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Im Living Theater (aus New York und politisches Kult-Theater der Sixties) hieß eines unserer gemeinsam erarbeiteten Stücke „Mysteries and smaller pieces“. Wir verließen die Bühne und bewegten uns durchs Publikum mit direkten Fragen an einzelne Zuschauer:innen. Irgendwo in Amerika auf der Tournee traf ich dabei auf einen Mann, der mir sehr zugeschnürt vorkam, mit strengem Anzug und Krawatte, und ich fragte ihn, was er am liebsten tragen würde, wenn er ganz frei wäre von gesellschaftlichen Vorstellungen. Nach kurzem Tiefgang antwortete er: einen Kimono. Er wirkte überrascht über seine eigene Antwort, und diese Überraschung konnten wir teilen. So ging es mir gestern mit dem Kostüm von Yves Saint Laurent, als ich mich sofort darin verkörpert sah. Abgesehen davon sehe ich häufig so aus, obwohl ich mir die schwarze Gesichtsverhüllung nicht ganz trauen würde, spiele aber mit dem Gedanken, es einmal auszuprobieren, möglichst nicht am Rosenmontag, sondern dann, wenn alle Verkleideten schon das Aschekreuz hinter sich haben. Was könnte passieren, außer dass man mich für eine Muslima halten würde, was YSL etwas von der Schöpfungsehre entreißen würde, obwohl ich mir sein Kostüm ja gar nicht leisten kann, also meine eigenen Klamotten verwenden würde, was eh besser wäre bzw. ist. Nun ist ja jeder Mensch auf dem Planeten täglich kostümiert, und es wird bei der Wahl der Kostüme einiges enthüllt über Kultur, Gesellschaft und Individuen. Und wer hätte gedacht, dass z.B. Tätowierungen alle Schichten der Gesellschaft erreichen. Auf der nackten Haut soll noch gezeigt werden, wer man ist und welche Hauptsprüche man auf Lager hat. Kann man sich an wirklich allen Kostümierungen der Weltbewohner:innen arglos erfreuen, lebt alles in seiner eigenen, ganz persönlichen Ordnung. Aber so ist es nicht, sondern ein zu kurzes Kleid kann zum Ehrenmord führen. Deswegen denke ich am Rande des Rosenmontags, der in einiger Entfernung von mir seinen Verkleidungsglanz entfaltet, denke ich also, dass das eine super Einrichtung und Tradition ist, dass der offensichtlich zutiefst im Menschen verborgene Wunsch, einmal im Jahr jemand anderes zu sein als das, was man von sich kennt. Und dass man gemeinsam mit den Anderen anders sein kann, obwohl es auch hier von der Schöpfungskraft abhängt, also als wer man sich (noch) wahrnehmen kann.