Das Bild habe ich unter „Jeremiade“ gefunden, ein schönes Wort für große Klagen, die durchaus berechtigt sind und manchmal einen einzigen Menschen betreffen wie hier Jeremia, der über den Fall Jerusalems klagt und allein auf der Treppe steht, weil alle, die den großen Schmerz spüren, alleine sind. Und nur wir wissen, wenn uns das Weh ergriffen hat, was das mit uns machen kann, wenn nur noch das Nichts einen anlächelt und ermöglicht, tiefste Bedeutung und völlige Bedeutungslosigkeit gleichzeitig zu erfahren, sodass einen der Schock erfasst, dann die Ernüchterung, dann die Erneuerung, auch Licht am Ende des Tunnels genannt. Aber ‚Jeremiade‘ heisst auch ‚Jammerrede‘, eine weitere Konnotation, mit der wir ebenfalls vertraut sind. Menschen jammern gern herum über alles Mögliche, was nicht ihren Vorstellungen entspricht, das können Vorgesetzte sein oder Autos, oder Politiker, die man unfähig findet, auch wenn sie ihre Sache einigermaßen gut machen, denn auch das Jammern gibt Macht, ein bisschen Macht, denn man sagt hey, mir passt das nicht, das müsste anders sein. Seltern weiß der oder die Jammernde wie. denn es fehlt der Impuls zum Herauskommen aus dem Jammertal, wo man beim fröhlich tuenden Durchwandern auch andere anstecken kann, und dann kann man zusammen jammern. Gerade kam ein Nachbar vorbei und klagte über die Wildschweine, die den ganzen Weg verschandelt hätten, und sie wären schon so nah, dass wir unsere Kühltruhe aufmachen sollten. Ich musste einen Moment innehalten, um zu verstehen, was er meinte, und fühlte mich dann genötigt, ihn daran zu erinnern, dass wir, was er doch sicherlich wüsste, Vegetarier:innen seien. Nicht, dass ihn das interessierte, er wollte nur jammern, und zum Jammern dient die ganze Welt, auch Wildschweine. Riesenzähne hätten sie, diese Viecher, und wenn sie einen ins Bein beißen würden, dann wäre das weg. Ich schlug vor, er solle den Förster anrufen, aber um Lösungen ging’s ja nicht. Es ging ums Jammern, das kann auch ein wenig erleichtern. Das Klagelied aber kann etwas Großartiges sein, wenn der Schmerz des Vergehenden und die Verschlagenheit des Menschen und die Aussichtslosigkeit auf seine Besserung das Gemüt so tief erfasst, sodass nur noch die Rede hilft, die nicht mehr angewiesen ist auf Zuhörerschaft oder Lösungsphantasien, sondern man kann dann zu den Wolken sprechen oder zu den Wänden oder zu den Göttern oder zu sich, denn auch das unerträgliche Leid hat eine Sprache, die man empfangen kann.