Kindheit

Was den ersten Lebensabschnitt von Kindern in Indien betrifft, so sprengt die Bandbreite der Räume, in denen man sie aufwachsen sieht, zumindest für Menschen aus dem Westen so ziemlich alles Vorstellbare. Wenn man einmal nach Ankunft in einer Großstadt wie Delhi genügend geschaudert hat beim Vorüberfahren an den Straßenrändern in einem Taxi, kommt man an kleineren Orten wieder in eine gewisse Beruhigung. Bei dem Fest, das zur Zeit vor allem abends ab 10 Uhr auf Hochtouren läuft, übernehmen zuerst die Kinder das Programm. Sie schnitzen natürlich ihre eigenen Stöcke und hauen jenseits von Rhythmus auf den bereitliegenden Trommeln herum. Niemand  wehrt sich gegen die Ohrenbetäubung. Väter tragen stolz vor allem ihre kleinen Töchter zum Marktplatz. Es ist gut, auch mal nicht zu schaudern. Kindheit ist erste und direkteste Lebenserfahrung. Da, wo kindlche Kräfte wenig eingeschränkt und kontrolliert wurden, wächst vielleicht die Kraft für das Durchhalten und Überleben späterer Ereignisse. Hier sieht man auf den Straßen Kinder Roller und Motorrad fahren, noch ein Kind hinten drauf. Die Polizisten, auf anderes konzentriert, zucken nicht mit der Wimper, denn ihre Kinder fahren ja auch Roller, so ab 8 Jahren will ja jeder mal auf den Sitz. Andere Kinder wachsen mit behinderten oder bettelnden Eltern auf wie die Tochter von Halli, die jetzt neun Jahre alt ist und bildhübsch, man darf sich fürchten. In Hotels und Restaurants ist es üblich, dass Kinder arbeiten. Da man es nicht ändern kann, freut man sich schon, wenn der Boss sich anständig verhält. Kinder kann man leicht ausnutzen, da greift auch selten jemand ein. In so ziemlich allen Häusern, in denen ich mich bewege, arbeiten Kinder als Servants. Sie kommen oft aus Nepal, wo große Armut die Eltern zwingt, ihre Kinder nach Indien zum Verdienen zu schicken, wo das Bedienstetenleben üblich ist. Es gibt auch die Unart, Kinder als Götter zu verkleiden, um damit Geld zu verdienen. Dann wird viel geknipst bei den Touristen, oder man fragt sich, aus welcher Substanz wohl das tiefe Blau ist, das täglich ihren ganzen Körper bedeckt. Oder es kommt eine wandernde Familie vorbei, die auf dem Marktplatz für ein paar Groschen vorführt, was sie ihren Kindern an Verrenkungen alles beigebracht haben. Mittelalter und Neuzeit fließen nahtlos zusammen   Mit sechs Jahren, sagt man von Vertretern des Islam, sei Aisha zu Mohammed gekommen bzw gebracht worden? Aus der Sechs machte man dann später eine Neun, doch ist das schon das Ende der Kindheit? Die Regierung macht Versuche, Kinderhochzeiten zu verbieten, aber wenn das Thema einschläft , wird weiterhin mit 6 Jahren verheiratet. Man kann ja nie wissen, ob später noch Bräute vorhanden sind. Da drüben bei der Taubenfutterverkäuferin sitzt ihr kleiner Sohn und hilft bei der Arbeit. Arm ist, wenn man sein Kind nicht in die Schule schicken kann, auch wenn es bereits eine kostenfreie Schule gibt. Ich kenne eine Frau aus der Brahmanenkaste, die ihre beiden kleinen Söhne in einem dunklen Zimmer hält und manchmal den Größeren schlägt. Wenn die Familie nicht handelt, muss man mit der eigenen Hilflosigkeit umgehen. Es gibt ja auch viel Gutes zu berichten, wie zB Menschen im Bunker eines Krieges geboren werden und an der Morallosigkeit ihrer Geschichte reifen in eine tiefe Freude ihres eigenen Seins hinein.
Auf dem Photo oben sieht man den Sohn des Priesters, (der Papa ist gerade damit beschäftigt, den Steinphallus des Gottes Shiva zu ehren), Kontakt mit einer kleinen Tempelanlage, dann mit dem daneben sitzenden Mönch machen.

zusagen

 

Meine schlichte Begeisterung für die Entzifferung von Schrift auf indischen T-Shirts  hat natürlicherweise über die Zeiten hinweg stark nachgelassen , u.a. vielleicht auch, weil für die TrägerInnen die gekaufte Materie  keine Bedeutung im Sinne der Transportfähigkeit von Worten hat, sie  die Schriftzüge also in keinerlei Kontext zu sich selbst setzen. Nun lief heute früh eine Frau vor mir auf der Brücke, und auf ihrem Sweater standen die Worte „Arctic Hunt“,  also „Arktische Jagd“. Da durchzuckt einen doch alles Mögliche wie eiskristalldurchdrungene Weiten oder azurne Einsamkeit, oder mächtig verlangsamte Zeit durch eine endlose und tiefe Stille. Das Leben hat ja diese Eigenart, einerseits den Kern des Ewigen in sich zu tragen, und andrerseits kurz genug bemessen zu sein, um leider gewissen Dingen wegen der Zeitaufwendigkeit nicht nachgehen zu können. Zum Beispiel herauszufinden, wo „arctic hunt“ von wem gedacht und entschieden wurde, um letztendlich auf dem warmen Pullover einer indischen Frau zu landen, auf die die Buchstaben wenig Wirkung haben. Würde sie allerdings morgens um den See laufen im Bewusstsein einer arktischen Jägerin, und das vor allem in der aufsteigenden Bruthitze (wo sie dann wiederum den Pullover nicht tragen würde), hätte es sicher eine aufbauende, wenn auch einsame Wirkung auf die wartenden Tätigkeiten. Hier kam ich natürlich automatisch auf die Verbindung zwischen Wort und Wasser, und da wartete bereits der Japaner Masaru Emoto auf mich und meine Erkenntnis, wie viel von der aufgeladenen Energie am See davon kommen musste, dass hier praktisch nichts stattfand und findet, was nicht in Bezug auf eine Anstrengung hinzielt, Gedanken und Worte auf guter Ebene zu halten, wozu auch das heilige Baden in diesem von menschlicher Anstrengung und heiligen Schriften getränkten Wortteich gehört mit seiner „geheimen Botschaft des Wassers“, die viele von uns sicherlich einmal einleuchtend fanden. Jahrelang hat der Mann geforscht und wissenschaftlich nachgewiesen, dass das Wasser die Fähigkeit hat, Informationen, ja Gefühle und Bewusstsein zu speichern, was er dann selbst mit Bildern gefrorener Kristalle zeigen konnte. Wenn man es bedenkt, ist es umwerfend. Erst wird das Wort gesprochen, und daraus entsteht die Schrift. Deswegen, sagt er, repräsentieren geschriebene Zeichen das gesprochene Wort. Und dass das Wasser die Schwingung des gesprochenen Wortes und selbst die Gedanken übernehmen kann. Da verneigt man sich doch gerne mal vor dem kosmischen Strom, wenn man das Glück hat, Zugang zu gutem Wasser zu haben, und Zugang zu förderlichen Gedanken. In der bewussten Verbindung dieser beiden Zugänge sehe ich eine der wundervoll leichtfüßigen Möglichkeiten, sich in guter Stimmung zu halten. Arktische Jagd!, oder was auch immer einem bei einem See oder einem Schluck Wasser aus dem Wortschatz der Menschheit einfällt und zusagt.

 

vorbereiten

Es ist unvermeidlich und unübersehbar, dass wir auf „Holi“ zugehen, das indische Fest, das scheinbar auch im Westen unter jugendlich Farbfreudigen sehr beliebt ist und ohne eine gewisse kollektive Enthemmung nicht wirklich abheben kann. Nun ist der Ort, den ich manchmal „das Dorf“ nenne, geradezu berühmt und berüchtigt für dieses Feiern, nicht mehr so sehr für das heilige „holy“ mit Ypsilon, sondern das mit „i“, berüchtigt also für Stunden von wildem Techno-Gestampfe, alles gut organisiert, und, soweit möglich, in Schach gehalten von Holi-Hütern, natürlich erst, nachdem viel passiert war. Das sind ja nur die Vorbereitungen, die gerade in Schwung gebracht werden für das eigentliche Toben, das dann am nächsten Freitag stattfindet. Zu meiner Überraschung höre ich so nebenbei, dass Polizei am Anfang des Dorfes stationiert sein wird, um Störenfriede aus anderen Städten und natürlich potentielle Terroristen abzufangen, dass aber die meisten indischen Männer (muss man schon gendermäßig so eingrenzen) deswegen schon Tage vorher anreisen und Zimmer belegen. Es ist eh schon derart proppe voll im Bazaar, dass man nicht weiß, ob man die Inder bedauern oder bewundern soll für diese subtile Eroberung ihres Lebensraumes, die als solches natürlich nicht erfahren wird, da alle nur auf gutes Business hoffen. Es werden, das habe ich auch gehört, 10 000 Israelis erwartet, die ganz wild sind auf diese Farborgie, für die eine Unmenge von Substanzen eingeworfen werden, um in Stimmung zu kommen und auch zu bleiben. Da es kaum einen Fluchtweg gibt, bleibt man am besten da, wo man ist und schaut, wie man durch die Tage segelt. Gestern Abend nämlich hat es angefangen mit dem Stocktanz auf dem Marktplatz und wilden Trommelwirbeln, nur ein paar geringe Meter von dem Haus entfernt, in dem ich lebe. Man geht dann irgendwohin, wo man eine Weile zuschauen kann, wie eine Menge Menschen sich sammeln und die Trommler anheizen, bis langsam die geschnitzten Stöcke am Platz ankommen (10pm), und dann wird mit den Stöcken im Kreis herumgetanzt und die Stöcke werden aneinander geklickt, die vom Vordermann und die vom Hintermann. Schwitz!, gar nicht leicht, sowas verbal einzufangen. Vielleicht ist es das Stammesverhalten, das so anregend ist, auch für die Travellers, weniger für die Touristen, die ja nicht ahnen können, wie harmlos das alles erstmal ist. An den Rändern des Tanzes gibt es heiße Milch zu trinken und natürlich den beliebten indischen chai, und ein Mann bietet verschiedenen Kuchen an. Das wird ja meist spät, bis sich für viele der Anwesenden der Süssigkeitsrausch  einstellt. Fünf Tage vor Holi fängt es also an: jeden Abend Stocktanz und ab und zu dazwischen auch mal Darbietungen der Fremdlinge mit goldenen Reifen, die wohl gerade wieder in Mode sind. Kein normales Hula hoop, nein, extreme Kunstfertigkeiten, die auf Smartphone-Videos in die indische Heimwelt wandern werden. Dann kam von rechts aus der Gasse noch ein aufwendiger Hochzeitszug dazu und wurde von Meistern des Planlosen sorgfältig durchgeleitet. Es gibt ein Hindi-Wort für diese spontane indische Kunstform, es heißt „tschugar“, kann man ja förmlich hören, was es ist, so ein freundliches Durchschubsen, bis es weitergeht mit den Stöcken oder mit was auch immer. Da dann nicht mehr viel anderes geschieht als Leute rein und raus aus dem Kreis mit den Stöcken, habe ich mich zurückgezogen und war überrascht, dass ich bei all dem Lärm mühelos einschlafen konnte. Es gibt eben diesen Ort im Zentrum des Wirbelsturms. Vorher bin ich noch schnell zum Nachbarn und habe versucht, bildlich ein wenig die Atmosphäre einzufangen. Die Lichterketten gehören auch zum Stocktanz. Man muss bedenken, dass das nur der müde Anfangskreis war, der sich gegen Mitternacht stark vergrößert in ausgelassener Männerrunde.

