(über)leben

Am Ende der vergangenen Jahre hat mich selten der Reiz ergriffen, noch einmal  alles durchzustöbern, was war und was nicht war, oder auf einem der Geräte die Weltkugel tanzen zu lassen und zu sehen, was nicht alles ausgebrütet wurde und zu diesem und jenem führte. Interessanter war vielleicht im Rahmen einer gewissen Automatik zu bedenken, zu was ich mich selbst führte, oder was mir so gar nicht zu gelingen schien. Die inneren Prozesse also, für die man verantwortlich ist. Das Jahr 2022 aber hatte es wahrhaft in sich, global und persönlich. Das Bild oben habe ich heute gewählt, weil  eine Schnur im Wasser liegt, und obwohl das Wasser gar nicht tief ist, kann man sich daran festhalten, oder man kann die Schnur loslassen und sich dadurch freier bewegen. Ja, der Krieg sitzt uns immer noch im Nacken. Es war beklemmend, noch einmal in solch drastischer Klarheit vorgespielt zu bekommen, wie ein Mensch, oder sage ich lieber Mann, ein einzelner Mann also derart viel Unheil anrichten kann, dafür fehlt offensichtlich ein Maßstab, den man anlegen könnte. Vieles deutete auf emotionale Entgleisung hin, und immerhin standen halbe Völker hinter ihren Entgleisten. Wenn man glaubt, d e n Führer gefunden zu haben, der einem die Last des eigenen Denkens erleichtert oder gar abnimmt, dann muss es schwer sein, die Schnur loszulassen, die man als Halt in der Blase so dringend brauchte. Also hält man lieber die fake news zusammen bis zum bitteren Ende. Kann es tröstlich sein, dass irgendwann alles enden muss?, inklusive man selbst in der großen Datei des Unergründlichen, das sich dem Fassbaren gerne entzieht. Ganz und gar unfassbar kam auch (für mich persönlich) der Tod von geliebten Wesen des Weges. Immer noch starrt es mich an mit rätselhaften Augen. Ah ja, der Tod, der fast die Liebe gefährden kann, aber nicht wirklich. Sind wir nicht auch Meister und Meisterinnen der Quantensprünge, dunkle Wander*innen im schicksalsgeprägten Höhlengestein, dann natürlich auch Denker und Denkerinnen im klaren Licht des Erkennens, auch wenn es uns zuweilen wie aufgedrängt erscheint. Denn wie kann ich dich vergessen, du entschwundener Mensch, und du, meine feline Begleiterin von so vielen Tagen und Nächten. Es geht nicht so leicht, das Leben ohne euch ganz wieder herzustellen. Aber die Freunde waren auch da, ich verbeuge mich in tiefster Dankbarkeit vor dem Segen der Freundschaft, der sich den Vergleichen entzieht. Zum Glück und nur wegen euch muss ich mir nicht vorstellen, ob ich dieses Jahr ohne euch überlebt hätte.

pratinidhi (Agentin)


Von Asha, als sie schreiben und malen
lernte und es schon ganz gut konnte
Gestern war die junge Frau bei mir zu Besuch, die ich gerne lächelnd als meine Tochter vorstelle, denn jede/r weiß, dass sie nicht meine Tochter ist, aber sie verstehen dadurch, um welche Art von Beziehung es sich handelt. Außerdem ist es in Indien üblich, dass man die Bevölkerung und ihre Einzelwesen mit familiären Bezeichnungen anspricht, wodurch Menschen auf subtile Weise eingebunden werden können in eine andere Aufmerksamkeit,  als sich dem oft gefürchteten Fremden gegenüber vorzufinden. Ob ich tatsächlich Muttergefühle für Asha empfand, dafür müsste ich mehr Erfahrungen mit Muttergefühlen haben. Wir haben ja alle eine potentielle Spur von allem in uns, aber diese Spuren müssen auch aktiviert werden und als solche erkannt. Ich selbst habe mich in meiner Beziehung mit ihr mehr als eine Agentin (pratinidhi) gefühlt. Ich spüre noch, unterwegs auf einem staubigen Pfad, meinen Blick  auf dem grauen Bündel ruhen, als ich eine Bewegung wahrnahm. Ich habe ihr später nie erzählt, dass ich einen Moment lang dachte, ein kleines, verendendes Tier zu sehen, aber nein, es war ein winziges Menschenkind, und niemand in der Nähe, dem es zu gehören schien. Man nannte mir in der Nähe eine Frau, eine „Heilige“ genannt, sie war Ärztin und bat mich, dem Kind einen Namen zu geben, und ich nannte sie „die Ayesha“. Auf der Namenssuche hatte ich vor einer Moschee einen alten Mann getroffen, den ich um den schönsten Namen bat, den er kannte. Es sagte „Ayesha“, und der Name gefiel mir. Später änderten ihre Adoptiveltern den Namen zu „Asha“ – Hoffnung. Sie kam also gestern und brachte eine Menge leckerer Sachen zum Essen mit, ich hatte auch morgens Manchu in den Bazaar geschickt nach Süßem und Salzigem. Es ist das dritte Jahr, dass wir uns nicht gesehen haben, aber die Zeit lag nicht zwischen uns. Ziemlich schnell ließen wir uns auf unsere gemeinsame Geschichte ein. Ich hatte mich immer bemüht, ihr so viel wie möglich von ihrem Lebensanfang zu berichten, aber obwohl ihr Englisch und mein Hindi sich ständig verbesserten, konnten wir eigentlich erst jetzt eine verständliche und runde Geschichte vor uns ausbreiten. Als ich sie fragte, ob sie noch manchmal an diesen schwierigen Anfang denke und an ihre Mutter, meinte sie ihre Adoptivmutter, die an Krebs gestorben war. Ich meinte die leibliche Mutter, die bei Ashas Geburt 15 Jahre alt war, erzählte mir eines Tages die Ärztin. Es stellte sich heraus, dass sie im naheliegenden Krankenhaus, wo ich sie gefunden hatte, geboren war. Die Mutter sollte wohl noch ein paar Tage da bleiben und dann das Kind zur Adoption freigeben, aber sie hatte es mitgenommen und wir wissen es nicht und werden es nie wissen, was in der Kind-Mutter vor sich ging, als sie erkennen musste, dass es nirgendwo für sie und das Kind einen Platz gab auf dieser Welt. Zum ersten Mal kamen mir die Tränen, als ich an diese Tragödie dachte. Ein versiegeltes Schicksal. Dann lebten wir sechs Monate zusammen in meinem Zimmer, mein guter Ruf als Yogini wankte und schwankte, während ich auf einmal winzige Kleidchen auf der Wäscheleine und meine eigenen bepinkelten Outfist aufhing. Was für eine kostbare Erfahrung, dem kosmischen Vorgang sei Dank, ich fühle mich zutiefst beschenkt, eben wie eine Agentin, die froh ist, ihre Aufgabe in bestem Wissen erfolgreich bewältigt zu haben: eine schöne Frau sitzt vor mir, die glücklcih verheiratet ist und mit ihrem Mann darüber nachdenkt, wann das erste Kind gezeugt werden soll.

Havilah Bojana


Info
Völlig überraschend, oder vielleicht weil ich vorhabe, heute Nachmittag in die Wüste zu fahren, fielen mir auf einmal zwei Worte ein, die ich in meiner Jugend irgendwo hergeklaubt hatte und zusammenfügte und einer erfundenen Straße diesen Namen gab. Diese Straße sollte nicht aufhören, sondern die Wanderung selbst sein, mit der ich entlanggehen würde, mit immer neuen Menschen und Abenteuern verbunden. Sofort spürte ich eine tiefe Vertrautheit mit diesem Weg und diesen Worten, denn ich konnte sehen, dass ich tatsächlich entlang gegangen war auf dieser Straße, und immer noch breitet sie sich aus und birgt den Nu und die Jahrtausende mühelos in sich. Da ich mich nicht erinnern konnte, wo ich die Worte herhatte, schaute ich nach. Havilah (Hawila), las ich, wird als Nachbarland des Gartens Eden genannt. Allein das: ein Nachbarland des Gartens Eden! Einen Reichtum an Gold soll es dort gegeben haben. Die Lage des biblischen Havilah sei jedoch umstritten. Doch da ergriff mich die (kindliche) Begeisterung, nämlich, dass ein gewisser Flavius Josephus Havilah mit der Gangesebene gleichsetzte. Auch Beda Venerabilis lokalisierte Havilah in Indien, was mir als Info für meine Dosis von Freude genügte. Dass es überhaupt aufgetaucht war in meiner damaligen Welt, als ich Indien noch gar nicht kannte, obwohl unter den Büchern meines Vaters einiges zu finden war (das meiste von Paul Brunton), was sich mit Reisen in das Wunderland Indien beschäftigte, und mit den Heiligen, die damals dort herumsaßen. Bojana konnte ich als weiblichen Namen finden, auch okay. Und so kann ich schwungvoll diese beiden Worte in meinen lebendigen Augenblick holen, und habe auf einmal zwei Worte für mein ganzes Leben gefunden, sozusagen den Buchtitel von meinem Skript. Und ich bin immer noch sie, die entlanggeht auf dieser Straße, die gleichzeitig Wüste ist und Nachbarschaft des Paradiesischen.

28.12.2022


Wir sind in vielen Welten zuhaus
Wir sitzen in Bunkern – das Licht geht aus.
Wir fühlen das Eis an den Fingerspitzen.
Wir sitzen und schauen dem Grauen zu.
Wir sind arm, wir haben nicht genug.
Am versiegenden Brunnen zerbricht der Krug.
Wir sind dankbar – unsere Gedanken sind frei .
Doch sind wir bei unseren Gedanken dabei?
Wir sind reich – nur reich an was?
Gehirnströme tasten nach dem richtigen Maß.
Wir gehen voraus und schauen uns um.
Manches ist so klug und manches so dumm.
Wir halten uns auf in den Zwischenräumen –
Ein schmaler Pfad zwischen Wachheit und Träumen.
Mal schauen, wo führt er hin:
Ich bin in vielen Welten zuhaus
Ich sitze im Bunker – das Licht geht aus
Ich fühle das Eis an den Fingerspitzen
Ich sitze und schaue dem Grauen zu
Ich bin in vielen Welten zuhaus
Ich suche (und finde) im Irgendwas
das angemessene Maß.

