Auf jeden Fall zermalmt sie, Kal, die Zeit, gerade ihre Kinder in Indien auf besonders grausame Weise. Die dunkle Zeit, wohlgemerkt, denn es gab und gibt auch die hellen Zeiten. Auch Hindus vermuten in der Finsternis ein Licht, ‚chit‘ heißt es‘, als Bewusstsein wird es übersetzt, nur ist es in der Finsternis schwer zu finden. Ich wurde gefragt, wie es mir geht mit den schrecklichen Nachrichten aus Indien, und schon in meinen Träumen fing ich an zu wandern durch die Jahrzehnte meiner eigenen Zeit, die ich ‚mein Indien‘ nenne. Meine Trauer ist alt über den Verfall dieser Kultur. Aktiv wurde sie, die Trauer, vor ungefähr zwanzig Jahren, oder vielleicht schon früher. Es fing an mit dem Fernsehen, als schnell klar wurde, wo das alles hingehen würde. Das persönliche Ich wurde ja gar nicht trainiert in der Entwicklung, sondern das Beste, was auf Erden gedacht wurde, galt als kollektives Gesetz, bis es leer geworden war von sich selbst und verschwand von der menschlichen Bildfläche, um sich direkt an der digitalen festzusaugen. Weil es so schnell ging und alle unvorbereitet waren, enthüllte es sich als ein Abgrund, der nicht mehr zu überbrücken war. Meine Aufenthalte wurden frei vom Nehmen, denn durch sie, die Anwesenden, hatte mein Leben ja die Richtung genommen, die mir ohne Indien unvorstellbar gewesen wäre. Das war nicht viel anders geistig, als die Nicht-Lehre von Sokrates nicht nur zu verstehen, sondern sie auch zu leben. Und bereichert wurde ich immer mehr durch die Dankbarkeit, dass ich eine Zeit kannte, und war es auch nur der Saum ihrer Blüte, wo das Unbegreifliche noch herrschte, vergleichbar nur dem Urchaos und seinen großen Ordnungen, ohne die nichts Lebendiges denkbar wäre. Und ja, ich starre auch fassungslos auf die Scheiterhaufen, denn auf ihnen brennt auch mein Indien dahin, denn das, was jetzt kommt, wird eine große Wunde sein, deren Heilung nicht garantiert ist. Ich wollte, ich könnte Modi vor einem hohen Gericht anklagen, aber ich kann es nicht. Auch er ist nur eine Puppe in der ‚Duplicate Maya‘, wie es die Inder nennen, also im gesteigerten Zerrbild des Illusionären, das man auch sonst zu den Weltphänomenen zählt. Wenn ich mich also versenke in meine Trauer, so spüre ich, dass sie alle Ebenen berührt, auch als Ozean erscheint, in den ich hineinstarre, ohne Resonanz zu erwarten. Einen Nu lang hatte ich Angst, ein verborgener Damm könnte brechen und das Wasser mich überfluten, aber ich sitze ja schon im Auge des Sturmes. Mein Schmerz ist gereift, das Fassungslose braucht keinen Widerstand mehr. Ich hatte im Bazaar rechtzeitig aufgehört, meine indischen Freunde zu fragen, wie es kommt, dass sie nicht sehen können, wer der Diktator an ihrer Spitze ist, der kleine Sohn also eines Teeladenbesitzers, der das im Naiven gestrandete Volk nun verkauft hat an Ebenen, wo nur noch die Verzweiflung herrscht. Atomkraft und keine Sauerstoffgeräte? Meine Wut ist an diesem Punkt vielleicht noch größer als mein Schmerz, denn ich habe es von innen her gesehen, wie es geschehen ist. Und nichts und niemand konnte es aufhalten. Ich erinnere mich auch daran, wie jüdische Klangmeister und Interpreten der klassischen Musik von ihrer Liebe sprachen für Beethoven und Mozart, so innig geliebt, bevor sie vertrieben, verjagt oder getötet wurden. Auch an mein jahrelang am sonnigen Ufer des Sees Geschriebenes muss ich denken, und dass es in einem von meinen Gedichten heißt, dass ich am Tod beteiligt bin als mein eigenes Selbst, und in mir Raum ist zum Sterben. Den kann ich jetzt öffnen, oder hat er sich selbst schon geöffnet.