Marianne Moore

Bildergebnis für Marianne Moore

DER GEIST IST EINE VERZAUBERNDE SACHE

ist eine verzauberte sache
wie der glanz auf einem
grashüpferflügel,
von der sonne gefächert
bis seine netze zahllos sind.
wie Gieseking, der Scarlatti spielt;

wie diese ahle des apteryx
als schnabel oder der
regenmantel des kiwi
aus haarigen federn, spürt trotz
blindheit der geist seinen weg,
heftet die augen auf den boden.

er hat das ohr der erinnerung
das hören kann ohne ein
gehör zu haben.
wie eines kreisels fall,
wahrlich unbezweifelbar,
da von herrschender gewissheit bewahrheitet,

ist er eine macht
starker verzauberung. er
ist wie der tauben-
hals, der beseelt wird von
sonne; er ist auge der erinnerung;
ist gewissenhafte inkonsequenz.

 

 

 

erfahren

  Der Tempel des Gottes Shani (Saturn), einmal mit Affe, und heute mit vielen Gaben, weil ja Samstag ist, Shanivar.

Eben: die Götter sind nicht wegzudenken, und selbst wenn man sie wegdenken könnte, wären sie da, denn mir selbst ist nochmal ganz klar geworden, dass es hier in Indien so gut wie nichts gibt, wo sie nicht  in irgendeiner Weise beteiligt sind, sei es in den Namen der Hotels oder auf der Seifenpackung, und die erste erfolgreiche Großproduktion von biologischen Nahrungsmitteln kommt von einem Yogi, dessen Übungen und Produkte von Millionen gekauft und geübt werden, angeblich auch von Narendra Modi, der zu den 364 Festtagen jetzt noch einen Yogatag eingeführt hat. Ja, und wer soll einen in die Höhe ziehen ins aufrechte Sitzen und Pranayama-Atmen, wenn nicht ein göttlicher Haken, der sich von oben her einschaltet und  den widerspenstigen Körper hochhievt. Ist man also in diesem kulturell unauslöschbaren Bewusstsein nicht (mehr) verankert, bleibt einem der Zeugenstand. Das Bezeugen von Dingen, die da sind, ist meines Erachtens eine akzeptable Beschäftigung. Hat man einmal gefunden, was man zu suchen glaubte, ergibt sich automatisch das, was man tut. Dadurch lernt man sich kennen und ist in der glücklichen Lage, sich selbst zu überraschen. Glücklich bedeutet hier nicht, dass alles schön und harmonisch sein muss, sondern es kann einfach für einen d a s sein, was es ist. Da die Gegebenheiten sich oft auf geradezu wunderbare Weise zu fügen scheinen, kehrt man doch irgendwie zurück zu bescheidenerer und respektvoller Aufnahme, da einem einerseits das Gefühl geschenkt wird, in geistiger Freiheit handeln zu können, und andrerseits ist es offensichtlich, dass die Wirkungsquelle der kosmischen Ordnung die tragende Kraft ist und etwas, das man verstehen muss oder kann, will man die Bühne des Spiels als eine lebendige Realität erfassen. Das ist geistig und körperlich bewegend, kein Zweifel. Gestern habe ich mit den Freunden aus Bombay auf ihrem Laptop einen Film  gesehen mit Kangana Renaut, einer Bollywoodschauspielerin  mit bahnbrechender Biographie im Sinne von selbstbestimmten Entscheidungen auf ihrem Weg. In dem Film („Queen“) passiert genau das, was einer jungen Frau passiert ist, die ich letzte Woche mit ihrer Freundin besucht habe: ihre Verlobung war in vollem Gang, beide Familien happy, dass das Kind gut untergebracht ist. Dann annulliert am nächsten Tag der Bräutigam die Hochzeit, wo alles Mögliche schon Hände gewechselt hat, Silber und Gold und vieles mehr. Die Braut wird nur noch bedauert. Bei unserem Besuch waren es gerade zwei Tage her, die junge Frau war noch verloren in der Fassungslosigkeit eines erdrückenden Alptraums. Im Film entschließt sich die Frau, ihre Hochzeitsreise, immer noch organisiert, alleine anzutreten, fährt nach Paris und Amsterdam und macht genug Erfahrungen, um letztendlich, wieder in Indien, dem ehemaligen Verlobten, der nun wieder will, den Verlobungsring zurückzugeben, und bedankt sich bei ihm, sozusagen dafür, dass er nicht ihr Mann geworden ist. Nun gut, ein Movie, ziemlich frische Regie, gute Songs, und immerhin auf Varianten hinweisend, die Samen eines neuen Denkens enthalten. Aus meinen inneren Korridoren, wo die Archive lagern, taucht ein Text auf aus der indischen Urzeit, der besagt, dass es in dieser Zeit (der dunklen), nur der weiblichen Kraft (Shakti) möglich ist, das von männlicher Zerstörungskraft Festgefahrene wieder in eine lebendige Bewegung zu bringen. Die beiden Göttinnen, die für diesen Job geeignet sind, agieren selbstbestimmt und ohne männlichen Einfluss. Der Schmerz braucht für seine Dauer dringend eigene Räume, aber Anregungen aus dem Erfahrungshaushalt der Menschheit sind auch immer willkommen.

…und…

Als ich dann gestern wieder mal an einem meiner Lieblingstempelbauten vorbeigekommen bin, fiel mir ein, dass dort ein ungewöhnlicher Gott seinen Sitz hat, der selten erwähnt wird. Es ist Dharmraja, der Gott der Rechtschaffenheit  und Hüter der kosmischen Ordnung, der auch die Funktion hat, nach dem Tod Recht zu sprechen. Als ich mein Bild heranzoomte, war ich erstaunt, wie sehr das Abbild diesem Joker-Clown aus einem Film glich (mit Jack Nicholson?). Wenn man am liebsten das Gefühl weglachen würde, aber es vergeht einem. Da ich schon wieder bei Göttern gelandet bin, kann ich auch noch von einem Tempel berichten, von dem mir Anil erzählt hat und der der Göttin Karni geweiht ist, in dem Unmengen von Ratten gefüttert werden, und man sieht ihnen an, dass es ihnen blendend geht. Es gehört auch dazu, von dem gleichen Napf zu essen wie sie, und noch nie soll jemand erkrankt sein, so, als wenn es dafür Überprüfer geben würde. In Kathmandu habe ich auch mal einen den Ratten geweihten Tempel besucht, wo sie locker auf dem Priester herumliefen und auch eine auf seinem Kopf saß. Jetzt fällt mir natürlich noch mehr Seltsames  über Tempel und Götter ein und über Menschen, die ihnen geweiht sind, und schnell hört die Vorstellung von seltsam auf. Dass das alles überhaupt Raum bekommt, ist schon wunderbar genug, diese ganzen unendlichen Geschichten, so wie Jesus zB durch die Tempel fegte und die Händler zurecht stutzte.Immer mehr Details kommen hinzu, von geteilten Meeren bis zur Heilung des Irrsinns, der auch manchmal geachtet wird hierzulande als einen Zustand, in dem ein Gott sich auch mal empfinden möchte. So hilfreich solch eine Gehirndehnung  sein mag, so trostpflastermäßig mutet es einen doch an, wenn man so viele gestörte Einsamkeiten inmitten des  „Menschenparks“ wahrnimmt, wo eine andere oder zusätzliche Hilfe oder Wahrnehmung des menschlichen Leides sicher gut wäre. Sudhir Kakar, ein indischer Psychologe, hat das größte Problem darin gesehen, dass es die indische, persönliche Biographie eigentlich noch gar nicht gibt, auch weil sie von Göttern gar nicht zu trennen ist. Erst, wenn einer kritischen Masse wacher Individuen klar wird, dass die Hülle den verblassten Inhalt als Substanz nicht mehr trägt, kann man sich hier Veränderungen vorstellen.

bleibend

 

Ja, die Götter, sie sind überall, hängen an den Wänden, zwischen den Wurzeln der Bäume, in den Tempeln, in den Häusern. Schön sind sie, auch so eine Idee des vollendeten Menschen, wie er nie sein wird, wie er oder sie nicht sein kann. Blaue Haut, blaues Blut. Die Göttinnen reiten auf ansonsten wilden Tieren, die aber hier Symbol der gezähmten Kraft sind. Die Jahre waren wunderbar und abenteuerlich, als der Zweifel noch nicht notwendig war, auch nicht der Glaube, nur diese Freude an den Bildern, die diese Kultur, hervorgebracht  und uns hat an ihr teilnehmen lassen, und die klare Aussage machen nicht nur über die Erotik des Seins, sondern auch über das zu Erreichende, das in jedem Fall und jeder Hinsicht die Form überwinden muss, will es sich als ein Gefühl erfahren, dass davon nicht abhängig ist. Eine tote Katze liegt auf dem Weg, ein paar vertrocknete Rosenblätter drumherum, wahrscheinlich von Foreigners gestreut, denn Katzen sind hier nicht beliebt, obwohl man zur Göttin Papmocini gehen kann, die in der Nähe auf einem Hügel wohnt, damit sie die Sünden den Tieren gegenüber vergibt. Ich begegne auch einigen Hustenden, die von Fiebernächten berichten, die wir alle aus Erfahrung kennen. Ein hustender Brahmane ist ganz bestürzt. Er isst gut, erzählt er, steht wie immer um 3 Uhr früh auf, macht sein Paricrima, dann seine Puja, kurz: alles regelgerecht, und dann das. Natürlich ist es nicht der Job der Götter, der Grippe Einhalt zu gebieten, oder gute Brahmanenkinder zu verschonen. Was ist denn ihr Job? Sie hängen in Bäumen und an Wänden herum und erinnern an Augen, die aus einer infantilen Arglosigkeit herausgefallen sind, und hinein in die erfrischende Nüchternheit. Immer noch schön sind sie, die Blauhäutigen, man hat ja die Liebe für sie nicht vernichtet. Alles, was einmal geliebt wird, ist bleibend. Auch hat ihre Anwesenheit durch den indischen Geist innere Räume im eigenen Geist geöffnet, von denen man gar nichts wusste, etwa eine Bereitschaft und Offenheit für die mystische Wirklichkeit, mit der sich die westliche Glaubenstreue den Wissenschaften gegenüber gut ausbalanciert. Auch unter den Göttern natürlich Neid, Eifersucht und Kampf. Man erkennt in ihnen das brütende Menschenhirn. „All want elephant“, meint Ashok.
Jaja die Götter, so hilfreich einerseits, doch auch so hilflos. Ich habe in einem Tempel einen Rahmen gesehen, aus dem einer von ihnen gefallen war (siehe Bild). Wer kann schon behaupten, da sei eine Leere entstanden!?