All-Tag

Es mag das erste Mal gewesen sein, dass ich wegen ohrenbetäubendem Lärm oben auf die Terasse gegangen bin, um zu schauen, dann wieder runter, um Smartphony zu holen und einzufangen, was trotz des Schatteneinwurfs möglich war. Erst der Musikwagen, ganz oben, der die goldene Kutsche ankündigte, durch den Bazaar gezogen von weißen (extra für diese Gelegenheiten  gezüchteten) Pferden, in dem ein „Heiliger“ saß, God only knows, what is going through their heads, es gibt keine Überprüfungsstelle (mehr dafür). Ramakrishna, ein einst (in bestimmten Kreisen) berühmter Mensch wurde einst überprüft von einer Komission der Oberstheiligen, die extra anreisten, um Klarheit darüber zu erlangen, ob es nur heller Wahnsinn war, der Ramakrishna z.B. ermöglichte, im Eifer des geisteigen Gefechtes nicht zu merken, wenn sein Handtuch von den Lenden fiel, das beunruhigte natürlich Anwesende und Schüler wie Vivekananda, dessen Bildungsgrad es schwerfiel, so etwas zuzulassen. Ramakrishna wurde der höchste Grad an geistigen Fähigkeiten zugeschrieben, die Herren blieben tagelang, wie gerne wüsste man, was sie so ausgetauscht haben. Von Ramakrishna wusste man auch, dass er sich einmal in die Büsche zurückzog und Frauenkleider anlegte, um sich in Kali, die furchterregende Göttin, hineinzuversetzen, und kam heraus mit einer Message, weswegen ich das Ganze auch erinnere, denn er sagte, dass das Geheimnis von Kali die Liebe sei, das überraschte so manchen. Denn für diese Kenntnis muss man erkannt haben, dass der Weg zum Hellen durch das Dunkel führt, durch die Angst und durch den Schrecken, und keiner führt mehr, sondern wenn man dann eines Tages wieder herauskommt aus dem, in dem man gesteckt hat (das Labyrinth, das Ego, die Blase, der Dornenbusch etc), dann weiß man aus Erfahrung, was Angst und Blase und Labyrinth (für einen selbst) bedeuten. Das alles geschieht im Alltag, wenn wir irgendwo sitzen und staunen, dass wir noch da sind, während die Schneestürme über Länder fegen und Menschenwesen immer noch in Bunkern sitzen und ausharren, bis der dunkle Wahnsinn vorbei ist. Es ist ja nicht so, dass wir nicht wüssten, was dunkel und was hell ist, nur der Ausgleich ist schwer zu erringen, ganz einfach deswegen, weil er nur im Geistigen möglich ist, wenn überhaupt. Tonlos schwingt das Lot über die Jahrtausende hinweg. Alltag: der stete Flug durchs All auf einem Planeten, um den wir besorgt sind. Man fragt sich ja zuweilen, ob Lachen noch angebracht ist, aber dann las ich in den Nachrichten, dass in Japan 17 Tote ums Leben gekommen sind, und sofort war das Wort „Myrtlok“ zur Stelle, „der Planet der Toten“ (also die Erde), und das ist natürlich auch kein richtiger, mit herzhaftem Lachen zu begleitender Witz: dass auch Tote ums Leben kommen können.

spürbar

*
wahrlich
Als ich mich bei Shivani am Heiligen Abend an meinen Weihnachtslieblingssong erinnerte, gesungen von Mahalia Jackson, und es ihnen ein paar Minuten lang vorspielte, kam eine tiefe Stimmung auf. Wir waren wie verbunden in etwas verloren Geglaubtem, vielleicht in Sehnsucht nicht nach dem Heiland, sondern nach Heilung in einer als krank empfundenen Welt. In Jacksons Stimme klingt die stille Nacht  nicht nur friedvoll, sondern bedeutungsschwanger. Ein Kind wird geboren in einer erbärmlichen Hütte, in der nun ein Lichtblick erscheint, eben das Kind – und wen kümmert’s, ob sie es taten oder nicht taten, auch wenn man es in anderen Kontexten mal nicht egal finden kann, wer noch daran beteiligt war. Das Ehepaar, bei dem ich zu Besuch war, hat 13 Jahre alles Erdenkliche getan mit allen verfügbaren Mitteln, um ein Kind zu haben, aber es kam einfach nicht. Letztendlich akzeptierten sie es und entspannten, was durchaus der Grund sein kann, dass es dann trotzdem kam. Ein Winzling mit wachen Augen, das auf den Armen des Vaters am besten aufgehoben scheint, denn die Mutter wütet gerade sehr viel  und kann nun diese Variante nicht akzeptieren, vor allem die Verformung des Körpers. Mit diesem leicht beunruhigten Blick schaue ich auch manchmal auf die Zigeunerfrauen, die in der Nähe meiner Tür lagern, und wenn die Kleinstkinder zu lange schreien, schaue ich hin und sehe, wie die Mütter da sitzen und rauchen und quasseln und in ihre Smartphones starren, während ihre Kinder an ihren Körpern zerren und versuchen, wahrgenommen zu werden. In allen Kasten, zu denen ich Zugang habe, spürt man noch, dass die Mädchen eher eine Last sind, um die es sich nicht viel lohnt, denn nach der Ehe gehen sie woanders hin, und meistens wird jegliche Ausgabe für ihre Bildung als überflüssig gesehen. Allerdings ändert sich zur Zeit einiges, wenn auch im Schneckentempo. Als Mahalia Jackson von „Mother and child“ singt, denke ich, dass so ein bisschen Heiligkeit dem großen Vorgang gar nicht schaden kann, denn kann nicht die Mutter direktemang in die Erleuchtung eintreten, wenn sie zulässt, dass hier etwas weit über sie hinausgeht. Sie wird in jeder Hinsicht Teil eines Wunders (isn’t it, gentlemen?), eben dass ein Mensch aus einem Menschen herausgeboren wird. Und dass wir selbst es geschafft haben, dass die dafür Verantwortlichen uns nicht weggetrieben haben, sondern uns angenommen und versorgt, damit wir das unvergleichbare und kostbare Abenteuer miterleben können. In der Zeitung wurde gestern ein junger Mann erwähnt, der seine Eltern ernsthaft vor Gericht verklagt, dass sie ihn ungefragt in die Welt gesetzt haben. Groß ist die Spannbreite der Erfahrungen, zu denen ein Mensch in sich Zugang findet.
*Installation aus der EK-Kooperative

x (Factor) mas

Diese Glocke hängt ein paar Schritte von meiner Eingangstür entfernt und dient dafür, dass gehört werden soll, dass und wann man in den heiligen Bann des inneren Geschehens eintritt. Jede/r macht das anders, manche routinemäßig, manche hingebungsvoll, andere können gar nicht genug davon kriegen, und am kräftigsten bimmeln die ganz Bedürftigen, denn hier wird ja freies Geben verursacht, indem man sich selbst anmeldet. Ein unbekannter Gott in irgendeinem Gewölk spitzt die Ohren. Der Anspruch in dieser Richtung war einmal sehr hoch, die göttliche Güte und Großzügigkeit hatte alle im Griff, es war nicht umsonst, man musste schon was dafür tun, eben singen und bimmeln und viel Räucherwerk kreisen lassen in alten, kostbaren und rußigen Gefäßen. Der Glockenschlegel glänzt in der Sonne wie pures Gold, die Pilger und Pilgerinnen betreten, nun angemeldet, leise das Spielbrett. In den alten Schriften steht, dass es schwer ist, an diesen Ort zu gelangen, deswegen bedanke ich mich an diesem ziemlich dunstigen Weihnachtsmorgen spontan dafür, dass es mir so viele Jahre vergönnt war, hier meine Kreise zu ziehen, meist um den See herum (Paricrima), und d a s alles, was es ausmacht, kennen zu lernen, und sie mich. Manchu, die gerade im Haus hier fegt, hat noch nie von Weihnachten gehört, es gibt ein paar Muslime und eine kleine Moschee im Dorf, aber keine Christen. Es gab einen Modehype mit Nikolausmützen, die vor allem gerne von Frauen getragen wurden, aber das scheint auch vorüber zu sein. Wenn man allerdings in einem christlich geprägten Land geboren und aufgewachsen ist, kann man schon den Duft der Tannenzweige ins Gedächtnis rufen, und auch da ein Bimmeln, als die Tür aufging und das, auf was man sich gefreut hatte, tatsächlich anfing. Und dieser Schlitten, der im Schneegestöber um die Ecke des Schlosses kam, auf dem saßen Zwerge, und wer nicht alles noch da saß. Viele Weihnachten habe ich hier in Indien verbracht, meistens in Schweige-Retreats, die diesen entspannten Übergang zur neuen Zahl bestens gewährleisten konnten. Ansonsten entfaltet sich mühelos der neue Tag, ich wünsche gutes Gelingen.

besuchen


Die Abstraktion der Wunde
In Indien fand ich es meistens einfacher, die mir bekannten Menschen in ihren Wohnorten (Höhlen – Hütten -Häuser) zu besuchen, als selbst besucht zu werden. Als noch unerforschtes Subjekt aus der Fremde konnte ich es uns allen in der Einspielphase erleichtern, mobil und neugierig auf alles zu sein, und der Gap zwischen Gästin und Gastgeberin war gar nicht im Blickfeld vorgesehen (und erledigte sich endgültig an der Feuerstelle). Während Höhle und Hütte und Dhuni frühzeitig vertraute Orte für mich wurden, exklusiv von Männern bewohnt und gehütet (außer dem meinen, meinem Ort), änderten sich meine Einblicke, als ich über Frauen einen Zugang zu ihren Aufenthaltsorten erhielt. Hier bewegte sich ein anderer Teil der Geschichte, als Haushaltspfad bekannt. Hier gab es wenig Wahl, vor allem für das weibliche Geschlecht, aber die Schöpfungskraft der Ehemänner reichte auch nicht weit über sie oder sich selbst hinaus. Manchmal beneideteten mich die Frauen (nachdem sie mich schon ausgiebig über mein Alleinsein bedauert hatten, so ganz ohne Baby und Mann, wie kann es sein) um mein Freisein bzw. das Freisein der westlichen Frauen, weil wir so viel Wahl hatten. Aber kann das nicht noch verwirrender sein, so viel Möglichkeiten zu haben, als zu wissen, dass man ab der Heirat keine mehr hat und sich umschaut, was daraus noch zu machen ist. Die Frauen gelten auch hierzulande als Herrscherinnen im eigenen Haus, und ich habe viel gelernt, wie man mit dem Unvorstellbaren umgehen kann. So war ich gestern bei Reena eingeladen, wir wollten mal sehen (oder wollte nur ich es sehen), was so aus uns geworden ist nach all den Jahren, die wir uns nicht mehr getroffen hatten. Wir haben viel zusammen erlebt, z.B. sind wir über zwei Jahre hinweg in ein Krankenhaus gefahren und haben uns dort mit Frauen getroffen, deren Ehemänner alkoholabhängig waren oder immer noch sind. So auch Reenas Ehemann, der wie ein todkrankes Gespenst durch den Marmorpalast schlich und scheinbar weiß, dass der Tod sich nähert und er nicht herauskommen wird aus dem Sog der Trunkenheit. Er ist ein Arzt, der sich selbst nicht helfen konnte, und nun haben alle nur noch Mitleid mit ihm, sagt sie. Sozusagen als Ausgleich für und Ablenkung von dieser unausweichlichen Tragödie hat sie eine leidenschaftliche Abhängigkeit vom Smartphone entwickelt (erzählt sie strahlend), jede freie Minute pumpt sie sich begeistert vor allem mit Filmen voll, auch soll ich unbedingt mit ihr den zweiten Film von „Avatar“ ansehen, und das auf Hindi! Es löst ein Wohlbefinden aus, wie sie so herzhaft zu allem steht, was sie gefunden hat, obwohl es mich einige Muskellockerungen kostet zu sehen, wie gut sie mit diesen persönlichen Methoden umgeht. Es ist auch nicht zu übersehen, dass sie aus ihrer Falle einen Marmorpalst gemacht hat, in dem emsige Dienstgeister sich um alles sorgen, denn sie ist ausgestiegen aus der Koch-und Putzpflicht. Sie macht aber selbst den guten, hausgemachten Chai für uns, großzügig serviert in einem prächtigen Glas, und neben dem Gaskocher läuft auf ihrem Smartphone eine amerikanische Komödie, wo über das Dümmste zwischen Mann und Frau gelacht werden darf. Auch ist sie heilfroh, dass er (ihr Ehemann) überhaupt noch da ist, sonst wäre sie Witwe, also so viel wie der Schatten auf einer Nebenstraße.

