Als meine Augen heute früh beim Nach-Denken über unsere gestrigen Gespräche (ich verbringe hier auf Einladung Shivanis drei Tage, da die junge Familie aus Delhi gemeinsame Freunde sind) über die Gästebettdecke streiften, fiel mir auf, dass die Essenz unserer stundenlang dauernden Unterhaltungen bereits auf der Baumwolle gedruckt waren. In der Mitte (Leintuch) die Proteste der Studenten, links und rechts (Kopfkissen) die beiden Parteien, die sich kriegerisch gegenüberstehen, für und gegen das Gesetz, um das es m.E. gar nicht mehr geht, sondern der Kampfgeist ist geweckt, die Sache läuft und die Folgen sind unabsehbar. An einem bestimmten Punkt, wenn es schon genug Tote und Verletze gegeben hat, ist es fast unmöglich, den Aufruhr wieder einzudämmen. Auch psychische Phänomene wie die Lust am Untergang schleichen sich ein. Vielleicht meinte meine Mutter das auch, als sie manchmal in ihren Kriegsanekdoten vom ‚Tanz auf dem Vulkan‘ sprach, eine Art innerer Enthemmung im Angesicht lebensbedrohender Gefahren. Oder wie die indische Hausfrau in das Mikrofon sagte, dass sie bereit sei, für die Sache zu sterben. Klingt vermutlich irgendwie tapfer in Revoluzzerohren, aber meine Güte, wieviel sinnloses Menschengemetzel ist dabei immer wieder passiert, und dann der schmerzhafte Rückblick auf die ‚Sache‘, für die gestorben oder als verkrüppelter Mensch heimgekehrt wurde. Auch in unserem Freundeskreis hat jede/r seine und ihre Nummer drauf. Narendra Modi ist ein Reizthema, Da ich mir in Momenten schon vorkomme wie eine auf das rettende Schiff (des Beisichseins) rufende Kassandra, habe ich lieber die auf dem Kopfkissen erscheinenden Kriegsgelüste gewählt als das neueste im Netz tausendfach aufgetauchte und ausgetauschte Video von Hitler, der mit Modis Stimme verblüffend gut synchronisiert ist. Gerne würde ich mich mal mit diesen Kreativlingen unterhalten, aber das Netz selbst ist ein unübersehbares Labyrinth, und immer weniger reizt mich die Irrfahrt in sein Dunkelfeld. Niemand würde heute bezweifeln wollen, dass der Geist erweitert werden kann durch das Starren auf kalte und leblose Bildflächen, doch kann man auch nichts an der Tatsache ändern, dass es ein Außen ist, und ein Außen wird es bleiben, lange, sehr, sehr lange. Bis die, die das Ganze überleben, eines Tages vielleicht wieder zu sich kommen, aber vielleicht auch nicht. Alles, über was wir auch hier am Tisch reden, hat seine vielen Seiten, auf die mal von hier, mal von da ein Licht fällt, bis wir den erschöpften Synapsen eine Pause gönnen und uns für einen Film bei Netflix entscheiden. Aber kann man das eine Erholungspause nennen, denn der Film behandelt farbenprächtig und mit Gesang und Tanz das letztendliche Gemetzel zwischen Hindus und Muslimen über die Teilung Indiens und Pakistans. „Kalank“ heißt der Film wunderbar in (indische) Szene gesetzt und emotional hochgeheizt. „Kalank“ ist so etwas wie ein Dunkelfleck, ein Makel, und bezieht sich in diesem Film auf die als unakzeptabel gesehene Liebe zwischen einem Muslim und einer indischen Frau und noch weiteren komplizierten Zusammenhängen, in denen der gesellschaftliche Makel ein- und ausgeht. Und es ist auch eine Geschichte aus den Jahren 1945 bis 1947, als durch eine fehlgeschaltete Entscheidung in beide Richtungen Züge mit muslimischen und indischen Leichen fuhren, jeder auf seinem eigenen Weg in den zerstörerischen Hass. Aber nun sind es über 70 Jahre Frieden, den wir auch in Deutschland öfters dankbar begrüßen, obohl er immer mal wieder bedroht wird. In den Himmelreichen der Diktatoren gibt es keine verlässlichen Zusagen, und die Medien machen es möglich, dass sie sich gegenseitig Form und Stimme leihen. Also doch kein Hoffnungstrahl für die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins? Wir werden sehen, (u.a.) der Titel eines Gedichtes von Faiz Ahmad Faiz, das gerade in aller Munde ist im Kontext seiner politisch geäußerten Ansichten.
Wir werden sehen.