sommern

Kein Zweifel: da ist er. Der Sommer. Ganz benommen wird man auf einmal von seinem Erscheinen und seiner Leuchtpräsenz. Jetzt kommt das auch meinen stets etwas lichtgedämpften Fenstern zugute, sie dienen als südliche Schattenfensterläden, draußen die Wiese als Meer, und überall diese berauschende Fülle, erdrückend wie eine Überdosis Mutterarme. Tür und Tor stehen weit offen, in den Diebesnaturen muss es schon fiebern. Da muss doch was los sein während der EM-Spiele, wenn besagte Herumschleicher sich darauf verlassen können, dass die Augen der Wohnenden an einer Bildfläche kleben. Vor allem nachmittags, in der schwülen Phase, weiß man, dass man nichts Produktives mehr anfangen wird, vielleicht Wäsche waschen, oder einfach warten, bis es abkühlt. Man muss den Sommer ja jedes Mal neu kennen lernen. Immerhin hat man zwischendrin unsäglich viel erlebt, wovon zumindest ein kleiner Hauch übriggeblieben ist, den man jetzt gern im Haar spürt. Komisch, dass keines der Bücher, die man da zum Durchlesen bereitliegen hat, einen ansprechen. Die Augen wollen gar nicht sprechen, lieber mit gesenkten Lidern ins pralle Here and Now starren. Da keine weiteren Muskeltätigkeiten des Gehirns bemerkbar sind, meidet sich der Algorithmus, der neue Butler unserer Devotionsbereitschaft, ich hebe den Hörer ab: ja, stimmt, ich habe etwas hineingeschaut in den Fall Wade W., den Mörder zweier Frauen, und habe vor allem in sein Gesicht geschaut, wo auf eine durchschimmernde Intelligenz grässliche Tätowierungen plaziert wurden von ihm. Links und rechts von seinem Mund eine nach oben führende Narbe, der Mund die offene Wunde, an einer Schläfe steht „glory“. Ich überquere innerlich einen riesigen Abgrund und komme bei einem Kind an, dass wegen Armut abgegeben wurde. Kein Grund, andere Menschen abzuwürgen. Er wird sterben. Die Beteilgten gieren oft nach dem Schuldeingeständnis, nach Reumütigkeit, aber es gibt keine Aussicht auf mildernde Umstände. Er sieht aus wie einer, der schon gestorben ist, bevor er stirbt. Ach ja, der Sommer. Die Vögel. Die Blumen. Die Beeren. Der Wald. Das Wasser.

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