stöbern


Galaxien, die noch nie ein Mensch zuvor
gesehen hat
In der indischen Times hängt oben an einer Seite ein Spruch von Marc Aurel,: „The memory of everything is very soon overwhelmed in time“,  also dass die Erinnerung an alles sehr schnell von der Zeit überrannt wird. Das ist ja von einem selbst überprüfbar, zum Beispiel in der Trauer und dem Abschied von einem geliebten Menschen, wo man dann irgendwann nicht nur das geistige Trauergewand ablegen muss, sondern muss die nicht mehr lebendig Vorhandenen lassen und vor allem sich selbst wieder da sein lassen, wo das Leben sich abspielt und abspult. Nun habe ich aber gerade die Tore der Erinnerung weit geöffnet, auch weil mir von dort keine Gefahr droht, verschlungen zu werden wie von einem Wurmloch, nein, Freude macht es, nochmal zurückzublicken und zuweilen zu rätseln, wer ich wohl war, und gleichzeitig tief innen zu spüren, dass ich durchaus die selbe, wieder erkennbare Substanz bin, mit der ich mich im Lebendigen zuhause gefühlt habe. In einem Damals in New York keimte in mir der Gedanke, eine Schule in Indien zu besuchen (Shanti Niketan), gegründet von Rabindranath Tagore und  angeregt durch den Brief eines Freundes, der meinte, ich solle bald kommen, bevor Indien von allen möglichen Suchenden  überflutet werden würde. Ich kam auch über Land. Langsam und leicht gleitet mein Blick über das Haar von Mohammed im Topkapi, über die atemberaubenden Buddha-Statuen von Bamiyan und die Grabstätten großer Sufi- Poeten, wo man Gelegenheit hatte, sich unbemerkt zu verneigen. Oder im Tempel von Amritzar in einer politisch hoch angespannten Situation sich drinnen im Innern so gut aufgehoben zu fühlen, vor allem von einem blinden Sänger, der es einem leicht machte, an den Zugang zum Tod zu denken. Das alles wohnt dann in einem, und ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was oder wen oder die man wirklich geliebt hat, dass dieses intensive Erleben von der Zeit verschlungen werden sollte. Vielleicht versinkt es eine Weile in den Korridoren oder Lagerräumen des Geistes, wo gewisse Ordnungen unerlässlich sind, damit der Staub die feinen Spuren im Sichtbaren lässt. Denn es sind ja die Spuren, die sich dann melden, wenn es Zeit ist für weitere Durcharbeitung des eigenen Wesens, das immerhin Zeuge und Zeugin des gelebten Filmes ist oder sein kann. Und gewiss ist es angenehm, wenn die Schockzustände über das Treiben, das man sich gegönnt  hat, zu einem gewissen Grad reflektiert wurden, sodass man auf begehbare Tore trifft anstatt auf Betonwände. Wird also die Erinnering an alles sehr bald von der Zeit überwältigt. Nein, würde ich sagen, obwohl der Wind ruhig einen Teil mitnehmen kann. Aber es kommt doch darauf an, wie man umgegangen ist mit den Erinnerungen, und wie man sie wiedergefunden hat, nachdem man nach ihnen Ausschau hielt.

einen


Schaut einen was an,
oder schaut  einen
das Nichts an
So, mal wieder zurückrudern ins Jetzige, wo die Auswahl wie stets überwältigend ist. Rahul Gandhi trabt unermüdlich auf Kaschmir zu, und keiner kann behaupten, er könne nicht durchhalten, fragt sich nur als wer. Wird die Politik oder die Heiligkeit siegen, das weiß bis jetzt niemand. Und will er nicht letztendlich dasselbe wie Modi: ein Indien nach eigener Vorstellung, und wenn die sich manifestieren soll, meistens aufgeladen mit Machtgelüsten, dann muss man dranbleiben am erzeugten Gewächs und gießen, was gepflanzt wurde, oder ausreißen, was nicht förderlich ist für den Acker, auf dem die Idee gepflügt und gepflegt wird. Natürlich liebe ich auch mein eigenes Indien, niemand konnte und kann es mir nehmen, denn es war (im Rahmen der kulturellen Möglichkeiten) meine ureigene Version, in der es viel Raum gab für kindliches Staunen, aber auch für ernsthafte Forschung, was Mystik und Glauben und Realitäten betraf. Und Leidenschaft hatte ich auch genug für das schier Unerklärliche, das Praxis benötigte, um unterscheiden zu können zwischen dem Innen und dem Außen. Ich verstand in diesem Prozess den Wert des Wachseins, und dass Gelassenheit und Ausruhen auch dazugehören. Da ist nun allerdings immer wieder die berechtigte Frage, ob sich im Strom der gefeierten Weltdigitalisierung uns allen schleichend etwas entgleitet, von dem wir gar nicht wussten, dass es da war, vielleicht wir selbst auf dem Weg zum spannenden Abenteuer. Aber gut, es gibt auch den Ausgleich, man muss ihn nur herstellen können unď das Maß kennen, innerhalb dessen man sich bewegt oder bewegen möchte. Mir persönlich begegnet zur Zeit etwas, das den Humor auf den Plan ruft. Neulich hatte ich in einer Erzählung meiner Wüstenzeit erwähnt, dass mir ein Sadhu gesagt hatte, man könne sich in Gefahren dadurch schützen, dass man das Mantra Om Namo Shivaya lückenlos vor sich hinmurmelt, und man kann darin, wenn man möchte, eine gewisse Logik finden. Nun singt aber zur Zeit hier im Städtle der Irgendeine, von dem man (noch) nicht weiß, wo er ist, er singt stundenlang das gleiche Mantra, lückenlos. Er singt Om Namo Shivaya Om Namaskar, und das läuft über Lautsprecher, die so eingestellt sind, dass nicht einmal der Techno-Beat durchkommt. Der Mantrasinger ist offensichtlich der Meinung, einfach alle EinwohnerInnen müssten an diesem heiligen Event teilnehmen, und man kann sich vorstellen, wie diese Worte entweder in selig lauschende Ohrmuscheln  hineinströmen, ohne auch nur den leisesten Verdacht zu erregen auf Gehirnwäsche, oder es wälzen sich grollende Einheimische hin und her und  greifen nach dem Ohropax. Oder vielleicht denke nur ich daran, mich irgendwo wegen Ruhestörung und Geistbeeinflussung zu beklagen, am besten bei dem Mann selbst: Haben Sie sich schon mal gefragt, Herr BabaJi, ob das, was Sie da geben, alle möchten oder gar brauchen. Das Schlimmste war, als ich merkte, dass er endlich still war, in mir aber das Mantra weiterklang. Das vertraute, das längst entschwunden geglaubte Mantra kam aus meinen eigenen Adern gekrochen und erinnerte mich daran, was mich einst schützen sollte, es nun aber tatsächlich nicht mehr kann, denn ich lebe nicht mehr dahinter.

reisen

Amarnath – (always awake!)
Ich fasste alo eine Reise ins Auge, die ich schon lange im Sinn hatte, nämlich die Reise nach Pahalgam in Kashmir, und von dort aus hoch die lockeren 4000 Meter bis zum Ziel, und des Zieles Symbol war der eiserne Phallus (lingam) von Shiva, natürlich erzeugt durch tropfendes Wasser. Auch soll der Göttergatte hier seiner weiblichen Kraft die Weisheit des Lebens vermittelt haben. Aber was trieb uns und mich damals dort hin, das kann ich weniger in Worte fassen als d a s, was ich dann tatsächlich erlebte auf dieser Pilgerfahrt. In der Zeit, von der ich hier erzähle (1978 herum), war es üblich und erlaubt, dass Sadhus, also wandernde Mönche, oben auf den Zugdächern ohne Ticket fahren durften, so auch ich, mit Tüchern angebunden an große Schrauben, und erreichte so Kashmir und Jammu. Da hing einerseits sehr viel Fleisch herum, aber andrerseits war es ein Paradies, und ich erreichte Phalgam. Es war der Monat, in dem nur Sadhus hochgingen, es war besonders kalt dieses Jahr, das Eis reichte fast bis an den Anfang des Aufstiegs. Bärtige Männer in orangenen Gewändern und Decken rauchten ruhelos alles Mögliche und warteten auf Wetterverbesserungen. Ich wollte aber gehen, ich war entschlossen. Was in mir vorging, während der gefährliche Eispfad, oft unsicher gezeichnet, sich vor mir ausbreitete, das kann ich nur ahnen. Vermutlich dachte ich gar nichts mehr, sondern kam eines Tages da oben an, wo die nächste Herausforderung wartete.  Ein Helikopter brachte Holz für eine Feuerstelle, das war gut, aber sie brachten auch zwei Tauben, die dort gehalten wurden für die nächste Saison der einfacheren gläubigen Pilger und Pilgerinnen, die darin ein Wunder sehen sollten, Shiva und Shakti als Turteltauben. Ich sah auch einen Mann etwas vom Altar stehlen, da herrschte eine entgrenzte Atmosphäre, es ging um Geld und Business, ich fiel in die Wortlosigkeit. Sie haben Glück, meinte ein Arzt, zu dem ich, wieder unten, in Srinagar wegen schmerzenden Füßen ging, dass ihre Füße nicht erfroren sind (Imagine: almost!). Ich war dann danach noch in Ladakh, und auf dem Weg dorthin (zur Heilung meiner Schmerzwellen) dachte ich zum ersten Mal wieder an eine mögliche Rückkehr nach Deutschland. Das sollte noch dauern, aber ich war auf dem Weg dorthin. Ich brauchte (wieder) eine Ausgleichung.

