(Kosmische Gauklerin mit ihrer Mondtochter)
Wenn es stimmt, dass man sich d a ruhig niederlassen kann, wo Menschen singen, dann habe ich gut daran getan, mich viel hier niederzulassen, denn noch habe ich keinen Einheimischen getroffen, der nicht singt. Es fängt mit den Mantren an und geht in die beliebten Bollywoodgesänge über, die von d e m singen, was alle gern sagen würden, wenn sie so schöne Worte hätten. Deswegen singen sich die SchauspielerInnen auch in den Filmen gegenseitig an, denn im Gesang steckt vieles drin, was man mit Worten nicht sagen kann. Was die Mantren betrifft, so kann man ein paar Silben oder auch nur ein einziges Wort den ganzen Tag lang singen, denn es gäbe niemanden, der das verstörend finden würde, im Gegenteil, es wird empfohlen. Zum Beispiel das Wort „Ram“ kann gesungen und gesprochen werden, und man kommt gar nicht drum herum, denn Ram ist gleichzeitig König und Gruß und Gott, vielleicht so, wie man ‚Grüß Gott‘ auch mit ‚Grüß Gott‘ beantworten kann, obwohl man gar nicht vorhatte, ihn zu grüßen. Morgens fahren Männer auf Motorrädern gerne laut singend durch den noch leeren Bazaar und schmettern den göttlichen Angstvertreiber in die frische Luft. Frauen singen meistens in Gruppen, aber alle haben Lieder, und in den Gesängen wird von dem erzählt, was alle verstehen, ähnlich wie Witze, die ohne den Hintergrund der Kultur schwer zu vermitteln sind. Ich kenne nur ein einziges indisches Lied, kann aber damit Wunder bewirken. Neulich habe ich einem Dreijährigen ein gefährliches Instrument aus der Hand nehmen können, weil ich das Lied im Takt mit dem Eisen begleiten konnte, was ihn zum Mitklatschen veranlasste. Manchen Ländern, wie z.B. Deutschland, ist vielleicht das Singen vergangen. Es ist ja irgendwie schön für einen selbst, wenn ein Lied aus einem herauskommt, mit dem man die Welt besingen kann. Erzählen ist auch sehr beliebt hier, das kann auch jeder. Es gibt sehr schlichte, aber wirkungsvolle Formen, mit denen man sehr viel zu vermitteln vermag, wenn man z.B. einfach aufzählt, was es irgendwo und irgendwann mal gab. Der Priester zählt also vor einer riesigen Menge PilgerInnen auf, was es alles hier gibt, wodurch vieles klar wird, warum sie gekommen sind. Er sagt etwa: Es gibt den Schöpfer, und seine Frau, und seine Geliebte, und es gibt den See, die heiligen Kühe, die Unsterblichkeit, für die man das Wasser umrundet und dann darin badet. Dann weist der Priester darauf hin, was sie selbst, die Pilger und Pilgerinnen, alles haben. Da sind die Ahnen, da ist der Vater und der Großvater, da ist die Mutter undsoweiter. Die Menschen merken dadurch, was es alles gibt, denn die meisten sind ständig so beschäftigt, dass sie gar nicht wissen, was alles da ist. Die Geschichten handeln vor allem von den Göttern, da kann man unbesorgt hinsehen und hinhören, schließlich sitzt man endlich in der Geschichte drin und merkt selbst, wie es ist. Oder auch nicht, es fällt ja nicht weiter auf. Das Wichtigste ist die bloße Anwesenheit, und natürlich der Segen des Ortes. So hält man aufrecht, was unzerstörbar scheint, obwohl sich das, was es gibt, ständig verändert.