Dieses Graffiti-Bild habe ich gestern in einer kleinen Unterführung auf dem Weg zu meinem Grundstücktermin gemacht. Es kurbelte auf einerseits humorvolle, aber auch präzise Weise meine momentane Einstellung zu persönlichen Geschichten an, denn ich sehe immer mal wieder die Ähnlichkeit zwischen persönlichen Geschichten und antiken Dramen, wo man die DarstellerInnen gerne Helden und Heldinnen nennt, während man die eigene Geschichte ja meist weniger als eine abenteuerliche Heldenreise wahrnimmt, obwohl Bedrohungen und Hindernisse und unerwartete Schicksalsschläge permanent nicht nur lauern, sondern sich tatsächlich auch als Tragödien entfalten und zeigen. So war ich gestern zu Gast bei sehr angenehmen Freunden meiner Mutter und merkte u.a. in den angeregten Unterhaltungen, dass ich mich mit Menschen unterhalte, die meine Mutter kannten und sie schätzten, und fühlte mich manchmal in kurzen Momenten wie eine Tochter. Oder es war eher so, dass ich mich in Gedanken meiner Mutter gegenüber wie eine Fremde fühlte, die auf einmal, wie vom Blitz des Zeus getroffen, Tochter wurde. Einmal sagte ich zu meiner Mutter, es war als Kompliment gemeint, dass ich sie nicht besuchen würde, weil sie meine Mutter ist, sondern weil ich sie mag. Sie war empört und erklärte mir deutlich, dass sie immer meine Mutter sein würde. Damals entging mir, dass ich auch auf einer bestimmten Ebene immer Tochter sein würde. Es geht ja zum Glück nicht darum, dass ich mich vom Kopfschütteln anderer Menschen abhalten lassen muss, meine Empfindungen in Worte zu fassen, da sie nur über diesen Weg zum Bewusstsein gelangen. Als ich in diesem Kontext mal persönlich darüber reden konnte durch eine konkrete Verbindung, konnte ich schon spüren, dass da ein Schmerz mitlief als Gefühl, aber dass ich auch aus meinem eigenen, als gelungen und stimmig erlebtem Leben eine natürliche Distanz dazu spürte. Meine Mutter war ein freier Geist, es fehlte ihr am Interesse des Mutterdaseins. Ich konnte dadurch nicht wirklich einen Schaden feststellen. Es ist sicher für eine Tochter von Bedeutung, gerade von der Mutter als getrenntes Wesen wahrgenommen und auch dafür geliebt zu werden. Wenn ich in Indien der Mutter meiner Freundin Lali mal vermitteln möchte, was sie da für eine prächtige Tochter hat, versteht sie nicht, von was ich rede. Sie hat eine geradezu verblüffende Blindheit ihrer Tochter gegenüber und sieht sie vermutlich als so etwas wie eine automatische Verlängerung von ihr. Lali kam auch, wie üblich, nur durch Heirat von der Mutter weg. Da die Mutter den Ehemann der Tochter wählt, ist es unangenehm, wenn da, wie bei Lali, etwas schiefgeht, wofür sie, die Tochter, verantwortlich gemacht wird. Es ist eine Schande, nach Hause zurückzukehren, weil man es nicht (wie die Mutter) richtig gemacht hat. Da war ich doch sehr frei, auch wenn ich nicht weiß, was und ob mir meine Mutter anderes gewünscht hätte, als ich selbst gewählt habe. Sie hatte reichlich Grund, besorgt zu sein, aber vielleicht war sie es auch nicht. Wenn man sich dann mehr in fremden Ländern als im eigenen Land aufhält, entstehen weitere Gefühle, die jeweils unterschiedlich gedeutet werden. Das war eines der Themen, die gestern am Tisch auftauchten: was ist „Realität“. Oder dieses Buch, das ich hier herumliegen habe mit dem Titel „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ Die Selbstverständlichkeit, mit der wir mit Begriffen oft umgehen, kann sich nur dadurch erweitern, dass wir erkennen, dass fast alles, was wir selbst als „real“ bezeichnen, von anderen anders erfahren wird, wo man durch die plötzlich auftauchende Komplexität des Themas auch mal ins Staunen geraten kann. Ich denke, es ist immer förderlich, die eigenen Weltordnung großzügig und so angstfrei wie möglich zu erweitern.