Schutz


(Soll)Schutz (geben) vor dem Unerwünschten
Neulich fragte mich Sakshi, ob ich in den Jahren als praktizierende Sadhvi keine Probleme mit Männern bzw Sadhus gehabt hätte, und doch, habe ich. Auch in das Himmelreich der Wüste fiel der Tintentropfen. Einer der Mönche, ein Nath, der außerhalb der Bruderschaft lebte und mit Pferden zu tun hatte und ein Trinker war, kam eines nachts auf seinem Pferd über die niedrige Mauer des Tempels gesprungen, band das Pferd an und setzte sich an die Dhuni, mich mit blutroten Säuferaugen fixierend. Nichts und niemand weit und breit, ich wusste, jetzt muss mir was einfallen. Er laberte vor ich hin, während ich, in damaligem Kontext zu verstehen, nach einem Rat angelte, der mir mal von einem Sadhu gegeben wurde, nämlich wenn du mal Probleme hast, sage unentwegt das Mantra Om Namo Shivaya, ohne dass die geringste Lücke entsteht, dann kann nix Unerwünschtes rein. Ich fing also damit an, stocherte tüchtig in der Asche herum und fragte mich, ob die riesigen Dornen, die ich immer im Schutz vor Tieren neben mir liegen hatte, sich im Notfall als Waffe bewähren würden. Es war nach Mitternacht, alles dehnte sich in zäher Weise aus, ohne dass die geringste Entspannung eintreten konnte, es war gefährlich. Irgendwann packte mich die Wut über diesen Überfall und ich meinte, es wäre jetzt spät und er solle nach Hause gehen. Da ging es blitzchnell los, er griff mich an, packte mich an den Haaren, und weiß der Teufel, was noch alles passiert wäre und wie, als sich aus dem Dunkel der Nacht eine Form löste und auf uns zukam. Noch heute sehe ich seine Flügel, obwohl, wie sich später herausstellte, seine Hilfe nicht dem Engelhaften entsprang, selbst in meiner Erinnerung jedoch noch als Lichtquelle wahrgenommen wird. Er legte dem Besoffenen seinen Turban vor die Füße, nannte ihn Maharaj, großer König, was in vielen Männerohren hier wie Honig ins Innere fließt, und zischte mir dann zu, ich solle mich aus dem Staub machen. In einem Bollywoodmovie würde man mich geschminkt, denn ich schlief ja im Öffentlichen, durch den beschwerlichen Wüstensand stapfen und mich bis zum Wirkungsfeld der Nath Gemeinde durcharbeiten sehen, weckte einen von ihnen auf,  erzählte das Vorgefallene und schlief dann dort den Rest der Nacht. In der Frühe ging ich zurück und es folgten drei interesante Tage. Alle Elders der Gegend waren von den Mönchen zusammengetrommelt worden. Man ließ mich nichts sagen dazu, sondern munter diskutierten sie vor sich hin und tauschten alles Mögliche aus. Offensichtlich kam es auf das Resultat dieser Sitzungen an, in denen es um mein Schicksal ging. Hat sie oder hat sie nicht, und dann der bereits Berüchtigte, über den es vorher schon nichts Gutes zu erzählen gab, ich hatte keine schlechten Karten, das merkte ich und war erfreut. Eines Nachmittags kam eine Gruppe Frauen, und angeregt zischten sie mir unter Schleiern hervor zu, ich solle doch den Typ mit einem Messer erstechen, sie hätten auch Sachen mit ihm erlebt. Mit viel Mühe um die Deutlichkeit meiner Verständigung in Hindi gelang es mir zu klären, dass ich diese Tatigkeit nicht als meine Aufgabe betrachten würde. Ich kam gut durch die Prüfung, aber der Schatten eines Dornes war geblieben, ich dachte an eine Reise. Ach ja, mein „Retter“ erzählte mir später, dass er in der Nähe des Tempels auf einem Feld geschlafen hätte, und Geräusche hätten ihn angeregt, doch mal zu schauen, was die Fremde da nachts treibt.

Yoann Bourgeois

Ansehen

Yoann Bourgois captivates audience with powerful performance…

Dhuni

Was mich für dieses Leben an der Dhuni (der Feuerstelle) so eine Begeisterung aufbringen ließ (die Nachwehen sind auch noch ganz ordentlich), das war etwas, was ich als die absolute Sahne des geistigen Weges empfand: die Kultur des Stillsitzen, verbunden mit der lebendigen Atmosphäre, die genau von diesem Feuer gesteuert wird. Leider sind Idee und Praxis an die klimatichen Verhältnise gebunden, denn von der Gestaltung  einer Atmosphäre hängt es ab, was sich an diesem Ort weiterhin entfaltet, wenn das Feuer einmal in Gang gesetzt ist und nicht mehr ausgehen soll, bis der Entfacher oder die Entfacherin weiterzieht, oder auch nicht. Bei dem Besuch der Nath Bruderschaft sah ich eine Dhuni, die schon 300 Jahre brennen soll. Gut, ich saß an meiner, und das war sehr viel sitzen. Nun muss ich hier vielleicht auch zu meiner eigenen Erinnerung einfügen, dass ich mich auf der Erinnerungspilgerreise gerade in einer Zeit bewege, in der es, zumindest in meiner Umgebung, weder Fernsehen gab, geschweige denn Smartphones, d.h. (u.a.) die Gewohnheit, mit sich selbst zu sein, ohne auf eine kalte Bildfläche zu starren, war noch ganz natürlich. (Wobei sich die menschliche Software recht deutlich unterscheiden konnte). Ich saß viel allein, aber ich saß auch viel zusammen. Mein Hindi grübelte sich durch bis hin zum kommunikativen Verständnis. Da erstaunte mich vieles. Tatsächlich war es sehr viel dieser Mönchsgemeinde zu verdanken, dass die meisten Männer und Frauen, die an meiner Dhuni saßen, dort bei der Bruderschaft unterrichtet wurden und mir ziemlich geschult vorkamen, wenn es auch meistens um die Themen ging, die uns alle verbanden: die Dankbarkeit dem sich gut entwickelnden Schicksal gegenüber, natürlich einem Gott zu verdanken, as you like, Hauptsache Gott, meistens Shiva, wir liebten ihn alle und dachten wie kann man ihn nicht lieben. Endlich Einer, der nicht so spießig war, so moralisch getränkt mit nie zu erreichendem Anspruch, nein, Yogi war er und Liebhaber zugleich – man merkt, ich kann mich noch erinnern. Das, was man einmal liebt, wie kann es vershwinden. Verändern kann es sich schon. Und ja, heute denke ich, also gerade eben, man könnte oder kann vielleicht doch im westlichen Zuhause die Idee einer Dhuni umsetzen. Alle, die an einem Feuer sitzen, haben ja eine Wirkung, bewusst oder unbewusst. Man nährt also das Feuer und hält die Asche (jetzt wieder in der Wüste) auf medizinischem Niveau, erklärte mir der Nath, und als Medizin sollte ich sie, wenn darum gebeten wurde, auch reichen. Man sitzt also sehr viel, und das Sehen wird intensiver, die Abwechslung liegt in der atemberaubenden bzw. atemschenkenden Lebendigkeit des Schlichten und Einfachen, wenn man Zeit dafür hat, um es (das Wenige, aber direkt Daseiende) genauer wahrzunehmen.

fühlbar

Selbst heute, wenn ich an die Zeit in diesem kleinen Tempel in der Wüste denke, freue ich mich darüber, dass ich den Mut hatte, für einen langen Zeitraum so gut wie alle Fäden zu meinem westlichen Leben loszulassen. Pass und Visa waren lange schon abgelaufen, und das geschah nicht unbemerkt. Ein Polizist stapfte durch den Sand, um mir zu vermitteln, dass ich nun mitkommen müsse. Genau in diesem kritischen Moment erschien Nemnath, ein alter Mönch, auf der Bildfläche und erkundigte sich, was denn hier los sei. Er nahm den Polizisten zur Seite, der fünf Minuten später Leine zog und nie wieder auftauchte. Das sind Hunde, meinte der Nath trocken zu mir, man muss sie daher wie Hunde behandeln. Obwohl ich mich nicht bestrebt fühlte, mich dieser Meinung anzuschließen, war ich beeindruckt von der Verteilung der Machtverhältnisse. Offensichtlich wollte es keiner mit Gott verscherzen, darauf kann man sich heutzutage nicht mehr verlassen. Nun hat es mir Freude bereitet, ein wenig einzutauchen in diese Zeitspanne, und „wenig“ ist das Wort dafür. Allein die Feste zu beschreiben, zu denen ich ab und zu eingeladen war von der Bruderschaft, wären sicherlich eine ausführlichere Berichterstattung wert, nur: könnte ich tatsächlich den Atem des Abenteuers noch einmal hervorzaubern zum Beispiel für den Schwerttanz des verkrüppelten Nurbi Nath zum jährlichen Shiva Ratri Treffen, oder die zähen Prüfungen, denen ich unterzogen wurde als einzige Frau unter hunderten von Mönchen, die es für nötig befanden zu checken, ob ich nicht doch die Verführung männlicher Wesen im Auge hatte. Ich wurde beobachtet, bis ich eines Tages die kritische Frage selbst stellen konnte. Und Sie, fragte ich den Mahant, sind Sie denn unverführbar? Denn wenn ich mich vor Ihnen nicht fürchten muss diesbezüglich, dann sind wir ja beide  in Sicherheit. Er fragte mich nie wieder. „Brahmacharya“, das Zölibat, ist in Indien hochangesehen. Wem man zutraut, es zu können, bekommt Respekt. „Es“ heißt hier, die sexuelle Energie nicht zurückzuhalten, sondern sie zu kanalisieren nach den vorgeschriebenen tantrischen Rezepten. Es war jedoch eher so, dass ich selbst kaum Vorbildern der tantrischen bzw yogischen oder meditativen Meisterschaft begegnet bin. Es war ja auch innerhalb ihres kreisläufigen Zeitgeschehens schon sehr spät im dunklen Wirbeln des eisernen Zeitalters, und während man die digitale Revolution durchaus preisen und besingen kann, so ist sie doch auch ein unseliger Abgrund, in dem es genügend Platz gibt für alles und alle, die Lust verspüren am Untergang. Und vermutlich gibt es ja doch einen großen Unterschied in der Welt der Unterhaltungen, ob ich mich zum Besispiel innerlich mit Sokrates im Dialog befinde oder mit meinem Algorhythmus. Das lebt alles in uns drin und ist dort fühlbar.