 

Die Bilder zeigen 1. Ram, und 2. Durga, und 3. die göttliche Fülle der Leere

 

wedding

 

Astrologisch günstige Tage scheinen sich wieder mal zu ballen für die arrangierten Lebensverbindungsorgien, denn unentwegt rattert und bläst es durch riesige Lautsprecher, die die life Musik der Bands transportieren. An einem Tag, wo es so unerträglich laut wurde, dass einige Touristen die Flucht ergriffen haben, prallten unentwegt Hochzeitszüge aufeinander und mussten sich mit komplexen Navigationskünsten aneinander vorbeilavieren. Wenn man an so einem Tag unterwegs ist, kann man auch leicht von Traumsequenzen ergriffen werden: ist das nicht derselbe Prinz auf dem selben weißen Pferd, den ich gerade schon einige Male gesehen habe, aber nein, da kommt noch einer, und hier gleich noch einer, und viele Frauen in riesigen Gruppen und teuren Gewändern, die das alles auch schon hinter sich haben und wissen, wie sie laufen, die langen Tage der Rituale, bis das Unaussprechbare hinter der Tür stattfindet. Da der Druck dieser immensen Ausgaben immer größer wird, spreche ich mit Indern darüber, ob man nicht einiges davon wieder einschränken kann. Kann man nicht. Hier wirkt der kollektive Druck am stärksten. Was immer war, muss sein, und was dazu kommt, muss auch sein. Der Whisky zum Beispiel, der hier eigentlich verboten ist, muss sein, und eine Aussteuer, die sich kaum jemand leisten kann, muss auch sein, was zur Folge hat, dass das Leben statt den hohen früheren Idealen von nun an den Kreditanstalten geweiht ist. Bist du auch auf so einem Pferd durch die Gegend geritten, frage ich einen Freund aus Bombay, der einige Tage im Dorf ist mit seiner Frau. Ja klar, sagt er. Seit er 17 Jahre alt ist, haben seine Eltern Mädchen für ihn eingeladen. Er schätzt, dass er ungefähr 100 getroffen hat, bis er das von ihm gewünschte Heiratsalter hatte und zu ihren Wünschen „ja“ sagte. In fast allen „Fällen“, die ich selber kenne, müssen vor allem die Eltern zufrieden sein, dann kommt etwas Entspannung ins Spiel, vor allem für die Männer, denen draußen weiterhin die Welt gehört, während die Frauen drinnen sich mit den „susrals“, den Schwiegereltern, zurechtfinden müssen, da die Frau ja in die Familie des Sohnes zieht. Es ist immer wieder doch sehr gesund, mit Dingen konfrontiert zu sein, die man sich nicht vorstellen kann. An diesen astrologisch günstigen Daten gibt es in der Zeitung  täglich Nachrichten von sehr viel Leid. Vieles geht schrecklich schief. Total überfüllte Hochzeitsfahrzeuge kippen um, eine Braut vergisst die Ringe, kehrt um und rast gegen einen Baum. Gestern hat ein 83-jähriger Mann eine 30-jährige Frau, die zufällig noch frei war, geheiratet, weil er unbedingt noch einen Sohn wollte, der sich um seinen Besitz kümmert. Ein Ingenieur, stand auf der Titelseite, der an seinem Hochzeitstag (gestern) noch schnell mal telefonieren wollte, wurde gesehen, wie er in der Nähe von Gleisen links telefonierte und rechts Mails durchcheckte und den anfahrenden Zug nicht bemerkte. Die Frau, (die zum Glück noch nicht Witwe war und den Fremden nicht kennenlernen konnte) war untröstlich, stand da. Der Zeitungs-Artikel-Entscheider fand die Tragädie mit dem Ingenieur vermutlich auch deshalb so titelseitenträchtig, weil er mit der Information einer Studie abschließen konnte, wie ich jetzt, dass Indien in der Welt führend ist in Toden, die durch Smartphones verursacht werden. …..

.Naresh Pal Gangwar

Das erste Bild oben ist von einer extra Hochzeitszeremonie, die man haben kann, wenn man von einem Priester am See gesegnet werden möchte. Daneben habe ich das Photo eines Zuges nur deswegen gemacht, weil die Lampen auf fahrbahren Elefantenskulpturen angebracht waren, die mit viel Stress hantiert werden mussten.

 

parampara

Das Wort „parampara“ heißt Tradition und ist eines meiner Lieblingsworte in Hindi im humorvollen Sinn. Es könnte auch ein gutes Wanderwort sein….pa-ram-pa-ra etc, und es ist ja wahrlich eine zeitlose Wanderung, die diese Kultur hinter sich und vor sich hat. Wenn in einer Kultur mit Tradition mal so etwas Schreckliches passiert ist wie Kriege, und solche Ideologien wie das „Dritte Reich“ ihr Unwesen getrieben haben, dann ist bei vielen Überlebenden die Verbundenheit mit dieser Tradition erschüttert, und das Fremdsein in ihr nimmt zu. Gut, in Indien gab es auch massive Turbulenzen, aber sie selbst waren nie in Eroberungszügen unterwegs, und es war leicht, sie zu erobern, denn sie haben sich gesehen und sehen sich bis heute als ein friedliches Volk. Vieles davon ist für ferne Himmel gedacht und neue Leben, wenn man wegen seiner Taten in diesem Leben wieder irgendwo neu eingestuft wird, und sich wieder, etwas geläuterter, einreihen darf in den Strom des Geschehens. Die Millionen von Regeln, die sich hier über das vollendete Chaos stülpen und es immer und immer wieder formen gemäß der gleichen hehren Vorstellungen, wie sich ein Mensch auf Erden am besten verhalten sollte, und was ihn an diesem Vorangehen hindert. Heutzutage denke ich, dass es in der Tat diese nahtlose, kollektive Anstrengung ist, auf das „Gute“ ausgerichtet zu sein mit Gedanke, Wort und Tat, die den Hindus so am Herzen liegt, und offensichtlich die Ergebnisse so zufriedenstellend sein können, dass es für die meisten keinen Grund gibt, etwas in Frage zu stellen. Da liegt der Haken. Es gibt immer den Moment, wo Fragen dringend gestellt werden müssen, weil sonst das hilflose Zuschauen vorrangig wird, so, als könnte es gar nicht sein, dass sich schwärzeste Dunkelheit breit gemacht hat, und wie, wo war sie, und warum kommt sie jetzt hervor? Das Wissen ist ja auch kein geheim gehandeltes Produkt mehr, sondern die Throne sind voll mit darauf Sitzenden, und die, die sich als ‚auf dem Weg sein‘ empfinden, müssen entscheiden können, was überhaupt gesucht wird, und ob auch gefunden werden kann. Indien ist immer noch die beste Lebensuniversität, die ich kenne. Alle, die hier durchgepilgert sind und immer noch durchpilgern aus aller Welt, werden etwas für sich Wertvolles mitnehmen, von den Kochrezepten bis hin zur Leere des Staunens. Hier ist das ‚Tat Twam Asi‘ geboren aus dem Hineinlauschen in die Weite. Dort kann man sein Ich getrost in Ruhe lassen.

einmal

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Zuerst habe ich beim Überqueren des Bazaars nur den Einen entdeckt. Es war schon ungewöhnlich genug, auf der Bazaarstraße einen so leeren Fleck zu sichten, flüchtig natürlich, aber immerhin lang genug, um (mir) ein Bild zu machen. Was ist das denn, fragte ich mich, das ist doch kein Streuner, der muss jemand gehören. Wahrscheinlich dem Besitzer eines Standes mit öltriefenden Essgebilden, denn er konnte sich vor Masse kaum bewegen. Allerdings konnte man es auch als ein Rasseexemplar wahrnehmen. Auf einmal, ich traute meinen Augen, kam ein Zweiter von irgendwoher dazu, und in meinem Geist meldetetn sich wie von selbst die Worte „doppelt gemoppelt“. Ich musste jetzt warten, bis der Fleck, auf dem sie sich niederließen, wieder frei war und wusste nun, dass im Bazaar freie Flecken entstehen können. Auch kamen junge Mädchen in Gruppen vorbei, die wollten alle die Beiden streicheln und viele Selfies mit ihnen machen, das dauerte auch so seine Zeit, bis die Geschöpfe bei allem genüsslichen Wälzen wieder zu sich zurückkehren konnten. Viele Motorradfahrer mussten ihnen ausweichen und gleichzeitig staunen. Über sowas klagt hier nie jemand, was ich auch gerne lernen möchte. Die Inder lernen sehr früh, vielem auszuweichen: Fahrzeugen, Tieren, Hochzeiten und Hochzeitszügen, Familienmitgliedern und überhaupt: Menschen. Der lineare Weg hatte und hat in Indien wenig Chancen. Alles dreht sich im Kreis, verschwindet, kommt wieder, zeigt sich jedem jenseits des Wortes als holistisches Sein, in dem es keine Behinderung gibt für das Unvorstellbare. Auch wenn ich den Verpfleger der beiden Schwergewichte ausmachen kann, ändert sich dadurch nichts an der Einzigartigkeit des Verharrens im Raum, denn wir sehen die Dinge immer nur einmal, obwohl wir die Gewohnheit haben, es anders zu denken.

 

Rose Ausländer

 

Related image

Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam

besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden

Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte

die uns aufblühen lässt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen

interntl. (news)

