Während all diese Schreckensszenarien, die sich in der Welt entfalten und dann wieder zusammenfallen mit den vorprogrammierten Täuschungen und Enttäuschungen, während also all das, was so vor sich hintobt an Unlösbarem und schwer zu Entscheidendem, lief bei uns im Haus eine Frau herum, die gerade noch eine just geborene Maus vor den Raubtierfängen der Katze gerettet hatte. Und weil die Mutter der Maus nicht zu erspähen war, entschied sie sich, den Winzling wenigstens so weit durchzubringen, dass es oder er (oder sie?) sich selber da draußen zurechtfinden kann. Auch das Netz weiß nicht alles, aber offensichtlich gab es doch für diese Situation schon einige Tips, wie man so ein Mäuseleben erhalten kann. Ich war nur Zeugin des Vorfalls, nannte das Baby aber spontan „Henry“, und man weiß ja, wie schwer es ist, etwas dem Tod zu überlassen, das bereits einen Namen trägt. Henry hatte eh schon eine gemütliche Wohnstube mit sehr weicher Wattierung, und unter dem Stoff wurde ein leeres Pastetentöpfchen regelmäßig erwärmt. Die Frau, die jetzt überraschend Mutter geworden war, nahm Henry mit zur Arbeit, um ihn dort mit der neu gekauften Aufpäppelungsmilch und der dünnen Futterspritze, die in den winzigen Mund passte, alle paar Stunden zu nähren. Kein Zweifel, die Flüssigkeit wurde geschluckt. Auf einmal wird man sich der riesigen Verantwortung bewusst. Man hat sich eingemischt in die Vorgänge, jetzt kann man nur noch schauen, wie man das handhabt. Man kann sich ja, selbst wenn man wollte, nicht ausmalen, was im Hintergrund der Katastrophe des Flughafens von Kabul alles für Gespräche laufen. Wen rauslassen, wen dem Alptraum möglicher Exekutionen überlassen, welchen Frauen niemals mehr dazu verhelfen können, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Und doch ist es das Schicksal, das sich entfaltet. Und alle müssen nicht, aber schauen trotzdem zu, wie sich das Menschenmögliche entpuppt, in dem Abgründe und Höhenflüge gleichermaßen auf die mittlere Ebene einwirken und dort ihre Wirkungskraft zeigen. Ob Henry mehr Daseinsberechtigung hatte wie Wladimir Putin, zum Beispiel. Um Henry wurde jedenfalls redlich gekämpft, dann kam die Nacht, und er hat sie nicht überlebt. Selbst als Kronzeugin des Falles wurde ich sehr traurig. Ich hatte die Vollkommenheit dieses Wunders der Natur sehen dürfen, diese unendliche Zartheit, dieses Ausgeliefertsein an die nackte Existenz, dieses erleichterte Gefühl, ihn in der Obhut eines anderen zu wissen. Gestern habe ich Henry photographiert, aber das Bild ist ihm nicht gerecht geworden. Es geht ja immer um Leben und Tod, und man kann jetzt entweder bei Henry oder dem Leben an sich oder dem eigenen Herzen bedanken, dass es sich noch bewegen lässt. Denn es braucht ab und zu doch eine erhöhte Aufmerksamkeit.