tatsächlich


Der Dämon entlässt einen Menschen
Ja, tatsächlich lebte ich dann über zwei Jahre in diesem kleinen, offenen Tempel, und noch nie und nie wieder kamen für mich Armut und Ekstase so nah beieinander, es hätte auch schiefgehen können. Aber es ging unter anderem gut, weil ich was Neues war für alle, so war der Tempel gut besucht und alle hatten was davon. Auch gewöhnten sie sich schnell an mich, denn ich machte nichts Aufsehenerregendes, hatte allerdings einen ausgeprägten Ehrgeiz, Ehrgeiz, die beste Asche zu produzieren  und verbrachte Stunden damit, sie zu siften. Ich liebe Asche, das muss ich schon mal gesagt haben, vielleicht bis in den Tod hinein, wo es mir vertrauter ist, zu Asche zu werden als an nagende Würmer denken zu müssen. Wie dem auch sei, es war eine wunderbare Zeit, angefüllt mit neuen und uralten Erkenntnissen. Denn ich schaute um mich und sah nur das, was auch seit tausenden von Jahren so aussah, palastsäulenartige Wurzeln, im Zeitlosen wandernd und immer wieder Schutz gewährend  für die, die so viel Sand durchqueren mussten und müssen. Dann, als um 6 Uhr früh alles Praktische schon gehandhabt war, Dusche, Tee, Feuer vergrößern, Chai trinken, kehren, oben in den Stämmen Holz holen, Wasser holen vom Brunnen und den Krug füllen für die Vorbeikommenden. Wenn es zwischendrin dann ganz still wurde, wüstenstill, dann kamen die Tiere: Pfauen, Eichhörnchen, Hunde, Vögel, einmal schlich eine schwarze Kobra vorbei, ein andermal lebte über mir wochenlang ein Stachelschwein, Kuhherden und Büffelherden und Ziegenherden stapften vorüber. Man fing an, mir Geerntetes aus der Gegend zu bringen, kein Hunger in Sicht. Die Feuerstelle ist weiblich, das haben mir Mönche erzählt. Da Frauen auf diesem Weg sich meist in Ashrams aufhalten, saß ich sozusagen vor mir selbst, und sah tatsächlich so einiges, was sich (ein bisschen) mit der kühlen und klaren Atmosphäre der Wüste erklären lässt. Einmal am Feuer, wo ich die meiste Zeit verbrachte und wo ich auch schlief, starrte ich in die Glut und sah mich auf mich zukommen. Ich sah also im Feuer, wie ich energetisch auf mich zukam und letztendlich mit mir verschmolz, es hatte was Furchterregendes. Aber es gibt sie, diese Erfahrungen, denn ich erzählte sie manchmal einem Brahmanenpriester, und sie hatten Bezeichnungen für manche dieser Bilder und Erlebnisse. Es gibt eben sehr viele Möglichkeiten, sich zu erfahren, als Körper, als Geist, universell, menschlich, und nun folgt die ganze Skala der Möglichkeiten hinterher. Und es ist auch kein Geheimnis, dass man sich allein im stillen Raum anders mit sich fühlt als draußen im Weltgetriebe. Es gab überall die Höhlen und Herbergen derjenigen, die mal schauen wollten, ob es tatsächlich einen Vorhang gibt, den man lüften kann. Da fällt mir ein Satz ein, den ich neulich hier in einer alten Kiste von mir gefunden habe: „Die Welt, die euch nicht kennt, kann euch nicht erfassen. Ihr aber, die ihr die Welt kennt, könnt sie erfassen.“ Auch nur eine Variante, ein Wahrnehmungsangebot von ich weiß leider nicht wem.

und dann

Offensichtlich bin ich in den Erzählstrom geraten, oder ich könnte auch sagen ich sitze einem Teil meiner indischen Geschichte gegenüber, den Bewegungen im Spiel, die ja, zumindest mir, immer so frei schienen, und nicht nur schienen. Natürlich kommt einem stets das Fremde entgegen, mit dem man umgehen muss, aber ist nicht auch das einem Entgegenkommende etwas, was einem entspricht, denn man findet sich in etwas vor, woran man beteiligt war. Nun kommt es natürlich in jedem einzelnen Nu darauf an, wie ich damit umgehe. Es war mir also gelungen, zu einem Platz geführt zu werden, der meine Vorstellungen nicht nur erfüllte, sondern weit darüber hinausreichte. Ich wurde dem Mahant (Boss der Bruderschaft der Naths) vorgestellt, um seine Erlaubnis zu erhalten, damit ich mich für unbestimmte Zeit in dem Tempel niederlassen konnte. Oho, ein Pharaone, dachte ich, als ich den abschätzenden Blick des Herrn über meine Form hinwegstreifen sah. Er meinte, man solle mich nur lassen, es würde sowieso nicht klappen, denn es hätten auch andere Sadhus nicht geschafft, dort eine Bleibe zu finden. Was geschafft? Genug Energie zu aktivieren, damit die TempelbesucherInnen gewillt sind zu schauen, ob einem was fehlt, Essen zum Beispiel oder Tee oder Milch usw. Zum Glück lebte Kailash der Mahant mit seinen Mitmönchen eine dreiviertel Stunde weit entfernt, aber es kam dann doch monatelang ein Abgeordneter vorbei, um zu überprüfen, dass ich auch alles richtig mache. Das Richtigmachen war schnell gelernt:¥_ das Feuer durfte nach dem Entzünden nicht ausgehen, die Asche musste weiß und fein sein, gewissen Sadhus sollte chai gereicht werden, und (ja, so war’s) keine niederen Kasten sollten direkt an der Dhuni (dem Feuerplatz) sitzen und mussten auch ihre eigenen Trinkgefäße mitbringen. Sonst, antwortete Kailash, der kalte Berg von Mahant, auf meine Frage „warum“, ansonsten würden sich Sadhus nicht mehr an meiner Dhuni niederlassen. Auch am Leichenverbrennungsplatz (für Brahmanen), wo man solcherlei Einstellungen am wenigsten vermutet, fand ich sie vor: eine auf allen Ebenen vertretene Sucht und Verkörperung von der Idee des reinen Blutes, des Auserwähltseins in göttlicher Mission. Wenn man das gute Karma hat, rechtzeitig an die nötige Grenze zu stoßen, kann das Streben nach der vertikalen Richtung durchaus seinen Reiz haben. Auf jeder möglichen Ebene verändern sich die erfahrbaren Dinge, das birgt seine Gefahren. Aber ehrlich: sind sie nicht schön, die Götter und natürlich die Göttinnen auch, und wieder streift der lächelnde Blick die antiken Kulturen entlang, wo das Mächtige am besten als Göttliches auf der Bühne erschien, damit es an diesem Vorbild nicht mangelt. Es hat ja auch nicht gemangelt, sondern es hat gewimmelt von all dem Zeug, das im Laufe der Zeit dazu kam, sodass immer mehr erklärt werden musste, wie das alles zusammenhängt, dabei muss es gar nicht zusammenhängen, zumindest nicht so, wie man denkt. Nein, durch Denken allein ist man auch nicht, wer man wirklich ist, sondern man selbst muss auch noch dazu kommen. Da meldet sich dann günstigerweise der Humor, der selbstständig arbeitet und trotzdem immer bereit ist, einen zu unterstützen.

Vergangenheit, o du Vergangenheit….


…enstanden aus langsam
sich mehrenden Tagen
Ich lernte also eine ganze zeitlose Weile mit Maharaj, dem immer Neues einfallen musste dazu, denn er hatte noch nie jemanden  dagehabt, dem er was beibringen sollte, dazu noch eine(r)  Frau, die hinten am Banianbaum schlief, er an der Feuerstelle. Über uns in den dichten Zweigen hingen tagsüber die Fledermäuse mit den Menschengesichtern herum und ließen so nebenher einen wahren Shitstorm auf uns hernieder, während sie nachts zum Glück unterwegs waren. Eines Tages kam ein Sadhu-Mönch von der Nath-Bruderschaft vorbei. Nath bedeutet „Herr und Meister“, wobei  mit“Adi Nath“ (Erster Herr) Shiva gemeint ist. Man kann schon sagen, dass in Indien sehr gerne mit höchst veredelten und veradelten Titeln um sich geworfen wird, so sahen auch hier die Herren Mönche aus wie auf uralten Gemälden die Apostel dargestellt werden mit wallenden Gewändern und Bärten, eben alles, was ein Mann zur Amtsdurchführung braucht. Einer von ihnen kam also vorbei, nebenher ein Poet, weshalb ich ihm auch vermittelte, dass ich gerne meinen eigenen Platz, also Feuerplatz (Dhuni) hätte, denn meine Praxis hinterm Baum war vorbei. So setzte ich mich mit dem Nath, der so einen Platz kannte, in Bewegung, es war Vollmond und wir erreichten bei Mondlicht einen Ort in der Wüste, bei dem mir der Atem ins Stocken kam. Ich wusste dass, wenn ich hier nicht sein konnte, ich diesen Ort nie vergessen würde. Ein palastartiger Banianbaum erstreckte sich über unvorstellbare Weiten, in deren Mitte sich ein kleiner, schöner Tempel befand. Schlichte, die Logik sprengende Figuren wurden dort von Vorbeikommenden angebetet und die Puja mit Kokosnüssen zelebriert. Oft merkt man in Indien, wenn man Fragen stellt, weil man etwas genauer wissen will, dass einen das nur insofern weiterbringt, dass man merkt, wieviele Variationen es als Antworten gibt, eben so viele wie es Befragte gibt. Auch sehen die meisten Hindus, denen ich begegnet bin, keinen wirklichen Grund, etwas zu hinterfragen, denn ist nicht alles einfach da und wohlig eingebettet in das Absolute, wenn man es mal so nennen will, und es gibt nichts, was außerhalb davon ist, weshalb also zweifeln. Ich darf hier, mit Verlaub, eben d i e Anekdote dazu einfügen, die es mir zuerst verdeutlicht hat. Ich begegnete Devanand, einem Schullehrer, eines Tages auf dem Weg, und er fragte mich, ob ich wohl auch zum Ganeshtempel gehen würde, denn es war Ganesh-Tag. Nein, hatte ich nicht vor, fragte ihn aber in einem plötzlichen Anfall von (Wissensdurst? Humor?) Neugier, ob er tatsächlich glaube, dass Ganesh, der Elefantengott, geschätzt für philosophische Klugheit und Familienglück und Schutzgott aller Schreiberlinge, ob er also glaube, dass dieser Gott tatsächlich auf der Erde herumgelaufen sei, offensichtlich in einem anderen Zeit-Kontinuum. Seine Antwort war leise sich aufwühlender Ärger, denn was sollte er denn antworten. Klaro, sagte er und schaute mich mitleidig an, jetzt bist du schon so lange da und weißt nicht mal das. Ganesha aber reitet eigentlich auf einer Maus, die Maus ist sein Viman, sein Fahrzeug. Wie groß, ließ ich nicht locker, war dann die Maus!!? Seine rechte Hand suchte irgendwo Halt im Unbestimmbaren, holte dann aber aus mit großer Geste, bis klar war, dass Ganesha darauf passte. „Passt schon“ habe ich auch in Deutschland schon oft gehört. Passt schon, denn wer will ein Streitgespräch darüber beginnen, wie groß ein Elefant war, als er mit seinem Maus-Transporter unterwegs war, um wichtigere Dinge zu tun als Sachen anzuzweifeln, die da sind.