Der Samstag eignet sich irgendwie zum seltsamen Blick.. Im Westen wird ja gigantisch eingekauft samstags, viele sind davon erschöpft und freuen sich auf den Sonntag, der immer wieder was verspricht, was er oft nicht halten kann. Hier in Indien wird auch samstags durch Shani, den schwarzen Stein-Gott, die Angst geschürt, die Religiöses zusammenhält, und zwar liegen alle Regierungsgeschäfte sonntags brach, aber sonst ist alles offen wie immer, deswegen hat man vom Samstag nicht so viel außer mehr Pilger und mehr Puja, und natürlich mehr Paisa (Kleingeld). Ich selbst habe ja sonntags auch rundenfrei, also mache keine Runde am See, das hat auch eine gute Wirkung auf den Samstag. Deswegen bleibe ich heute nicht weiter hängen, sondern mache nur einen Schnappschuss (s.o.), und zwar genau in dem Tempel, in dem mich vor einem Jahr gemäß einiger Locals die Göttin vor weiteren Affenbissen gerettet hat. Deswegen ist es auch kein Selfie, bewahre! Wie konnte ich nur so schnell dieses Türgitter schließen und mich vor den Biestern schützen!? Zurück im Raum widme ich mich den World-News. Es fragt sich nun weiterhin, ob das, was ich sehe, vor allem mein Samstagsblick ist. Doch, ja, interessant! In der Süddeutschen wird berichtet, dass ein einziger indischer Buchstabe aus der Telugu Schrift Apple-Geräte abstürzen lässt. Sobald dieser Buchstabe erscheint, friert die App. ein. Im schlimmsten Fall startet das Phone immer wieder von selbst neu (!). Beim Runterscrollen von Spiegel online treffe ich auf diese Augen oben im ersten Bild. Es stellt sich heraus, dass es die Beine der eingeladenen Gäste unter dem Talkshowtisch  bei Maybrit Illner und ihrer Sendung über die Krise der SPD sind. Abgesehen davon muss ich wenigstens einmal sagen, dass das Wort GROKO eine beklemmende Wirkung hat, unter deren Schwäche gerade ein ganzes Land zu grollen scheint. Das Grokodil (oder der Grokodeal) hat auch Frau Merkel verschluckt, ich bedaure das, denn wer gut herrschen kann, den sollte man lassen. Aber vielleicht ist sie ja heimlich froh, irgendwann auch öfters mal frei zu haben. Das dritte Bild oben wird auch bei Spiegel online erklärt. Es zeigt, wie Forscher herausgefunden haben, dass über Mega-Städten wie Delhi, große Löcher in der Wolkendecke entstehen, und dass es mit der Wärmeausstrahlung der Städte einen Zusammenhang gibt. Ich mochte ja vor allem das (von mir entdeckte) Wolkenprofil. Dann gab es noch in der Times of India einen Hinweis auf ein Zitronen-und Orangenfest in Menton (Frankreich), wo französische Künstler den indischen Gott Ganesh ganz aus Zitronen und Orangen skulpturiert haben. Die Times berichtet außerdem von einem Mann in Deutschland (Dortmund), der des gravierenden Pizza.Stalkings angeklagt ist, obwohl noch nicht gefasst. Das Opfer, ein Anwalt, wird bombardiert mit Pizzas (oder Pizzen?) und hat schon mehr als 100 davon zugesandt bekommen. Er sagt, er komme kaum mehr zu seiner Arbeit, weil der Täter jetzt auch noch angefangen hat Sushis zu schicken.

bezeugen

Ist es nicht das, was wir tun?, bewusst oder unbewusst: wir bezeugen das Ganze während der Dauer unseres Aufenthaltes durch unsere Anwesenheit. Besser als irgendeine dieser indischen Ideen, bei denen sich z.B. ein Gott daran erfreut, sich durch alles sichtbar Gewordene mannigfach zu erleben, gefällt mir der Gedanke und zeitweilig auch das Erleben, einfach ein Ausdruck des universellen Geschehens zu sein, selbstverständlich immer als das, was ich bin, als wer sollte ich sonst unterwegs  sein. Daher setzt sich auch, früher oder später, durch die Freude des eigenen Seins und die konsequente Annahme jeglicher Verantwortung dafür, die Erfahrung des Spielfeldes durch, auf dem wir als uns selbst agieren. Meine Dankbarkeit Indien gegenüber ist ziemlich unbegrenzt.  Zeilen in einem Gedicht von Rose Ausländer, die mir zugesandt wurden, beinhalten ihre Frage an sich, wer sie sei, wenn sie nicht schreibt. Was man nach eigenem Gutdünken in sich fortsetzen kann: wer bin ich ohne Himmel, ohne Worte, ohne Musik, was bin und wäre ich ohne Indien. Es ist ja nicht so, dass man andere Länder besser verstehen kann. Aber Indien lehrt einen eindeutig die Grenzen des Verstehens, und dann vielleicht auch noch die Begrenztheit der Grenzen. Man denkt, dass es nicht geht, aber es geht. Was gibt es nicht alles zu verstehen, und dann doch wieder nicht.Wer sagt, es kann verstanden werden. Die Durchgrübeleien der Details führen nicht automatisch zum Ganzen. Auch muss das Spiel Dynamik und Rhythmus und Widersprüchlichkeit haben, damit auch die Inhalte den Strom in Gang halten können. Dieser Strom der permanenten Veränderungen! Keine Sekunde dasselbe Bild, kein Eindruck so beständig, wie er erscheinen mag. Ein trefflicher Ort scheint mir das Bezeugen des Stromes zu sein. Ich wähle die Mittel, die mir zur Verfügung stehen für meinen Ausdruck, oder wählen sie mich und mein Auge? Das wirklich Gute an der Sache ist, dass das Erfahrene ohne die direkte Liebe des Blickes das Erträgliche leicht übersteigen kann, da hier auch die Freiheit und die Verantwortung der Wahrnehmung an sich liegen. In diesem Sinne bin ich so etwas wie die von mir bezeugte Wahrnehmung des Seins, das keinen aus dem eigenen Schicksal entlässt. Der Zugang ist frei. Wichtig sind Orte, wo der uneingeschränkte Blick sich entfalten kann, und das uneingeschränkte Fühlen. Wo man sich wieder dem Sein überlassen kann, das einen hervorbringt.

herausfinden

Dieses Jahr gibt es also zwei Shiva Ratris, also Shiva der Gott, und Ratri die Nacht. Man soll die ganze Nacht aufrecht sitzen und wach sein, was mir im Volk als lebendige Praxis noch nicht aufgefallen ist. Das zweifache Fest habe ich schon einmal erlebt und auch nicht gewusst, wodurch das entschieden wird. Also wer studiert wo den Panchang, die indisch-astrologische Brahmanenfibel, und wer sagt es den Anderen weiter, sodass man den Eindruck bekommt, alle wissen auf einmal etwas, was man selbst noch herausfinden muss. Deswegen versuche ich heute früh mal, Genaueres zu erfahren. Der Erste, den ich meist treffe, ist Mohan, der die Pilger-Piazza am Hauptzugang zum See hütet und mir erklärt, es sei wegen „pradosh“, dem Zusammenspiel von Shiva und Shakti (der weiblichen Energie). Deswegen zwei Tage? Das erklärt ja mal wieder alles. An Anil aus Bombay, der mir über WhatsApp mitteilt, dass Shivaratri ist, schreibe ich eine leicht empört klärende Mail, dass ich, danke, schon seit ein paar Jahrzehnten  Shivaratri (mit)feiere, aber ich sehe ja jetzt, dass es an einigem noch mangelt. What is „pradosh“, for heavens sake, das muss doch geklärt werden können.  Einen vorbeiwandernden, lebensmüde Dreinblickenden frage ich auch. Pradosh….pradosh sinniert er vor sich hin, das hat was mit nach dem 12. Februar zu tun, und geht schnell weiter, damit keine weiteren Fragen kommen. Jetzt bin ich in Fahrt und bereit, weiteres Unwissensmaterial aufzunehmen. Inder, vor allem indische Männer, sind nicht gewohnt, in irgendeiner Hinsicht hinterfragt zu werden. Man tut, was man kann, aber nicht hinterfragt werden, denn wo käme man da hin (Vorschlag: in die Selber-denk-Teufels Küche, huhu!). Ich halte Ausschau nach weiteren Erläuterungsfiguren und gehe wie jeden Tag bei Ashish vorbei, um Rosenblätter abzuholen und natürlich, um zu fragen, was pradosh ist, oder warum 2x Shivaratri. Er ist kein Brahmane und erstaunt zu hören, dass wir 2x Shivaratri haben, obwohl die ganzen Ufer von Pilger-Pujas brummen. Mat socho, denk nicht weiter, sage ich und treffe einen Mönch, der das Wort gar nicht kennt, das wundert mich nicht so sehr, denn in seiner Welt hat es vielleicht keine Bedeutung. Außerdem wimmelt es gerade von Mönchen, die sich alle fühlen wie Shiva, und man sieht es denen an, die hoffen, als Verkörperung des Gottes erkannt zu werden. Das wird hier nicht so ernst genommen, ja, eher gewürdigt. Wie mein Blick sich verändert hat! Zum Glück scheint meine Nüchternheit der Liebe im Blick nicht zu schaden. Man wächst heraus aus den Formen und aus den Konzepten und Prinzipien. Hat sich dann alles, was man glaubensfrei für Wissen hielt, nach und nach gelockert, ist die hauptsächliche Veränderung, dass man selbst schauen kann, wo man hinwächst. Ich habe dann noch bei der sich heilig verhaltenden Jungtruppe aufgeschlossener Priester angehalten und nach pradosh gefragt. Alle blicken sich gegenseitig fragend an. Es scheint gar nicht so bekannt zu sein, wie ich vermutete, und vielleicht bin ich ja am Abend die Einzige, die genügend Vermutungen aufgenommen hat, um geläutert schlafen zu gehen. Aber oje, da kommt mir noch Einer entgegen, der alles weiß, und leider öffnet sich mein Mund zur Frage. Sofort muss ich mich setzen, denn es wird hochkarätig erläutert. Dass, weil gestern pradosh war, eine besondere Zeit, die nur manchmal ist und sich deswegen das Ganze auf zwei Tage verschiebt. Tagsüber wird gefastet (haha), das bringt bestes Karma. Nach dem Vortrag ruhe ich mich noch ein wenig im Schatten des Banianbaumes aus. Um den Stamm herum bellen Hunde nach oben ins Blätterwerk, wo kreischende Affen toben. Etwas fällt in meinen Schoß. Aha! Ein Zeichen! Ich fühle mich verstanden und kontaktiert. Vor mir liegen Shiva, Shakti und noch wer als Samenkapselprinzipien. Ich nehme die Gabe mit und habe sie oben rechts ins Bild gestellt, damit ich die mystische Sinnhaftigkeit nicht ergänzend erläutern muss. Das linke Bild zeigt den kleinen Shiva in seiner Jugend, bevor die Geheimnisse von Sprache und (indischer) Welt sich um ihn drehten.

