Als ich gehört habe, dass er gestorben ist, hatte ich nicht gleich den Impuls, dort hinzugehen, obwohl ich ihn und seine Familie schon sehr lange kenne. Als erstes fiel mir nämlich eine Szene ein mit ihm, die aus wahrhaft dunkler Erinnerung hervorkam. Er war einer der 56 Neugeborenen, die eine aus Kalkutta hier angesiedelte Ärztin der Welt erhalten und bei sich aufgenommen hat im Laufe langer Zeit. Die Mütter wollten entweder abtreiben oder ließen das Kind nach der Geburt zurück; es gab viele Gründe, doch nur e i n e Tatsache: die Mutter wollte oder konnte das Kind nicht bei sich haben. Dr. Shyama, oder Shyama Bai, wie wir sie nannten, hat sie auch verheiratet, und Kalu und Rekha wohnten auf geschenktem Land und hatten vier Kinder (Rekha hat sie immer noch). Mit Rekha hat mich mal eine lange Reise verbunden, da wir Shyama Bai zu einer Augenoperation nach Kota begleitet haben, die mich in der Nähe haben wollte. In dieser Zeit saß ich oft neben ihr. Sie war Gynäkologin und erlaubte mir, in ihrem kleinen Hospital 3 Geburten mit zu erleben (uffh!), weil sie der (richtigen) Meinung war, dass ich dem Leben auf dieser Ebene näher kommen müsste (OmG). An einem dieser Tage saß ich mal wieder neben ihr. Sie war damals schon 85 Jahre alt und konnte schlecht sehen und hören. Da kam Kalu herein, der Alkoholiker war, und ließ sich von ihr unter dem Vorwand, ein Dokument zu suchen, den Schlüssel für ihren Schrank geben. Da sah ich, dass er sich einen ordentlichen Packen Geld in die Jacke schob und ging. Sollte ich es ihr sagen? Ja, habe ich gemacht, gefasst auf ihren Schock. Aber sie war gar nicht geschockt. „Das macht er immer“, sagte sie, „was soll ich tun?“ Naja, dazu wäre mir einiges eingefallen, aber mich hat ihre Reaktion trotzdem berührt. Als sie tot war, hörte Kalu auf zu trinken (dachte ich immer). Ich habe ihn noch bei zwei Hochzeiten kurz gesehen. Alles schien freundlich und friedlich. Rekha, seine Frau, ist Hebamme, eine starke Frau, die meistens das Geld für alle verdient hat. Heute Nachmittag gehe ich zur Trauersitzung. 12 Tage!, sitzen Angehörige und Freunde im Haus herum, die Männer müssen die Haare schneiden bzw ihr Haar dem Toten opfern. Es wird viel geschenkt und gegessen und nur Gutes über den Toten erzählt (macht ja Sinn). Jetzt sag ich auch noch was Gutes über Kalu. Letztes Jahr, als ich ihn bei der Hoczeit seiner jüngsten Tochter gesehen habe, machte er auf mich den Eindruck eines liebevollen Vaters. Wenn das kein Lob ist!
So, nachdem ich dann das Lob aus mir herausgehebelt hatte, bin ich nachmittags zu der Trauergemeinde. Kaum fiel mein Schatten an die offene Türschwelle, hob drinnen lautes Pflichtschluchzen an. Rekha saß auf einem erhöhten Kissen, neben ihr das blumenumkränzte Bild von Kalu, ihr Gesicht mit tiefem Schleier bedeckt. Nach einer liebevollen Umarmung und ihrer Freude, dass ich gekommen war, schien es mir unmöglich, mich zu dem Kreis der Frauen zu gesellen (die Männer rauchten draußen), und ich ging zu ihrer Tochter ins Nebenzimmer. Mit Kusum verbindet mich auch eine Reise, denn sie war vor Jahren mitten im Studium plötzlich halbseitig gelähmt, und wir fuhren zu einem „heiligen“ Ort, wo nur Gelähmte und Gehbehinderte mit Angehörigen waren, um bei eienm Heiligen zu beten, bei dem Wunderheilungen angeblich häufig sind. Sie wurde auch geheilt danach, was mich neugierig machte. Ich fragte einen Arzt, der mir sagte, dass diese Lähmungen zu 80% von selbst wieder verschwinden. Jedenfalls sprach ich dann mit ihr über ihren Vater und war überrascht zu hören, dass er bis zu seinem Tod schwer getrunken hat und außerdem von Opium abhängig war und was sonst noch des Weges kam. Als sie ihn vorgestern ins Kranklenhaus brachte, sagten die Ärzte, seine Venen seinen vom Missbrauch so zerschlissen, dass nichts mehr zu machen war. Dann war er auch gleich tot.