flügeln

Ein herumschlendernder Brahmane meinte neulich mal in meine Richtung, alles hätte sich verändert, nur ich (er meinte offensichtlich meine äußere Wirkung auf ihn) sei unverändert, was unter yogisch interessierten Menschen als eine Beleidigung aufgefasst werden könnte, wäre es nicht so harmlos gemeint und mich dennoch anregte, kurz ins Vergangene zu blicken. Schwer beladen mit allerlei teurem Silberschmuck, ganz in Schwarz und Violett gekleidet kam ich hier an, am Hals eine wohlgeformte Kette aus silbernen Totenköpfen, an den Ohren kleine, hüpfende Skelette vom Pariser Flohmarkt, in der Hand einen dünnen Stab , gekrönt mit einem kleinen Schädel aus Rhinozerushorn, ein Geschenk von einem damaligen Vertrauten aus der Weltfamilie. Hier am Pilgerort ankommend hatte ich neun Jahre Nepal hinter mir, ich hatte dort gelebt und gewirkt mit I.Cohen, mit dem ich bereits New York und vieles andere hinter mir gelassen hatte, wir publishten Bücher auf feinstem Papier, ein paar Kopien liegen noch in Archiven herum. Irgendwann trennten sich unsere Wege, ich wollte nach Indien, er zurück nach New York, das viele Material umsetzen in Werke. Ich wollte nur kurz nach Goa, um andere zu treffen und dann zurück nach Kathmandu ins Haus mit den Schätzen. aber dann blieb ich auf dem Weg hier am Pilgerort hängen, wie in Bann gehalten von dem, was ich spürte und sah. Das war ganz und gar etwas, auf das ich nicht vorbereitet war: alles resonnierte mit mir, es war genau d a s Ei in der Wüste, das von mir ausgebrütet werden sollte, es gab keine Fragen, ich blieb einfach da. Sie gaben mir den Namen Kalima, den ich auch für sie als Vorspann getanzt hatte, auf dem Samadhistein des alten Palastes, den die Maharani von Jaipur einem Hotelunternehmen vermacht hatte, als der Adel bereits im Staub der Geschichte lag. Ich zog dann nach einem kurzen Aufenthalt auf dem Verbrennungsplatz (für Brahmanenkörper), dann holte mich ein Brahmane in seinen Garten am See, wo er einen angesehenen Sadhu-Mönch durchfütterte und mir vorschlug, von dem das Handwerk zu lernen, also nach früher Körperpflege sich um den Feuerplatz kümmern, die Asche säubern, den Platz öfters mit Kuhdung einreiben und vieles Nützliche mehr. Der „Maharaj“, wie er genannt wurde, hatte eine ungewöhnliche Beziehung zu Gott, sprach oft laut mit ihm und nannte ihn einen Schlingel. Seine Mutter hatte ihn früh an die Mönchsgemeinde abgegeben, nachdem er von Dorfbewohnern schlafend auf einer schwarzen Kobra gefunden worden war. Aber vielleicht wollte sie ihn auch loswerden, denn er war dünn und klein, und sie hatte ihm als Kind Schleifen ins Haar gebunden, weil er nicht wirkte wie ein Junge. Solche Sachen hat er mir erzählt, wenn ich nach getaner Arbeit neben ihm saß und den Inhalt seiner Chilums in die Handfläche rieb. Somit wurde auch den Einheimischen klar, dass ich einen offiziellen Weg eingeschlagen hatte, und den hatte ich, ich war überwältigt von Staunen. Wie konnte es sein, dass ich mich hier wiederfand, so als hätten geheimnisvolle Kräfte für mich aus dem Ungeahnten eine Oase gestampft, deren Architektur aufs Feinste übereinstimmte mit dem, was ich von antikem Griechenland und schweigendem Ägypten spürte. Hier liefen die Dinge anders, als man sie dachte, hier war  das Lebendige, das sich selbst erfuhr, großzügig am Strömen. Und klar, ich war dabei, ich war eine Frau aus der Fremde, geschminkt und auf möglichst unauffällige Weise mit einem glitzernden Schwert ausgestattet, nicht verpflichtet, sich herrschenden Konventionen anzupassen, aber doch sie auch zu respektieren, kein Zweifel, ich war auch Tochter und Schülerin des Unnennbaren. Wow, ich bin richtig in Fahrt und sehe, dass 500 Zeichen bereits überschritten sind, aber vielleicht sollte ich mir doch meine eigene Geschichte noch einmal vor Augen führen, damit ich den Film aus dieser Entfernung her nochmal nachvollziehen kann.

Sunday

*

Times of India  – Osho

 

dava (Medizin)


Fläschchen
Ein Mann aus der Sindhi-Community, mit dessen Vater ich schon zueinsten chai getrunken hatte und nun mit den Nachfolge-Generationen trinke, besuchte mich. Eigentlich hatten wir traditionell vor, Pakoras (Frittiertes) zu holen, Leckeres von OmJi’s Wagen, aber der  hatte das Vehikel zu einer Hochzeitsfeier geschoben, wohl wissend, wie unwiderstehlich Pakoras sind. Dafür kam mein Gast mit einer Wunderdroge, deren Rezept er angeblich einem Guru abgetrotzt hatte mit dem Versprechen, niemals Geld dafür zu verlangen. Nun gab er eine ausführliche Vorstellung davon, wo man diese magische Tinktur überall  hintun könnte, wo man was Heilendes brauchte, also Stirn, Nase, Ohren, Hals, Beine, Arme undsoweiter, nur ein bisschen davon mit einem Finger (damit nichts verlorengeht) verstreichen und Heilung erfahren wie erwartet. Gerne hätte ich irgendwann ein anderes Thema angeschnitten, aber da war nichts zu machen. Immer mehr fiel ihm zu seiner medizinischen Pilgerreise ein, denn er hatte sich ans Werk gemacht und tausende von Fläschchen gefüllt und angefangen, sie großzügig zu verteilen. Um sicher zu gehen, dass keiner auf die Idee kam, sie zu verkaufen, ließ er ein Etikett draufkleben mit einer Notiz dazu, dass der Inhalt frei sei, und darunter ließ er seinen Namen setzen und seine Telefonnummer, sodass jede/r ihn, den Weiterreicher der Heildroge, kontaktieren konnte. In indischen Städten ließ er in bestimmten (Sindhi)- Läden die Fläschchen bereitstehen, sodass man sie dort abholen konnte. Er sah aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann, vom Scheitel über die Goldrandbrille bis hinunter zum kaum vom Staub der Straße bedeckten Schuh, das ist alles möglich. Als ich mich dann doch noch durhsetzen konnte und das heikle Thema „Narendra Modi“ ansprach, gab er zu, dass die Idee des Premier Ministers, eine „Hindutva-Gesellschaft“ aufzubauen, doch etwas bedrohlich war für alle, die kein reines Hindu-Blut zur Verfügung hatten. Und wir einigten uns schnell, dass Modi’s rechte und finstere Hand, Amit Schah, ein Verbrecher sei. Ja, sagte mein Gast, Schah sei ein chanakya, ein Wollender, ein rechter Abhiman-Freak, also ein Egomane, der alles nur für sich selbst wolle. Mein Blick fiel auf das Fläschchen, die Heiterkeit des Absurden überkam mich. Das könnte ja jedem von uns passieren oder ist schon passiert, dass wir uns über etwas ereifern, und unser Gegenüber denkt: Ja merkt sie denn nicht, dass sie das genauso macht. Adler-Auge, sei wachsam!

streifen

Mich streift ein Wind, von zitternder
Nabelschnur des Schöpfers ausgelöst –
was sag‘ ich!, des Weltenbildners selbst,
wiewohl begrenzt von Orten. Ragte hoch
wie ein Yogi-Rücken, direkt hinein in
die Veden (als das lebendige Wissen).
Ließ sich dort auf scheinbar Unsterbliches
ein. Nun bleicht aber und bröckelt das Script
doch leis’vor sich hin, eben im Wind,
im Wind des Vergehens und Vergessens.
Vergänglich also auch du, besingen die
schleppenden Stimmen die Leere des
Raumes. Mal als Abendgebet, großes Aarti
mit Trommeln und Bimmeln, mal als
Techno-Gebot, die Architektur der Steine
durchbohrend.

Krishna


Sukho
Gestern habe ich mich mit einem sogenannten Tuc Tuc Taxi abholen und zu Krishna und seiner Frau Sunita und dem Sohn Janak bringen lassen. Oft bin ich diese Wege zu Fuß gegangen, aber auf einmal verlor ich total die Orientierung, denn da, wo früher nur Gärten waren, Rosengärten, da standen überall wild verstreut alle möglichen Traumerscheinungen herum in Form von „Palaces“, wie sie gerne genannt werden, oder „Resorts“, und da war auch in der noch spürbaren Wildernis ein Wellness-Hotel geplant, man sah schon die neu eingepflanzten Palmbäume, deren Blätter verdorrt wirkten. Wir fanden dann Krishnas Haus, das kaum mehr sichtbar war, soviel war in den beiden Jahren drumherum gebaut worden. Der Betonklotz, in dem Krishna seine Brote und seine beliebten Zimtschnecken bäckt, oder soll ich lieber buk sagen, denn er kann gerade kaum was backen, weil seine Schultern und seine Hände so schmerzen. Auch er ist ein Krishna, der sich dem Gott so nahe fühlt(e), dass er es für möglich hielt, ihn zu sein, keine Außergewöhnlichkeit in Indien, jeder kann es ja zumindest versuchen. Und es berührt, wenn einer scheitert und dann ganz Mensch sein muss. Erkannt hätte er, jetzt beim schwarzen, süßen Tee auf der Terasse, den Sunita immer bringt und sich dann dazu setzt, also erkannt habe er, dass er ein armer Mann sei, oder man kann auch „Mensch“ sagen. Als ich wissen wollte, wie sie überlebten in der Corona Zeit, da sagte er, es wäre tatsächlich so weit gekommen, dass sie nichts mehr zu essen hatten, die letzten, ersparten Rupien für die Weiterbildung des Sohnes ausgegeben. Janak schaut zu Boden. Es ist schön, dass wir die Qual des Momentes teilen können. Es ist auch klar, dass ich für Momente helfen kann, aber ich kann keine Familie ernähren. Es sind Brahmnen, und es ist schmerzlich für sie, so arm zu sein. Krishna hat einmal von einem deutschen Traveller Brot und andere Backwaren backen gelernt, die „German Bakery“ boomte, er stand Nächte am Backofen, Sunita immer dabei. Dann kam Corona, kein Hotel und kein Cafe´brauchte mehr Brot, niemand kam mehr. Jetzt, wo alle wieder an ein Normal glauben, sind aus 100 Brotnachfragen drei am Tag geworden, davon kann man nicht leben. Ich frage Janak, was er denn so machen will, er ist 21. Er wollte Arzt werden, hat dann aber wegen der nicht verfügbaren Kosten auf Veterinär umgeschaltet. Das freut mich, denn hier braucht es dringend jemand, der sich um die Tiere kümmert. Oben im Bild das ist Sukho, den ich schon von früher kenne. Er lebt irgendwo oben, wo eine Tür verschlossen ist, kommt aber jetzt pünktlich zum Milchtrinken. Wir sitzen morgens auf zwei Stühlen nebeneinander, er auf dem grünen weichen Samt, den ich für mich da hingelegt hatte. Zum Glück muss ich kein Krishna sein. Ich habe ja schon einen Namen. Als ich Krishna um ein Brot bat und den Schein hinhielt, wehrte er strikt ab. Es wäre das Einzige, was er gerade geben könne, meinte er. Ich wankte zum wartenden Tuc Tuc.

