Letztes Jahr habe ich das Buch „Verlorene Narrenfreiheit“ von Christina Thürmer-Rohr, der (ehemaligen) Professorin an der TU Berlin mit Schwerpunkt „Feministische Forschung“ nach Indien mitgenommen, u.a. weil mir ihre hochintelligent durchreflektierte Thematik bei meinen Gesprächen mit indischen Frauen hilfreich schien. Nun habe ich das Buch unter den wenigen Büchern, die ich hier aufbewahre, wieder entdeckt und irgendwo einen ihrer Texte aufgeschlagen, an den ich mich gar nicht erinnern konnte, der mir aber jetzt, im Kontext eigener Kontemplationen, hochaktuell schien. Vielleicht hatte mich der christliche Kontext vorher nicht so angesprochen, mir aber jetzt beim Nachdenken über die indische, von Religiosität tief durchtränkte Lebensweise wervolle Parallelen aufgezeigt. Ich kann den Zwiespalt, um nicht „Abgrund“ zu sagen, zwischen mir und diesem von zahllosen Göttern geprägten Leben der Hindus nur überbrücken, weil ich mich so gut darin auskenne, obwohl ich mich langsam und unauffällig aus allen religiösen Zusammenhängen herausgelöst habe. Nun ist es aber so, dass so ziemlich alles, was ich hier schätze und liebe, durch religiöses Verhalten geprägt ist (mal abgesehen von der sich rasant entwickelnden kriminellen Ebene). Menschen wollen „gut“ sein, was locker dazu führt, dass alle „guten Handlungen“ nur für den Zweck der persönlichen Erlösung oder Befreiung gemacht werden. Thürmer Rohr stellt einerseits die Frage, ob die westliche Welt stagniert, weil sie kein religiöses Motiv mehr hat und man dadurch die fortschreitende Entmenschlichung beobachten kann, weil Menschen sich „hohen“ Werten nicht mehr verpflichtet fühlen. Andrerseits taucht hier die Frage auf, wo zwischen Gottesliebe und Selbstliebe die „Nächsenliebe bleibt. Es ist doch tatsächlich so, dass man den Menschen kaum zutraut, aus sich selbst heraus und durch gegenseitiges Interesse aneinander sich d e n Werten zu verpflichten, die dem eigenen Anspruch an „Menschsein“ genügen bzw. entsprechen. Da es immer der Instanz „Gott“ und seinen VertreterInnen zugeschrieben wird, das sogenannte Wissen zu lehren und dadurch unvorstellbare Abhängigkeiten und kindliche Verhaltensweisen zu erschaffen. Da sitzt immer einer höher und weiß es angeblich besser, so, als wäre es einfach unmöglich, ohne diese Oben-Figur Mensch zu sein und zu erkennen, wer man selber ist und was man auf diesem Planeten machen kann und möchte. Und dass man an Menschen einfach auch Freude haben kann ohne den ganzen Überbau an „spirituellem“ Erreichenwollen. Nun sitze ich halt auch hier in ihrem sorgfältig geistig gebasteltem Raum und bin Nutznießerin davon, wenn auch Ungläubige. Dass die großartigen Rituale und ihre Wunderwirkungen schwer durch „nur“ Menschliches zu ersetzen sind, finde ich bedenkenswert. Muss der Mensch also doch durch eine höher angesiedelte Instanz in die Vertikale gezogen werden, damit er aus der Enge des begrenzten Menschseins herausgehievt werden kann? Auch ich habe ernsthaft die ganzen Prozesse durchlaufen: das Erleben der Gottesnähe, die begeisterten Anstrengungen der meditativen Praktiken, dann die logisch erscheinende Reifung in eigenes Sein hinein mit dem natürlichen Entschwinden des Gottes aus meiner Welt. Dass das kosmische Geschehen an sich ein Wunder ist und bleiben wird, ist jenseits von Zweifel. Wer sollte es jemals erklären können!!?? Die uneingeschränkte Verantwortung aber für eigenes Denken, Handeln und Sein scheint mir das Thema der Stunde. Im Genuss reifenden und wachsamen Menschseins mit sich und anderen zu leben, was auch immer für jeden Einzelnen dazugehört.
Das Buch im Bild habe ich irgendwo gesehen und abphotographiert.