt hat, und man erkennt diese Stimme als authentisch. Aber es ist dennoch Platons Geschichte. Sokrates war im ‚Gastmahl‘ der einzige, der keine eigene Lehre zum besten gab, sondern die von Diotima, von der er sich (angeblich) belehren ließ über das angemessene Erkennen des Eros. Aber niemand weiß, ob Diotima wirklich gelebt hat, oder hat Plato sie erfunden, weil er wusste, dass das ein brenzliges Thema ist. Also sie war ja gar nicht persönlich da, sondern war über Sokrates zugeschaltet. Eine Frau war ja auch beim philosophischen Herumlungern mit schönen Jünglingen und Wein gar nicht mitgedacht. Vielleicht waren die Frauen ja auch mit Amazonenheergründung beschäftigt, oder litten wie Xantippe unter dem Fluch der Bedeutungslosigkeit. Es kommt darauf an, wo und wem und wie man eine Geschichte erzählt, denn jede Geschichte lässt sich auf vielfache Weise erzählen. Sokrates hat dann vor allem im letzten Teil seines Dramas eine Anekdote geliefert, die ihn mühelos zu den Unsterblichen transferiert hat. Im Angesicht des nahen und gewissen Todes hat er noch einmal Ausdruck von seinem Denken geschenkt und hat gesagt, was er sagen wollte. Und kein Mensch erinnert sich mehr an die Dummköpfe, die ihm den Mund stopfen wollten, wohl wissend, dass das, was er sagte, für sie nicht erreichbar war, und glaubten, ihn nun zu vernichten. Da konnte man u.a. von Sokrates lernen, wie man siegt, ohne siegen zu wollen. Natürlich ist auch Sokrates nur ein Symbol und eine Geschichte. Aber die Handhabung des einzelnen Schicksalsdramas macht schon einen Unterschied, den man ganz persönlich bedenken muss oder kann.


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