es

Indien wird gerne mit Hitze verbunden, und natürlich mit Armut, und beides ist durchaus da, doch ist das krasse Gegenteil ebenso da: viel Kälte und viel Reichtum. Angeblich tummeln sich hier die meisten Millionäre, die sieht man natürlich weniger als die Armen. In Delhi war ich einmal bei Freunden zu Besuch in einer durch Wächter geschützten Colony, da sah ich im Nachbarhof fünf der teuersten Vehikel stehen, die man so kaufen kann, und sah dann den Mann, nachdem seine Frau ihm bei der Chai-Einnahme geholfen hatte, zu seinen Wagen hinuntergehen und dort eine Auswahl treffen. Der Gedanke, dass Geld die meisten Probleme löst, ist auch hier seit einigen Jahren voll in Fahrt. Es ist so ein bisschen wie die Freude vieler Menschen auf den Rentenabend, wenn alles, was nicht bedacht und praktiziert werden konnte, nun erscheinen soll, als würde dieses große Es schon auf einen warten und automatisch mit einem Ich in Verbindung stehen. Deswegen sehen in den Augen der derart Hungernden die Touristen oft aus wie Körper, an deren Hüften sich genau das befindet, was es zum Leben braucht. Die Touristen selbst sind eher wie Kinder, die sich oft mühselig durch das Fremde bewegen, weil sie ja keine Zeit hatten für das Andere, nun aber schockartig mittendrin sind. Die indische Kultur ist wahrlich nicht leicht zu verstehen. Alles sieht so ausgereift auch über die Jahrtausende hinweg, und es ist auch die letzte Kultur, die sich der gähnenden Leere des Erloschenen zuneigt und ganz von ihr absorbiert werden wird, bevor etwas Neues entstehen kann. Man weiß hier, dass es passieren wird, aber man weiß nicht wann, und überhaupt: wie soll man den Kipp-Punkt genau erkennen, wenn etwas ganz eindeutig nicht mehr d a s ist, was es mal von sich selbst dachte. Und so bewegt sich alles in unermüdlicher Stetigkeit dahin. Gestern sah ich unten am Wasser eine orangegekleidete Nonne auf dem glitschigen Stein ausrutschen und bis zur Hüfte ins Wasser gleiten. Ein junger Mann eilte zur Hilfe, aber sie war nicht verletzt und ging bereits weiter. In ihrer rechten, erhobenen Hand hielt sie ein Smartphone, dem zum Glück nix passiert war. Trocken und sicher lag es dann da rum, während sie ihre Kleidung auswrang. Man kann ja viel Schrecken nachvollziehen, und alles ist Teil des lebendigen Feldes, isn’t ist?

Manju

Die Besitzer des Hauses, in dem ich hier lebe, hatten mich gebeten, Manju, die, wie sagt man doch gleich – „Haushaltshilfe“ – mit zu übernehmen, und schnell verstand ich, warum es ein uraltes Gerücht gibt, dass Leute, die Servants haben, viel über sie reden. Vielleicht, weil die sogenannten Servants instinktiv wissen, dass sie einen Vorteil haben über einen: man braucht sie. Man braucht genau die, die man aushalten kann und die es vermögen, d a s für einen zu erledigen, was einem selbst schwierig oder unentbehrlich scheint im Sinne von Erhaltung. Der Dienst muss getan werden, sonst gibt’s kein Geld, das kennt wiederum der oder die Einsteller/in des Hauses auch als einen Vorsprung. Nun kann Manju zum Beispiel weder lesen noch schreiben und muss andere fragen, wieviel Uhr und welcher Tag es ist, so ist nie sicher, ob sie überhaupt erscheint, aber spätestens am nächsten Tag ist sie wieder da, was mir ermöglicht zu sagen: Aap kabhee samay par nahin hai (Vielleicht braucht ja gerade jemand diesen Satz in Hindi: du bist nie pünktlich). Ihr Mann ist Alkoholiker und rührt keinen Finger, die Tochter ist krank und will sich, wenn es nicht besser wird, in den (heiligen) See stürzen, wo schon mal eine Frau sich ertränkt hat, den Heiratsschmuck noch am Hals. Manju musste die Garage, wo sie früher mit den drei Töchtern und dem Trunkenen wohnten, verlassen, und nun wohnt sie eine halbe Stunde zu Fuß in einem zeltartigen Gebilde ohne Elektrizität. Wenn man also ein bisschen zuhört, während der Ärger verraucht, versteht man auch, warum die meisten Menschen nicht zu viel vom Leid der anderen hören wollen, denn ein schwarzes Loch kann alles verschlingen wollen und fühlt sich doch nicht gesättigt, so verharrt man am besten bei etwas Mitgefühl. Das wirkliche Thema zieht ja auch durch alle Schichten, und es ist die unbedingte Zwanghaftigkeit, mit der die meisten (indischen) Frauen immer noch die in ungesehenem Nebel sich verausgabende Rolle übernehmen, ihre Männer am Leben zu erhalten, weil es, zumindest in den ländlichen Gebieten, keinerlei Alternativen gibt. Dunkel glüht das Mal von Manu auf den unwürdigen Stirnen (hinter denen geglaubt wird, die Frau muss immer unter der Kontrolle eines Manne stehen). Neulich habe ich Krishnamurti (in einem alten Video) fragen hören: Wie kann man mit einem Menschen leben, der sich nicht kümmert? Können die Frauen. Wo sollen sie hingehen. Hauptsache, er sitzt da rum, erklärte mir einst Reena, denn wenn er nicht mehr da ist, ist man Witwe, also ein unerwünschter Schatten, an dem kein Blick mehr haften bleibt. Manju fragt mich, wie ich es aushalte, so viel allein zu sein. Ich raffe all mein Hindi zusammen, um ihr zu vermitteln, wie außerordentlich gerne ich das Alleinsein habe, vor allem, wenn es mit angemessener Kommunikation ausgeglichen wird, aber weiter geht das Verstehen nicht. Alles entpuppt sich bei näherer Sicht als ungemein komplex, und nicht jeder Mensch hat das Bedürfnis, ohne Faden (als sich selbst) das Labyrinth zu durchqueren, ohne zu wissen, ob es einen Ausgang gibt, obwohl man ja auch hineingegangen ist.

holy

*

Mit mich selbst verblüffender Leichtigkeit habe ich zu dem (an sich) schwierigen Wort „heilig“ zurückgefunden, hinter dem vermutlich ein hartnäckiger Kindertraum sich verbirgt, angereichert mit Großem und Schönem und Leuchtendem, gerne auch ein Schwert in der Hand, mit dessen handwerklicher Präzision Gerechtigkeit ausgeteilt wird, Engel und Götter halt, Wohlwollendes im Sinn, wer braucht sowas nicht. In Indien wird dieses schwer zu Erringende mit tausenden von Jahren anhaltender Selbstverständlichkeit gehandhabt. Seife und Strichholzschachtel werden nicht ausgelassen, heilige Zeichen dürfen einfach auf allem draufsein, ja, was ist denn nicht heilig, ist die Botschaft, außerdem verkauft sich das mit den Göttern drauf besser. Eine Seite des Hauses, in dem ich wohne, geht auf den (heiligen) See hinaus, der trotz aller offensichtlichen Widrigkeiten unbedingt heilig bleiben muss, denn das Leben vieler Menschen hängt davon ab, dass hier an den Ufern alte Sachen erzählt werden dürfen, mit denen die Pilger glücklich nach Hause gehen. Sie haben es geschafft, sie haben das Bad genommen, das alle Sünden tilgt. Natürlich muss man zur richtigen Stunde zur Stelle sein, man muss glauben können, was man für möglich hält. Da fällt mir die kleine Anekdote ein, die ich neulich irgenwo gelesen habe: Satan geht mit seinem Disciple spazieren, da sehen sie, wie vor ihnen jemand etwas aufhebt. Was hat der da aufgehoben, fragt der Schüler den Meister. Ein Stückchen Wahrheit, antwortet Satan. Aber müssen wir uns da nicht fürchten, will der Disciple wissen. Nein, nein, beruhigt ihn Satan, nur ein bisschen warten, dann macht er einen Glauben draus. Gut, ich schaue also hinüber ans andere Ufer, wo meine Karriere als freiwillig Herumwandernde vor vielen Jahren begann, als ich tatsächlich wissen wollte, ob ich das Geheimnis des Göttlichen ergründen würden könne, meine Güte, da war viel Erfahrung möglich. Mit aller Leidenschaft, die mir zur Verfügung stand, habe ich mich an die Asche gesetzt und geschaut, ob aus ihrer Substanz ein Anfang entsteht, und ja, auch Asche kann Liebe sein, man muss sich nur einlassen.Will ich wirklich nochmal alles betrachten von diesem Fenster aus?
  • Photo: H. Robert