 

erzählen

Ich bin ja nicht die Geschichtenerzählerin im klassischen Sinn, aber gut, überall liegen die Geschichten drin und herum und drumherum, auch in den Gedichten oder in Texten, wo das Erlebte zwar Teil oder Auslöser sein kann, aber nicht unbedingt das gezielte Tasten nach Worten ist, um den tieferen Klang des Unaussprechlichen und das sich im Reich des Wortlosen Befindende an den Rand seines möglichen Ausdrucks zu bringen. Aber dann bietet einem der Moment doch manchmal Geschichten an, die man gerne erzählen möchte. Ich war also gestern Abend bei Freunden eingeladen, die wiederum eine Gruppe von Foreigners zu sich gebeten hatten, die, fand ich dann heraus, mit einem gewissen (schon das Zeitliche gesegnet habenden) Guru, „Babaji“, verbunden waren, der an einem Ort namens Haidakhan seinen Ashram hatte bzw hat, als Avatar von Shiva gesehen wird und offensichtlich den an ihn Glaubenden viele Lieder beibringen konnte, denn sie sangen unermüdlich ein Lied nach dem anderen. Bevor all das begann, kam ich mit einem Mann aus Italien, der neben mir saß, ins Gespräch, der Künstler war und viel schrieb und auch Papier und Stifte mochte und am Erhalt der Handschrift interessiert war. Als ich erfuhr, dass er aus Neapel war und Pozzuoli gut kannte, erzählte ich ihm, dass ich dort einige der dunkelsten Stunden meines Lebens verbracht hätte, als wir, eine lockere Gruppe von Freunden in verschiedenen Häusern an der Amalfiküste wohnend, von einer damals üblichen Antidrogenrazziatruppe nachts alle abgeholt wurden und nach Pozzuoli in ein „Manicomio“, ein kriminelles Irrenhaus, transportiert wurden, da die Caribinieri, an Dummheit und Unerfahrenheit kaum zu überbieten, dachten, wir würden alle zusammenbrechen und dem Wahnsinn gefeit sein. Sie nahmen alles aus den Häusern mit, von der Puderdose bis zum Mehl und der Zahnpasta, nicht wissend wie das, was sie suchten, eigentlich aussah. Das hatte fatale Folgen vor allem für eine Frau, mit der ich sehr eng und lange befreundet war, die zu der Zeit an Gelbsucht erkrankt und in ärztlicher Behandlung war. Da sie uns dort nur öltriefende Spaghettis zu essen gaben, wurde sie immer kränker. Ich machte so viel Aufstand wie möglich und landete deswegen zwar für einige Zeit in der Zwangsjacke, aber sie brachten Carol letztendlich doch zu einem Krankenhaus in der Stadt, wo sie einige Tage später starb. Als die Substanz-Analyse endlich durch war und nichts gefunden wurde, kamen wir heraus. In mir wühlten Trauer und Hass auf die Ungerechtigkeit und die Grausamkeit des Manicomio-Direktors, der das alles zugelassen hatte, und ich ging nach New York und fand dort exzellente Unterstützung. Der Fall wurde unter großem öffentlichen Interesse noch einmal aufgerollt und der Gefängnisdirektor entlassen. Es war eine Genugtuung, auch wenn es Carol nicht mehr zurückholen konnte. Ab und zu dachte ich mal in den folgenden Jahren an die trostlose Lage der Insassinnen der Heilanstalt, die wussten, dass sie nie wieder da herauskommen würden, und an die unglaublichen Geschichten, die sie zu erzählen hatten. Nun sitze ich also gestern Abend neben diesem Mann, und er erzählt mir, er kenne das Gebäude sehr gut, weil es 10 Jahre leer stand und dann von einer organisierten Gruppe, die für mietfreies Wohnen ist, besetzt wurde und bis heute von ihnen bewohnt wird. Der lange und komplexe Arm bzw Finger der Geschichte streckte sich in mir aus und setzte einen Punkt, den wohl allerletzten des entschwindenden Dramas: (so gut) zu wissen, dass über 10  Jahre lang in den düsteren Hallen des Manicomios keine Lebensberaubten mehr herumgeirrt waren, und dass nun andere Energien den Platz beanspruchen.
Shivaratri läuft auch draußen ab mit der jährlichen Götterparade auf schier endlosen Wägen, von der ich „zufällig“von gegenüber ein Photo (s.o.) von d e m Mann machen konnte, den ich beim Vorbereiten für seinen Job (Blogbeitrag „Gebilde“) photographiert hatte. Jedes Jahr darf ein Anderer mal Shiva sein, dieses Jahr er, vermutlich wegen seiner überzeugenden Darstellung

sonnig

Es ist eben nicht nur die Sonne an sich, sondern das, was durch sie hervorkommt, was durch sie möglich wird, was durch sie mit Anderen geteilt werden kann. Wenn „wir“ mit den fremden Pässen uns dann meist im März aus dem Staub machen und in unsere kühleren Gebiete zurückkehren können, fängt für die Bleibenden die dunkle Wirkung der Sonne an, wenn sie brennt und brüht und verzehrt und erschöpft und andere Formen von Krankheit hervorbringt als die der Kälte. Als ich mit Ira Cohen im ersten Indienjahr in Delhi ankam, eine ganz andere Lebensphase in Indien, aus New York unterwegs und von der Türkei aus über Land, kamen wir direkt in einen Ausnahmesommer hinein, in dem es einmal 56 Grad hatte. Tagsüber starben viele, und nachts flüchteten sich Millionen von Menschen auf die Dächer. Zum Glück lebten wir im Haus von Freunden und konnten uns mit nassen, kühlen Handtüchern am Leben halten. Auch später waren es oft 49 Grad, und man musste sich regelmäßig von brütend heißen Plastiksitzen losreißen. Im lebendigen Nu, in dem ich grad sitze, wärmt sie, bzw. er, der mit seinen feurigen Rossen durch die Gegend donnernde Sonnengott Surya Dev, gerade die Morgende, die vor allem am See himmlisch ausgewogen sein können, sodass man um sich schaut und sich wundert: Bin i c h das, oder ist das eine Stimmung, die wir alle teilen, jede/r auf seine oder ihre Art. Eine der schönen Seiten des tausendjährigen Kollektivs, in dem Inder gewohnt sind, geistig und körperlich zu leben, ist, dass sie bei aller Kastentrennung keine inneren Widerstände aufgebaut haben gegen die gemeinsame Erfahrung. Ja, ihr Leben ist (oder war?) eine einzige Ermutigung des gemeinsamen Erlebens (was nicht unbedingt persönliches Interesse an einander oder Liebe für einander bedeuten muss). Gibt man selbst Zeichen von sich wie…“Ist das nicht….., werden sie immer bestätigt. Natürlich trifft man da, wo die Sonne verlässliche Auftritte hat, auch viel mehr Menschen draußen, das kann man auch in anderen sonnigen Ländern der Welt erfahren. In Indien hat bis heute die göttliche Wahrnehmung Vorrang. Was schön ist, ist göttlich und kann gemeinsam zelebriert werden. Da nun in unserer Zeit nicht nur die Himmelstore, sondern auch die Höllentore weit geöffnet sind, muss man zu allem Licht den Schatten nennen und kennen, zu allem noch so wohlgemeinten Grund den Abgrund im Auge behalten, und die Richtlinien klären für sich selbst. Da Urteile, Vorstellungen, Meinungen, Projektionen etc. nicht wirklich weiterbringen, sucht man die Leere des Raumes auf und badet im Unfassbaren. Letzter Sicherheitsanspruch wird hinaus gelassen ins Freie. Schon erspürt man die Regung des Lächelns.

Geräusche

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Heute früh ab sechs Uhr hatte das Elektrizitäts-System mal wieder einen Kollaps. Ich nenne den Ort ja immer wieder mal „Dorf“, aber eigentlich ist es inzwischen eine Kleinstadt geworden, die ganze kleine Stadt also in tiefstes Dunkel gehüllt. Die Leute, die Generatoren haben, schlafen noch um diese Zeit, da sie späte Nächte haben wegen dem anderen Zeitgefühl der Fremdlinge, die den Indern, die mit ihnen in irgend einer Verbindung stehen, ihre „Nektarstunde“ des frühen Aufstehens ausgetrieben haben. Heutzutage muss man aber schnell sein im Genuss der einzigartigen Stille, die sich durch die gelungene Störung in der Atmosphäre ausbreitet, denn seit unzählige Smartphonechargingkabel an den Steckern hängen, dauern die Stille-Ekstasen nicht mehr so lange wie früher, wo es sich um Stunden drehen konnte, bis wieder Licht und vor allem Lärm in den gemeinsamen Lebensraum kam. Der verantwortliche Elektriker möchte vermutlich nicht von Abhängigen gelyncht werden. Ich also sogar die vorhandene Kerze wieder ausgepustet und zum Hineinlauschen zurechtgesetzt. Ein starker Wind saust draußen herum, wahrscheinlich Auslöser der Störung. Dann das Knirschen und Brechen und Treten von Plastikteilen, das mich früher einmal so irritiert hat, dass ich (ungeschminkt) hinaus ging, um zu sehen, was in aller Herrgottsfrühe täglich solche Geräusche macht. Es war ein junger Mann, der von den Abfallhaufen, die später abgeholt werden von Angestellten des Bürgermeisteramtes, d i e Dinge herausfischte, die er offensichtlich irgendwo in Münzen umsetzen konnte, vor allem Plastikflaschen und Kartonteile. Das Paket war dann so riesig, dass er es auf dem Kopf tragen musste. Dann kracht, auch immer zur gleichen Zeit, der beingelähmte Bettler vorbei auf seinem Rollenwägelchen, ein furchtbares Geräusch. Dann Stille, uffh, selten geworden. Wäre das Licht schon zurück, würden aus vielen der Tempel schon diverse Gesänge und Vorträge schallen, an die man sich notgedrungener Weise gewöhnen lernt, weil, das weiß man, bzw. ich, dass eine Klage nichts bringen würde. Ich war ja bei den Nath-Mönchen letztes Jahr, um über das grässliche Ton-Gekratze zu klagen zwischen 5 Uhr 15 und 5 Uhr 45, und bin gescheitert, weil es dem Obermönch selbst so gut gefiel, eine Art Foltergerät für sensible Ohren. Der Trommler, den ich dann höre wie immer um diese Zeit, ist eine Ausnahme, weil er so schön trommelt, dass man gerne zuhört. Dann ist auch er wieder verschwunden. Eigentlich kann man kühn behaupten, dass die meisten Inder jegliches Gefühl für Stille verloren haben. Vielleicht leben sie auch in ähnlicher Verfassung, wie man es von Techno-Volldröhnungen kennt: man nimmt Zuflucht am Kern des Wesens, so wie auch der Wirbelsturm sein stilles Geheimnis mit sich trägt. Man lernt, das Unerträgliche als Kulisse zu behandeln, wobei hier ganz eindeutig die Gefahr der Abstumpfung droht. Im Zugzwang, die verbleibenden Minuten der elektrischen Störung gut zu nutzen, fällt auf, dass es so ja gar nicht geht. Ich denke an unser Haus in Deutschland, wo man morgens nur die Vögel hört, allerdings oft ohne das Licht der Sonne. Prompt gehen die Glühbirnen wieder an und der Tag dehnt sich in das ohrenbetäubende Crescendo hinein, in dem das ungehemmte Hupen und Rattern der Motorräder die Herrschaft übernimmt. Na ja, das ist der Bazaar, und auf der anderen Seite des Hauses ist es tatsächlich oft etwas stiller, nur das Gekreische der Badenden im heilig gesehenen See, und täglich auch das berühmte und berüchtigte Gezeter der Brahmanen untereinander und mit den Pilgern, wenn die sich nicht richtig benehmen oder zu wenig Kohle da lassen. Klar, dazwischen ein Pfauenschrei, ein Hundegebell, das Muhen der Ochsen und Kühe, die durch die Gegend traben. Die Ohrstöpsel sind auch sehr beliebt. Ich habe neulich mal einen jungen Mann gefragt, was er denn da so hört, aber er hatte nur die Stöpsel im Ohr. Ohropax fällt einem natürlich auch ein, wo war denn gleich mein Döschen? Alle erfahrenen Indienreisenden haben sowas dabei. Stilles, leuchtendes, meditierendes Indien? Auf der Ebene der Geräusche lernt man auf jeden Fall die angebrachte und erforderliche Akzeptanz dessen, was durch niemanden mehr zu regulieren ist. Indien ist nicht nur sehr lebendig, sondern auch sehr laut.