Es gibt für eine indische Frau einiges zu schluchzen, wenn der Mann geht. Sie muss ihren Schmuck ablegen, darf nicht mehr an Zeremonien teilnehmen, wird auf der Straße nicht gern gesehen, weil der Anblick einer Witwe als unglücksverheißend gilt. Da möchte man gerne selbst laut aufschreien, wie sie sich hineinfügen in diesen irren Quatsch, den mal ein krankes Gehirn ausgeknobelt hat, und ähnlich kranke Gehirne darin was Profitables fanden. Kusum war angenehm nüchtern und realitätsfähig. Vor zwei Jahren hat sie einen Mann auf der Bank, bei der sie arbeitet, kennengelernt und geheiratet. Eine Liebesheirat! Deswegen bin ich einen Tag zu ihrer Hochzeit. Es war schön zu sehen (wie immer), wenn Liebe und gegenseitige Wertschätzung spürbar und sichtbar sind. In der Zwischenzeit kam viel Lachen und Erzählen aus dem Nebenzimmer. Bei meiner Verabschiedung bemühte sich Rekha noch, die üblichen Kernsätze (das wirklich Traurige!) zu sagen: jetzt ist Schluss mit Welt! Nix mehr! Vorbei, aus! Dabei ist sie eine exzellente Hebamme, hat ein schönes Haus und kann machen, was sie will. Sie waren halt auch aneinander gewöhnt, meinte Kusum, trotz all des Leides wegen seiner Sucht. Amen.
So, nachdem ich dann das Lob aus mir herausgehebelt hatte, bin ich nachmittags zu der Trauergemeinde. Kaum fiel mein Schatten an die offene Türschwelle, hob drinnen lautes Pflichtschluchzen an. Rekha saß auf einem erhöhten Kissen, neben ihr das blumenumkränzte Bild von Kalu, ihr Gesicht mit tiefem Schleier bedeckt. Nach einer liebevollen Umarmung und ihrer Freude, dass ich gekommen war, schien es mir unmöglich, mich zu dem Kreis der Frauen zu gesellen (die Männer rauchten draußen), und ich ging zu ihrer Tochter ins Nebenzimmer. Mit Kusum verbindet mich auch eine Reise, denn sie war vor Jahren mitten im Studium plötzlich halbseitig gelähmt, und wir fuhren zu einem „heiligen“ Ort, wo nur Gelähmte und Gehbehinderte mit Angehörigen waren, um bei eienm Heiligen zu beten, bei dem Wunderheilungen angeblich häufig sind. Sie wurde auch geheilt danach, was mich neugierig machte. Ich fragte einen Arzt, der mir sagte, dass diese Lähmungen zu 80% von selbst wieder verschwinden. Jedenfalls sprach ich dann mit ihr über ihren Vater und war überrascht zu hören, dass er bis zu seinem Tod schwer getrunken hat und außerdem von Opium abhängig war und was sonst noch des Weges kam. Als sie ihn vorgestern ins Kranklenhaus brachte, sagten die Ärzte, seine Venen seinen vom Missbrauch so zerschlissen, dass nichts mehr zu machen war. Dann war er auch gleich tot.
Es gibt für eine indische Frau einiges zu schluchzen, wenn der Mann geht. Sie muss ihren Schmuck ablegen, darf nicht mehr an Zeremonien teilnehmen, wird auf der Straße nicht gern gesehen, weil der Anblick einer Witwe als unglücksverheißend gilt. Da möchte man gerne selbst laut aufschreien, wie sie sich hineinfügen in diesen irren Quatsch, den mal ein krankes Gehirn ausgeknobelt hat, und ähnlich kranke Gehirne darin was Profitables fanden. Kusum war angenehm nüchtern und realitätsfähig. Vor zwei Jahren hat sie einen Mann auf der Bank, bei der sie arbeitet, kennengelernt und geheiratet. Eine Liebesheirat! Deswegen bin ich einen Tag zu ihrer Hochzeit. Es war schön zu sehen (wie immer), wenn Liebe und gegenseitige Wertschätzung spürbar und sichtbar sind. In der Zwischenzeit kam viel Lachen und Erzählen aus dem Nebenzimmer. Bei meiner Verabschiedung bemühte sich Rekha noch, die üblichen Kernsätze (das wirklich Traurige!) zu sagen: jetzt ist Schluss mit Welt! Nix mehr! Vorbei, aus! Dabei ist sie eine exzellente Hebamme, hat ein schönes Haus und kann machen, was sie will. Sie waren halt auch aneinander gewöhnt, meinte Kusum, trotz all des Leides wegen seiner Sucht. Amen.
Übrigens: Zwei der Kinder sind schon in Hardwar mit der Asche, um das Karma des Verstorbenen für die nächste Runde aufzulichten.