nähern

Ich nähere mich jetzt, mit kleinen Schritten und einigen Umwegen, dem Indien, das mich so berührt hat und diese Kraft immer noch auf mich ausübt, sodass ich nie hätte sagen könnte, dass mein Leben ohne es auch nur im geringsten vorstellbar wäre: nein, alles Vorstellbare danke ich vor allem ihm, beziehungsweise ihr, denn man nennt das große Es hier „Bharat Mata“ (Mutter Indien), so war es jedenfalls gedacht, und was einmal gedacht wurde, bleibt immer Zugang. Eine Mutter also wie die Natur, unmäßig in ihrem Output, gnadenlos sich freischaufelnd von allen Ideen und Konstrukten ihrer Bewohner*innen, sodass man am besten ganz da drin sein muss und dieses Chaos möglichst freiwillig  (und humorvoll) lieben, wenn es einen nicht gerade erschreckt oder erschüttert, das kann es auch ganz gut, einen an den Rand des Ertragbaren schieben, wo man dann einen Nu lang einsam herumsteht und Angst hat zu sterben. Was soll man besprechen oder besingen in dieser mit Rosengärten bestückten Wüste, ein jeder und eine jede mit seinem oder ihrem Spiel beschäftigt, und ich meine hier die Teilnahme an einem Großen Spiel (Maha Lila), dem man sich kaum entziehen kann, denn die Götter, die hier die Dramaturgie beherrschen, sind nicht wegzudenken, obwohl ein vielleicht noch mächtigerer Gegenspieler aufgetaucht ist. Schleichend und gleichzeitig schnell hat sie sich eingenistet: die Technik, und saugte genüßlich von einst hohen Orten und Gewissheiten diese Gewissheiten hinweg. Und immer noch sieht es aus, als wäre das alles dasselbe, aber natürlich ist es das nicht, es kann ja nicht mehr dasselbe sein, wir sind doch bereits im dunklen Zeitalter, wo alles Leben ständig mit Maschinen bearbeitet wird, daher heißt es ja: Eisernes Zeitalter. Nun bin ich also nach zwei Corona-Jahren zurück und forsche in den Gesichtern nach Spuren dieser Zeit und finde sie auch als eine Art vorübergezogene Verdunkelung, die nun den Blick wieder öffnet für das Hellere, das Damals, das als normal Empfundene. Wieder eine Auswahl von Gemüse in den Marktkörben, das großzügig eingesetzte Gift hat sich durchgesetzt, alles, aber tatsächlich alles, ist teurer. Für uns, die wir mit Euros antanzen, immer noch mehr als erschwinglich, ich verbeuge mich dankbar vor den Tatsachen. Der Gemüsemann heißt Shyam und ist ein ernst wirkender, aber verschmitzter Typ. Wir lachen viel, während ich doppelt so viel kaufe, als ich vorhatte. Mit den meisten Indern, also denen, denen man selbst begegnet, kann man schlichte, aber prägende Beziehungen aufbauen, manchmal nur bei einem Chai unterwegs, aber man vergisst ihn nicht, den alten Mann mit dem Schal um die dünnen Schultern, der einem den köstlichen Tee in einem Tongefäß zubereitet hat.

 

durchqueren

Wenn man in Delhi ankommt und Freunde hat in Gurgaon, kommt man höchst selten mit dem Staub des Bodens in Berührung, denn man fährt hoch, hier bei Aniel und Parul (und Mowgli) waren es 19 Etagen, dann weiß man ziemlich schnell, was man auch unter „Himmel“ verstehen kann: weg von den Eltern oder den Schwiegereltern, oder was einen sonst noch zu lenken oder zu zwingen sucht. Oder der Sohn ist der Grund dafür, nämlich dass er in die beste Schule kommen muss, wo halt erfolgreiche Männer durchgegangen sind und ihre Fußstapfen hinterlassen haben. Da wird nun Mowgli (Hausname) jeden Morgen hingebracht und wieder abgeholt, unten durch die Sicherheitszonen und Identifizierungsvorgänge durch. In Indien sitzen sehr, sehr viele Menschen auf Stühlen herum und lassen Reichere raus und rein, und wen interessiert es schon in so einem gigantischen Land, was einer durchmacht, wenn das Leben so vorbeirinnt, bis man begreifen muss, dass es das ist, eben diese Arbeit, die Frau und Kinder ernährt, aber nicht wirklich. Aber auch die Reichen, die ringsherum in Gurgaon für die Behausung ihres Himmelreichs eine halbe Million Dollar hinlegen, also über die nächsten Jahre sehr viel abzahlen müssen, ist es nicht leicht. Klar, es gibt in all dem Eingezäunten viel Unterhaltung und Abwechslung von einer Bar und einem Restaurant und Swimming Pool und anderem Sport natürlich, denn die Hochhausschöpfer dieser Kategorie wollen den Käufern einbläuen, dass hier nichts fehlt, alles da ist, was ein Mensch so braucht, nur: was braucht ein Mensch, um das eigene Leben lebendig zu erfahren. Parul erzählt, dass es eine Menge Depressionen gibt, viel kaltgestellte Einsamkeit, die man spüren kann, wenn man aus den gut verdichteten Fenstern starrt und ein wenig vor sich hingrübelt. Mal schauen, wie lange ein freier Geist wie Aniel das aushält. Außerdem sind sie oft in Rishikesh oder in Rajasthan, wo ich lebe und sie auch getroffen habe, wir haben hier gemeinsame Freunde. Man überquert dann mühelos ein paar Zeitalter und landet da, wo man sich selbst Sokrates noch lächelnd herumwandernd vorstellen kann. Es würde auch hier keinen sonderlich verwundern, wenn er stundenlang an einem Fleck tief in Gedanken ( vichar) wie verwurzelt stehenbleiben würde, und es gibt genügend Interessierte, die gerne von seiner Weisheit profitieren könnten, da die Richtung im dunklen Zeitalter schwer zu erkennen ist. Ein Sadhu (sowas wie ein Mönch) hat mir mal vermittelt, dass die vier Zeitalter immer alle gleichzeitig existieren, und dass man daher wählen kann, in welchem man sich aufhalten möchte. Aber das muss man ja mal gehört haben, bevor man eigene Gedanken darüber entwickeln kann.

Gefolge

Und das ist nun Rahul Gandhi, der Sohn von Sonia Gandhi, die derzeit das Angebot, Indien zu regieren, in voller Voraussicht, dass ihre italienische Herkunft ihr unentwegt unter die Nase gerieben werden würde, an den schlichten und klugen Mohan Singh abgegeben hatte. Die Tochter Priyanka gedieh prächtig und man hoffte auf eine Wiederkehr Indira Gandhis, doch sie verband sich mit einem seltsamen Gefährten, dem keiner über den Weg traute usw. Rahul Gandhi selbst wurde jahrelang zum Weich-Ei deklariert und wahrlich, es war nicht leicht zu verstehen, wohin er wollte und sollte. Man warf ihm den „spoilt brat“-Status vor, weit entfernt vom Staub der Straße, so, als wäre Modi näher dran an diesem Staub als er. Nun hatte er, Rahul Gandhi, bereits weiße Strähnen im männlichen Bart, aber eine Eingebung. Und zwar brannte (auch) in ihm der sehnliche Wunsch, Indien, das hier „Bharat“ genannt wird, wieder als d i e Idee zu erhalten, die sie einmal war, nur: was war das. Egal, dafür wollte er auf jeden Fall eine tiefe Meditationsübung (Tapasya) machen und entschied sich für einen Marsch durch dieses ganze Land. Fing ganz unten in Tamil Nadu (Kanyamumari) an und läuft seither gute 2000 Kilometer in unermüdlichem Schritt-Tempo. Er meinte zu Beginn, dass er auch alleine wandern würde, aber siehe, Tausende folgen ihm bereits, Nahrung und Schlafplätze müssen organisiert werden, und ab und zu hält er eine Rede oder gibt bei einer Pressekonferenz kund, dass er an Politik nicht denke, sondern nur an sein Tapasya. Unendlich viele Bilder zeigen ihn, wie er Menschen umarmt und berühmte Schauspieler*innen an der Hand hält. Nun muss man schauen, ob das Ganze eine Wirkung hat, und wenn, was für eine. Hier im Dorf gibt es nur zwei Menschen, von denen ich weiß, dass sie für die Kongress Partei sind, wir reden wie heimlich Verbündete, die die Folgen des Hindutva-Crimes durchschauen. Man sieht Modi an einem Fenster seines Palastes (komisch, dass sie alle in Palästen wohnen) ins Nichts starren, wo Rahul Gandhi vor seinen Augen gesundheitlich immer stabiler und muskulöser wird und vermutlich bald in Kaschmir ankommt, das wird dann ein richtiges „junoti“, eine Herausforderung für alle, denn es sind die Muslime, die nicht in den Hindutva-Plan passen, alles natürlich nur eine Idee.

weit weg


Nirvana
Während meiner Aufenthalte in Indien habe ich nicht erlebt, dass mich mal jemand danach gefragt hätte, wer eigentlich mein Land regiert. Vermutlich weiß man erst, wenn man hier (in Indien) rumwandert, wie weit weg sich alles anfühlen kann. Wie auch in anderen Ländern und Gehirnen, so gilt das für einen Daseiende als die Welt an sich, daher die vielen Schöpfer, die gepachtet werden für die eigene und die kollektive Historie. In Deutschland hatten wohl einige  zu Arte-Programmen Hingeneigten eine Reportage über Narendra Modi und seine Handlanger gesehen, und es war durchaus wohltuend, es mal so durchdunkelt zu sehen, wie es auch ist (und Politik an sich). Ein Desinteresse stellt sich auch zweifellos dann ein, wenn man erkennt, dass man etwas oder jemanden partout nicht lesen kann, und dafür ist Narendra Modi ein Musterbeispiel. Man will es kaum glauben, dass er aus demselben Stoff geschnitzt ist wie die anderen Herren, die gerade die Stuhllehnen ihrer Throne fest im Griff haben, aber solcher Art ist auch der kleine Narendra im Traumboot einer Bombenkarriere als Hindutva-(V)erklärer: also wieder zurück zum reinen Blut, Hindublut ohne Fremd(ein)mischung. Diese Sucht nach einer übergeordneten Reinheit lässt sich nicht so schell aus dem Kollektiv entfernen, nein, im Gegenteil, gerne kommt es zurück und sucht nach schwarzen Schafen, die nicht dazu gehören sollen und man sie daher auslöschen kann und muss. Aus dem Underground kamen allerdings Bilder und Kommentare, die Modi in gleichen Ritualen wie Hitler zeigen, das dürfte immerhin ein Teil d e r Bevölkerung  eines Landes sein, die es sich nicht nehmen lässt, es mit eigenen Augen zu sehen, vielleicht gar die Hälfte, das wäre schon gut. Meistens vermeide ich das Thema Modi, wenn es sich einrichten lässt, denn es gibt auch die, die ihn lieben und in ihm den allgütigen Papa suchen und finden. Nicht weit vom „Herrn“ entfernt hat er sich selbst plaziert, Narendra Modi,  und er hat die selbstüberzeugte Vorgaukelei in eine feste Form gegossen, und fast hätten sie in Gujarat einen Tempel für ihn errichtet, die Skulptur war schon fertig, da fiel es doch ein bisschen auf, man mahnte es rechtzeitig ab. Trotzdem merkt man, dass ein Gottgedanke in ihm werkelt und ihn triebhaft in diese Richtung zwingt. Ein indischer Freund aus der IT-Branche behauptete mal lächelnd, dass ja wohl jeder Mensch ein Gott sein wolle, eine Idee, die in Indien zahllose Umsetzungen gefunden hat.  Und da man zwischendrin mal merkt, wie wenig von dem, was man zu glauben bereit war, tatsächlich zum Wissbaren gehört, bleibt vieles traumgleich hängen in suspendierter Animation, verstanden als: Alles ist möglich.Und das muss man einfach locker zugeben: dass es mehr Unfassbares gibt, als man für möglich gehalten hat(te).