Gabriela Mistral

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DER BECHER

Ich trug einen Becher
von einer Insel zur andern. Ich weckte das Wasser nicht.
Hätt’ ich’s verschüttet, hätt’ ich den Durst betrogen.
Nur einen Tropfen, und die Gabe wäre vertan,
alles wäre verloren, sein Herr hätte geweint.

Ich habe keine Stadt begrüßt,
kein Lob dem Flug ihrer Türme gespendet,
nicht die Arme geöffnet in der großen Pyramide,
kein Heim gegründet dem Reigen der Kinder.

Doch als ich ihn abgab, den Becher, rief ich,
die junge Sonne auf meiner Kehle:
„Meine Arme sind frei wie die Wolken, die herrenlosen.
Und mein Hals wiegt sich auf dem Hügel,
eingeladen haben mich die Täler.“

Lüge war mein Alleluja! Seht mich an!
Ich halte den Blick gesenkt auf meine leeren Hände.
Langsam schreite ich, ohne den Diamanten aus Wasser.
Schweigend gehe ich fort. Nicht trage ich Schätze.
Mich betäubt das Blut, das in meiner Brust,
in meinen Pulsen schlägt aus Angst, aus Sorge.

religiös

Letztes Jahr habe ich das Buch „Verlorene Narrenfreiheit“ von Christina Thürmer-Rohr, der (ehemaligen) Professorin an der TU Berlin mit Schwerpunkt „Feministische Forschung“ nach Indien mitgenommen, u.a. weil mir ihre hochintelligent durchreflektierte Thematik bei meinen Gesprächen mit indischen Frauen hilfreich schien. Nun habe ich das Buch unter den wenigen Büchern, die ich hier aufbewahre, wieder entdeckt und irgendwo einen ihrer Texte aufgeschlagen, an den ich mich gar nicht erinnern konnte, der mir aber jetzt, im Kontext eigener Kontemplationen, hochaktuell schien. Vielleicht hatte mich der christliche Kontext vorher nicht so angesprochen, mir aber jetzt beim Nachdenken über die indische, von Religiosität tief durchtränkte Lebensweise wervolle Parallelen aufgezeigt. Ich kann den Zwiespalt, um nicht „Abgrund“ zu sagen, zwischen mir und diesem von zahllosen Göttern geprägten Leben der Hindus nur überbrücken, weil ich mich so gut darin auskenne, obwohl ich mich langsam und unauffällig aus allen religiösen Zusammenhängen herausgelöst habe. Nun ist es aber so, dass so ziemlich alles, was ich hier schätze und liebe, durch religiöses Verhalten geprägt ist (mal abgesehen von der sich rasant entwickelnden kriminellen Ebene). Menschen wollen „gut“ sein, was locker dazu führt, dass alle „guten Handlungen“ nur für den Zweck der persönlichen Erlösung oder Befreiung gemacht werden. Thürmer Rohr stellt einerseits die Frage, ob die westliche Welt stagniert, weil sie kein religiöses Motiv mehr hat und man dadurch die fortschreitende Entmenschlichung beobachten kann, weil Menschen sich „hohen“ Werten nicht mehr verpflichtet fühlen. Andrerseits taucht hier die Frage auf, wo zwischen Gottesliebe und Selbstliebe die „Nächsenliebe bleibt. Es ist doch tatsächlich so, dass man den Menschen kaum zutraut, aus sich selbst heraus und durch gegenseitiges Interesse aneinander sich d e n Werten zu verpflichten, die dem eigenen Anspruch an „Menschsein“ genügen bzw. entsprechen. Da es immer der Instanz „Gott“ und seinen VertreterInnen  zugeschrieben wird, das sogenannte Wissen zu lehren und dadurch unvorstellbare Abhängigkeiten und kindliche Verhaltensweisen zu erschaffen. Da sitzt immer einer höher  und weiß es angeblich besser, so, als wäre es einfach unmöglich, ohne diese Oben-Figur Mensch zu sein und zu erkennen, wer man selber ist und was man auf diesem Planeten machen kann und möchte. Und dass man an Menschen einfach auch Freude haben kann ohne den ganzen Überbau an „spirituellem“ Erreichenwollen. Nun sitze ich halt auch hier in ihrem sorgfältig geistig gebasteltem Raum und bin Nutznießerin davon, wenn auch Ungläubige. Dass die großartigen Rituale und ihre Wunderwirkungen schwer durch „nur“ Menschliches zu ersetzen sind, finde ich bedenkenswert. Muss der Mensch also doch durch eine höher angesiedelte Instanz in die Vertikale gezogen werden, damit er aus der Enge des begrenzten Menschseins herausgehievt werden kann? Auch ich habe ernsthaft die ganzen Prozesse durchlaufen: das Erleben der Gottesnähe, die begeisterten Anstrengungen der meditativen Praktiken, dann die logisch erscheinende Reifung in eigenes Sein hinein mit dem natürlichen Entschwinden des Gottes aus meiner Welt. Dass das kosmische Geschehen an sich ein Wunder ist und bleiben wird, ist jenseits von Zweifel. Wer sollte es jemals erklären können!!?? Die uneingeschränkte Verantwortung aber für eigenes Denken, Handeln und Sein scheint mir das Thema der Stunde. Im Genuss reifenden und wachsamen Menschseins mit sich und anderen zu leben, was auch immer für jeden Einzelnen dazugehört.
Das Buch im Bild habe ich irgendwo gesehen und abphotographiert.

Kiosk

Auf dem Bild kann man einen der vielen fahrbaren Läden bzw. Transportmittel sehen (hier über Nacht zum Schutz verschnürt), die überall aufgebaut werden und für viele Menschen wertvolle Dienste verrichten. Sind sie kein Laden, kann man darauf sitzen und sich mit Gepäck irgendwo hinschieben lassen. Manchmal, wenn zu viele sich  am Straßenrand häufen, passiert es auch, dass die Polizei kommt und sie verscheucht. Wird in der Hintergasse ordentlich gezahlt, kann es sofort weitergehen mit dem Business. Andere bewegen sich durch die Straße und rufen ihre Ware aus, oft nur ein Item wie Erbsen oder Zwieback, und alle habe ihre Kunden. Neulich habe ich mal erfahren, dass ein reicher Mann, der zwei Häuser im Dorf hat, auch so einen fahrbaren Kiosk besitzt, einfach so, vielleicht ist es zuhause zu öd und er hat alles erreicht, was er wollte. An einer Seitenstraße des Bazaars, wo ich vorbeikomme, wenn ich Prakash besuche, steht auch so ein Ding. Eine Frau verkauft dort Zwieback, Butter und Milch (mit Eisfach). Da kaufe ich dann auch meine Milch und die Butter und habe bemerkt, dass sie mir nie richtig Wechselgeld herausgibt. Einmal wollte ich meine zwei Rupien wieder haben, dann habe ich mal nicht aufgepasst und es waren gleich vier. Dann nochmal zwei. Als ich sie fragend anschaue, schaut sie herausfordernd zurück und sagt so was wie „is was“? Gestern habe ich das Prakash erzählt und wollte mir von ihm das entsprechende Vokabular in Hindi holen, damit ich mich ordentlich beklagen kann. Sein Sohn hat mir dann alles übersetzt, die Butter war 46, die Milch 20, wie viel macht das, mmmmhhhh? Das macht 66 und du hast mir (schon wieder) von hundert Rupien nur 70 herausgegeben. Den Satz „du bescheißt mich“ habe ich selbst fallen lassen, aber „du denkst wohl, wir Bleichgesichter seien alle doof?“ hätte ich selber auf Hindi gut hingekriegt, nur mit den Zahlen hapert’s was. Dann meldete sich Prakash mit der Stimme des Kristallkugellesers und sagte: „Kannst du dir vorstellen, wie sie sich freut über 4 Rupien, oder auch zwei? Wie sie sammelt und dann irgend etwas damit machen kann? Sie schaut, ob du das begreifst. Sofort mutierte etwas in mir zum Zwerg, als das Schwert der Weisheit ins Zwergenanteilherz traf. Da dachte ich, ich muss der Frau mal was klar machen, , dabei werde ich charakterlich überprüft! Der indische Geist kann überraschen, vielleicht mag ich ihn deshalb so sehr, und es schmerzt zuweilen, dass so viel dieser Beweglichkeit langsam verloren geht. Ich muss gestehen, ich fühlte mich befreit. Wie lächerlich kam es mir jetzt vor, wegen ein paar Rupien so einen Zirkus zu veranstalten. Da ich diese Szene jetzt los war (und ja auch nicht gezwungen bin, dort weiterhin hinzugehen, um die Frau in ihren Nebenverdiensten zu unterstützen), konnte ich mit Abdul, der in der Nähe saß bei seinem Chaishopfreund (Chai-Shop-Freund), einen chai trinken und eine interessante Geschichte hören, die mir Bal Krishna aus Sind erzählte, die allerdings so lang war, dass man jetzt das Thema „Kiosk“ vollends aus den Augen verlieren würde. Ich kenne einige Kioskbesitzer, OmJi zum Beispiel, bei dem man die besten Pakoras bekommt, wenn er nicht wieder mal angeheuert wurde von einer Hochzeitsparty, oder neben ihm Ramesh, der Obstmann. Da die Wägen ziemlich viel Raum einnehmen und gekonnt handgesteuert werden müssen, bezweifle ich, dass sie sich bei der rasanten Vermehrung des Verkehrs noch lange halten können. Da muss ich mich ausnahmsweise mal an den Gott der Kioske wenden und auf den großen Verlust hinweisen, wenn seine Leute ihre Künste nicht mehr auf vorbestimmte Weise darbieten könnten.

tierisch

Die Einstellung zu Tieren ist ja meist, dass sie „unschuldig“ sind, bzw. sie wissen schon, was sie tun, nämlich das, was ihr Wesen ausmacht, und dass sie kein Bewusstsein haben darüber. Sie folgen ihren natürlichen Trieben und kennen kein Schuld-oder Schamgefühl wegen ihres Handelns, was man ja gerne vom Menschen erwartet, weil man ihn für bewusstseinsfähig hält. Nun habe ich an Lalis Mutter und ihren in völliger Bewusstlosigkeit ausgeübten Grausamkeiten beobachten können , dass ein Mensch, der die eigenen, in uns allen vorhandenen Anlagen nicht gelernt hat zu erkennen und kein Interesse zeigt, sie zu reflektieren, dem Tier doch sehr ähnlich ist, allerdings ohne das beliebte Prädikat „unschuldig“. Zwischen grausam und dumm ist wenig Abstand. Nicht, dass entwickelte Intelligenz nicht besonders grausam sein kann, und das ist es ja wohl, was den deutschen Geist so lange beschäftigt hat, hielt man sich doch weitgehend für übermenschlich. Auf manche dringlichen Fragen gab es auch keine Antworten. Auch eine Idee wie „Ahimsa“, der Gewaltlosigkeit, wichtigste Idee im Hinduismus („das Untersagen des Tötens und Verletzens von Lebewesen, auf ein unumgängliches Minimum beschränkt.“), habe ich oft genug verletzt gesehen, zB. wenn Hindus gnadenlos auf Tiere einschlagen, die ihnen im Wege stehen. Was sie zuhause mit Menschen anstellen, sieht man ja oft nicht, hört aber zur Zeit mehr davon, da vor allem Frauen langsam eine Sprache suchen und finden. Hier wieder: wenn ich unrecht Getanes durch mich selbst nicht erkenne (und das mir Zugefügte von Anderen), weiß ich auch nicht, wie viel Arbeit hier zu leisten ist, einmal an sich selbst, dann in der Erkenntnis, dass Menschen, die mich schlecht oder grausam behandeln, nicht die sein können, die mich lieben. Gestern hat Krishna, ein angenehmer und wacher Mensch, mir erzählt, dass ihm mal jemand als Medizin ein winziges Stück Bang (Marihuana) gegeben hat, und er ist davon völlig ausgeklinkt. Er hat Gläser und Tonkrüge zertrümmert, Stühle aus dem Haus geworfen und!!! seine Frau heftig geschlagen. Wie bitte!!!?, sage ich ungläubig und schaue zu seiner Frau hin, die nickt. Für ihn war das ledigleich ein Hinweis, dass die Medizin nicht wirkt. Aber hallo! Was versteckt sich nich0t alles hinter einem netten Lächeln. Das kann man nicht ansprechen, es gäbe zu viel Verwirrung, wenn man fragen würde, wo all diese Gewalt wohl herrührt. Die meisten Geschichten sind ja eh nur Heldensagen. Nicht umsonst ist Sherlock Holmes so beliebt, weil sein Trieb ihn zum Herausfinden treibt. In den Anfängen des indischen Fernsehens waren Tierfilme die beliebtesten Programme. Wenn ich mal mitgeschaut habe, ging es immer um wilde, königliche Tiere, die auf der Lauer liegen, um ein anderes Tier zu reißen, zu zerfleischen und zu fressen. Ist ja schließlich ihre Natur. Dann folgten im Fernsehen die emotionsgeladenen Serien, wo dasselbe auf „menschlich“ stattfand und alle sich heimlich wiederfinden konnten, scheinbar in den sogenannten Guten, aber tatsächlich in den viel reizvolleren bösen Gestalten, die dem Ganzen Würze geben. Jetzt sind so gut wie alle Hemmschwellen gesenkt mit all dem drin, was Lali „out of human“ nennt. Vielleicht ist noch nicht ganz geklärt, was „human“ ist und man hält die ganze Palette dafür. Wer möchte schon als im Unmenschlichen verankert gesehen werden, obwohl es immer wieder in Menschen einen Reiz auslöst, eben das Hakenkreuz in die andere Richtung zu drehen. Es wird auch hier in Indien ein Wissen entwickelt werden müssen, das die Störzonen im Dahinter wirkungsvoll belichten hilft. Gestern wurde einem Mann von einem anderen Mann der Penis abgeschnitten, ein kleiner Artikel an der Seite, auf den ich nur aufmerksam wurde, weil er ein englisches Wort benutzte, das ich nicht kannte. Ein Wort für Penisabschneiden. Das Fatale war, dass der Täter den Penis mitgenommen hat, sodass man nicht versuchen konnte, ihn wieder anzunähen. Die Hochzeit des Opfers sollte am 17. Februar stattfinden. Die Familie des Mädchens löste daraufhin die arrangierte Hochzeit auf, wofür die Eltern des Mannes Verständnis zeigten. Klar, arrangiert mit einem Fremden, und dann auch noch das. Über den Antrieb des Verbrechens und seine Hintergründe wurde nichts erwähnt.
Das Photo habe ich gestern gemacht und war davon berührt, weil ich gerade noch sehen konnte, wie die Taube den letzten Atemzug  machte und dann die Augen schloss, während die Raben schon in der Wunde wühlten mit gierigen Schnäbeln.

Gebilde

  

Meine gepinselten Gebilde, die sich wolkenähnlich durch den Raum bewegen, sind für mich neben der Annäherung der Worte an das oft schwer zu Formuliurende eine weitere Möglichkeit, das vor allem in Indien auf eine bestimmte Weise kultivierte Sehen vor die Augen zu bringen. Überall fließender Partikelstrom, der sich gemäß der verschiedenen Wahrnehmungen kristallisiert in das (verhältnismäßig) real Erscheinende, das sich kontinuierlich auflöst und wieder zusammenfügt, so, wie einen das Gesehene in einer Wolkendichte erschüttern und berühren kann, und einen die letztendlich geringen Unterschiede zwischen dem Fließenden und dem sich in Form gebildet Habenden ahnen lässt. Natürlich kommen nicht umsonst von hier (aus Indien) die befreienden Gedanken einer inneren Erkenntnis des Auflösbaren eigener Vorstellungswelten (wenn als solches erwünscht und für erstrebenswert gehalten), sondern es ist auch (noch) das Wehen der unvermeidlichen Tücher und die jedes Mal neu zurückgelassene Form-und Farbgebung des Monsoons, vielleicht auch das hingekauerte, aufmerksame Sitzen im Zeitlosen, so als hätte es nie den inneren Aufruf zu anderem Tun gegeben als den des Seins an sich. Jedem ist erlaubt zu sehen, was durch eigenes, inneres Gebildetwerden gesehen werden will oder kann. Ich liebe den beweglichen, sich wandelnden Blick, mal verdunkelt, mal erhellt, mal infrage stellend, mal grenzenlos wertschätzend, einmal als fester Stein, dann wieder ganz Transparenz und Durchlässigkeit. Es gibt eine Einstellung, die ich bei aller Beweglichkeit des visuellen Schauens für konstant halte, vielleicht, wie eine konzentrierte Wesenhaftigkeit, die aus sich selbst zeugt. Von diesem Ort her erfreuen sich mein Geist und meine Hand an der einerseits arglosen, aber hochkonzentrierten Ausübung des Pinselns in seinen sich mir offenbarenden Selbstverständlichkeiten.
Die Gestalt des Mannes, die ich hinzugefügt habe, bräuchte eigentlich keine Erklärung, aber der Anekdote zuliebe will ich erzählen, dass ich erstaunt war, ihn eines Tages in diesem Hof  von weitem zu entdecken, denn ich bzw. wir alle kennen ihn, und er war hier aus einem gemieteten Zimmer mit gemeinsamem Bad und Toiletten heraus gerade dabei, sich in Shiva zu verwandeln, denn damit verdient er sein Geld. Er begibt sich vollkommen hinein in das Bild und wird geschätzt, da er es ernsthaft betreibt und nicht spricht, aber jederzeit bereit zu Shiva-Darstellungen ist für ein kleines Entgeld, und er wird häufig smartphonebombardiert. Immer mal wieder sieht man einen, der ganz hinter dem Gott verschwindet, wer weiß schon, wohin.

TamTam

 

Kennt man sich in Indien ein bisschen aus, hält man unter anderem nicht mehr nach jedem Tamtam Ausschau, denn oft weiß man, was dem Auge geboten wird, so aufwendig es auch immer sein mag. Auch ähnelt sich ja im Festlichen vieles, z.B. die sorgfältig gewählten Outfits, die VIP’s oder Heldengestalten, um die es (kurz) mal mächtig geht, die Blumenorgien, die auf Lebende und Tote niedergeregnet werden, und die vielen, vielen Randfiguren, mit deren Aufmerksamkeit jede/r ProzessionsteilnehmerIn rechnen kann, denn sie sind dankbar für extra Unterhaltung, an der sie als Zeugen umsonst teilnehmen können. Als ich gestern dann in der Familie gegenüber einen Kaffee getrunken habe, kam von draußen so ein Getöse, dass ich zum Nachschauen ging, und siehe, das war dann doch sehens-bzw. grübelnswert. Da streckte sich eine phantastische Prozession vor meinen Augen aus, und als ich endlich vom Chargen meines Phones zurückkam, war schon einiges vorübergetrabt an kostbar Geschmücktem: schneeweiße Pferde mit rot-goldenen Tüchern bedeckt, Kamele im festlichen Gewand, dann irgendwann ein Elefant (Entgegenkommende mussten ausweichen in den engen Gassen des Bazaars), und dann der offensichtliche Kern des Ganzen: in einer goldenen, dann einer silbernen Kutsche saßen die Herren, um die es ging, schlicht gekleidet und bemüht, Haltung zu wahren, gar nicht so einfach, wenn das Volk nicht weiß, wer der König ist, der vorbeifährt. Man ahnte hier bereits, dass es um irgendwas Heiliges und seine Vertreter ging, und war geduldig, es bis nachmittags herauszufinden. Hinter all dem tierischen Voranschreiten und dem von Pferden gezogenen Kutschengetöse kamen dann die Brahmanenjünglinge zu Fuß, alle im selben Dress und an braver Ausstrahlung kaum zu überbieten. Hinter ihnen, ja wer schaut da schon hin, ich offensichtlich, liefen die Frauen, sozusagen als Staub der Erde.  Man sagt ihnen, was sie tun sollen, und sie tun es. Das ist jetzt wieder ein sehr voluminöses Thema, dessen Lösung auf unbetretbaren Himmelsebenen der Besprechung unter Außerirdischen  harrt. Auch möchte ich nicht wissen, was die, die man in die silberne Kutsche verfrachtet hatte, von denen dachten, die mal wieder in der goldenen saßen. Auf jeden Fall wusste ich dann ein bisschen mehr am Nachmittag. Der ganze Zirkus wurde von einem reichen Mann finanziert, ein Anhänger oder Follower dieser Gruppe, von denen die Kutschensitzer nun sieben Tage in einem Zelt die Bhagavad Gita lesen  und interpretieren werden. Das ist ja ein sehr schöner Gedanke  und die Gelegenheit wird vor allem von Frauen gerne wahrgenommen, einfach mal nur so rumsitzen zu können, natürlich angebunden an etwas, das eventuell den guten Ruf festigt. Manchmal interessieren einen auch nur die platten Zahlen: wieviel hat dat Janze denn gekostet!!?? Vor ein paar Tagen ist bei der Vorbereitung für ein Hochzeitszelt wegen einem Kurzschluss die Dekoration niedergebrannt, sie kostete zwei Millionen, durften wir erfahren. In Dekoration wird gerne viel gesteckt, und letztendlich, let‘ s face it, wer würde nicht lieber auf einer Royal Enfield durch die Wüste donnern, als in Gummichappals (Bade -und Herumgehschlappen) ins lähmend langweilige Zuhause wandern…..(?!?)

Zwei

 

Oben in Shimla ist jetzt das verspätete Eis gekommen und bringt uns verdeckte Himmel am Morgen mit kalten Winden, die dann allerdings einer Tageshitze weichen, die in Kombination eine Menge Husten und Heiserkeiten und Fieber verursachen. Vor meinem Fenster weht eine unruhige Fahne, die mir zeigt, dass ich lieber drinbleiben sollte, denn draußen sind nicht nur alle verstimmt, sondern auf meinem Sitz ist es auch ohne Sonne nicht gemütlich. Ich habe gerade mal nachgeschaut, ob es das Wort „gemütlich“ überhaupt gibt in Hindi, und ja, es gibt das Wort, es heißt aaraamadaayak, immerhin sieben a’s drin, natürlich translatiert vom Translator, damit es für alle lesbar wird, und ich nutze nun spontan diese Gelegenheit, allen Einwohnern möglichst viel aaraamdaayak zu wünschen, denn daran hapert’s in den Häusern oft sehr, deswegen sind alle so viel wie möglich draußen, oder sind das nur die Männer, die ihre Gemütlichkeiten auf ihrem groß angelegten Spielfeld erschaffen?
Auf den Photos kann man zwei Menschen sehen, die ich beide ungefähr gleich lang kenne, und das ist ziemlich lange. Die Frau links ist Lalis Mutter, man sieht sie beim Knoblauchpuhlen. Mit ihr musste ich mich immer wieder auseinandersetzen, und je mehr ich Zeugin ihrer Handlungen wurde, desto weiter saßen wir auseinander. Sie gilt unter den Dörflern ringsum als eine Art Heilerin, und üblicherweise in solchen Fällen erfährt man natürlich nie, ob irgend jemand in den langen Jahren ihrer Magenkneterei wirklich  geheilt wurde, aber der Glaube soll ja noch mehr können, zum Beispiel Berge versetzen. Diese Heilerin also hat bei allen Heiraten, die in den Jahren zwangsweise stattfanden, immer die Entscheidungen der jeweiligen Partner getroffen, die geheiratet werden sollten, und noch nie habe ich solch schreckliche Fehlentscheidungen bezeugen müssen. Sie ist gewarnt worden und hat trotzdem entschieden, zum Beispiel für Lali, die von dieser Zeit nur als von einem entschwundenen Albtraum spricht, bis ihr Mann sich das bereits vor der Hochzeit verkorkste Leben genommen hat. Aber viele andere Fälle folgten, bei denen man eine Menge blanken Irrsinn hätte vermeiden können. Die Mutter ist die Einzige, die nicht in die Schule gegangen ist, also weder lesen noch schreiben kann. Das war für die Familienmitglieder durchaus nicht günstig, denn was bleiben musste, war eine traditionell geprägte Show von Respektbezeugung, die man für unerlässlich hielt. Jetzt ändern sich die Dinge, aber sehr, sehr langsam. Zumindest weiß man schon mehr, wen man vor sich hat, oder man lässt es auch mitunter gerne sein, wissen zu wollen, wen man vor sich hat, denn das würde hier bei ihr ja nur in sinnloses Raten führen, denn da existiert noch nicht einmal die geringste Spur von Selbstreflexion, also auch keine Idee von eigenem, fehlerhaftem Verhalten.
Der Mann rechts im Bild kommt aus der Bopa-Kaste. Es sind Zigeuner, die an der Dorfgrenze wohnen, und die meisten von ihnen spielen, mehr oder weniger talentiert, auf einem Instrument, der Ektara, simpel und meist selbst gebaut mit ein paar Strings, die mit einem Bogen, an dem Glöckchen hängen, gestrichen werden. Da die Foreigners auf solche, ihrer Phantasie vom Orient entsprechenden Gestalten schon seit langem abfahren, haben sie eine gewisse Berühmtheit erlangt, haben eine CD von Ravi machen lassen, der wiederum ihre CD profitabel verkauft. Der alte Mann auf dem Bild ist einer der Letzten, die noch richtig gut spielen können. Wenn er in Fahrt kommt, sitzt man gerne eine Weile herum oder greift zum Geldbeutel. Auch das ist lange her, denn weil nichts erneuert wurde in ihrer Kunst, hörte auch das begeisterte Zuhören (für mich) auf. Vor ein paar Tagen, als ich das Bild von der Mutter gemacht habe, saß er auch da auf der Treppe, daher die farbliche Angleichung. Das Bild zeigt ihn beim Erzählen, dass er gerade eine Diagnose für Kehlkopfkrebs bekommen hat. Er ging zum Arzt, weil er nichts mehr essen und trinken kann. Ob hier etwas zu machen wäre medizinisch oder nicht, kam als Frage gar nicht auf. Niemand wird ohne Geld so einen Menschen behandeln, nur die Reichen haben entweder Geld für Behandlung oder eine Krankenversicherung. Da sitzt er nun, der alte, uns allen vertraute Bopa, mit seiner Ektara, und wir wissen alle, dass er bald sterben wird. Meine Güte, denke ich, als er weiter geht, da ist er nun allein damit.

Arto Melleri

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ZEITEN DER WELT

Spiralen, Spiralen
habe ich gesungen, bis mir schwindlig wurde,
aber im feuchten Sand bewegen sich die Muscheln
langsam,
habe von unbekannten Erdteilen gesungen, von
Havarien, von den verborgenen Gewässern des
Menschenherzens:
wenn uns der Sturm schüttelt,
laufen sie über, ein Sieb das Gesicht, siebt
sauberes Wasser durch groben Sand hindurch.

Spiralen, Spiralen
habe ich gesungen, kränkelnd, mit schellenden Ohrenschmerzen
in einem verlassenen Haus, wenn der Hammer der Zeit
sich verrenkt hat und am Amboß vorbeisaust:
nichts wiederholt sich auf die gleiche Weise, nichts
ist ausschließlich Linie, Geometrie,
und eine an den rechten Ort gelegte Gedankenlinie
drangsaliert den ganzen Satz; es bleibt ein Netz zurück,
welches ins Fleisch schneidet, Lendenknochen,
zum Gitter gebogen

Noch ging die Sonne nicht auf,
doch ist der Nachthimmel ein Sieb, siebt Sterne,
ein fernes Glänzen; bei diesem flüchtigen Moment
und einer Melodie mit ihrer einmaligen Tonfolge
begreife ich wie schnell die Weltzeiten
sich abscheuern, ganz so wie Kleider durchgescheuert werden und in Triangeln flattert die Milchstraße
Und falls die Tränen trocknen, ist das Gesicht
Marschland, ein zugeschaufeltes Grab.

Guten Morgen

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Als ich noch in Deutschland war, fing das auf einmal an, dass ich aus Indien diese „Good morning images“ bekam. Hä!? dachte ich, was soll das denn, und da die romantische Ansprechbarkeit nicht in Frage kam, musste ich nicht lange grübeln, denn mir wurde klar, dass hier eine Sprache gefunden wurde mit bereits vorhandenen Worten und Gedanken, die es den Tastendrückern leicht machen, sich als Spender des Guten zu empfinden, was ganz dem indischen Ursinn entspricht. Der Pfad göttlicher Eingebung hin zum Kitsch kann eh sehr kurz und praktisch sein und verlangt keine weiteren Reflektionen. Nun habe ich aus Berlin einen Artikel zugesandt bekommen, der etwas Licht in die Sache bringt. Im Silicon Valley gab es eine Großgrübelei darüber, warum in Indien so viele Smartphones einfach erstarren und nichts mehr geht. Seit Indien online ist, verbraucht nahezu jeder User täglich seinen verfügbaren Space auf dem Smartphone und muss ihn leeren. Nun fanden die Researcher heraus, dass täglich eine unvorstellbare Masse an Blumen, lächelnden Babies, Vögeln und Sonnenuntergängen hinausgesandt werden aus Indien. Millionen von Indern sind zum ersten Mal online und es wurde bekannt, dass sie am liebsten ihren Tag beginnen, indem sie Grüße senden von ihrem Phone. Diese Aktionen beginnen vor Sonnenaufgang und erreichen ihren Höhepunkt gegen 8 Uhr, wenn indische Internet-Neulinge Millionen von Grüßen an Familienmitglieder und Freunde senden. Natürlich waren die Goldgruben-Haie nicht weit. Was zuerst nur Blumen und Kinder war, wurde erweitert mit Sprüchen von einer visual-search-platform in San Francisco, die einen ungeheuren Anstieg im indischen Downloaden verursachte. WhatsApp hat 200 Millionen monatliche User (!!!) und ist damit sein  größter Markt. Ein alter Mann, der genannt wurde, hat erst vor Kurzem ein Smartphone und liebt es, als allererstes ein Good Morning Image an alle ihm bekannten Menschen zu senden mit seinen Lieblingssprüchen, von denen er sagt, sie seien wirklich seine Gedanken in Worten ausgedrückt, zum Beispiel „Unser Herz ist das einzige Ding, das unermüdlich arbeitet. Halte es glücklich, ob es dein eigenes ist oder das eines anderen“. Oder den Göttern wird ein Spruch zugeschoben, der der indischen Vorstellung ihrer Denkweise entspricht. Narendra Modi, der indische Premierminister, ist der berühmteste Spruchsender. Er steht um 5 Uhr auf, macht Yoga (haha!) und feuert danach dann ganze Salven von Morgengrüßen in die jeweiligen Ministerien. Auch ist bekannt geworden, dass er sich bei einigen Anwälten beklagt hat, dass sie nicht auf seine Botschaften antworten. Es gibt auch weitere Klagen. Einige Nichten und Neffen haben sich beklagt, dass nicht nur ihre oft billigen Smartphones von den Grüßen ihrer Onkel und Tanten „frieren“, sondern diese rufen anschließend an und fragen nach, ob ihre Grüße auch angekommen sind. Schon gibt es im Goldgrubenhain neue Apps, die wie Spürhunde die Good Morning Images herauswittern und deleten. Das war nicht leicht, sagt Josh Woodward, der Google Product Manager: „Wir versuchten monatelang, die DNA der „Good morning greetings“ zu dekonstruieren. Als es gelang, kam vor allem von Regierungsbeamten viel Applaus. Doch es gibt auch Leute wie Kanwarjot Singh, der auf seiner Website Images anbietet und Hunderttausende von Indern loaden seine Bilder herunter. An Neujahr sollen von Indien 20 Billionen Neujahrsgrüße ausgegangen sein.
Nun bin ich mir natürlich darüber bewusst, dass diese Informationen für viele Menschen  nicht sehr interessant sind, denn nicht jede/r ist bombardiert worden mit Vögeln, Kleinkindern und Sprüchen. Interessant bleibt, dass man verstehen kann, was für ein Highlight es für die Millionen von Analphabeten sein muss, auf einmal eine Möglichkeit geschenkt bekommen zu haben, sich bildlich und sprachlich auszudrücken. Ich sag’s ja: Guru Google!

drin

Von dem morgendlichen Hinausgehen, die breiten Stufen hinunter zum Wasser, vorbei an den Priestern, die ihren Tag vorbereiten für die Pilger, unterwegs mit denen, die um diese Zeit ihre Runde drehen, kenne ich das Gefühl, das sich dann einstellt: etwas verwandelt sich, man entert ein „Drin“. Ich kann ruhig „man“ sagen, denn ich teile dieses Mysterium mit allen Rundgängern. Immer ist es real und wahr geblieben, dass die Umwandlung einen verwandelt. Hier ist eine zeitlose, immer wieder aufs Neue aufgeladene Ruhe und Energie, an der alle Anwesenden aktiv beteiligt sind, denn sie sind hoch konzentriert auf ihr Tun, das sich für uns alle außerhalb des täglichen Laufs abspielt. Viele kommen in die Runde, bevor sie ihren Laden aufmachen, sie tanken sich auf mit Stille für den Sturm und den Staub des Bazaars. Manchmal lagern die BewohnerInnen halber Dörfer herum. Oft geht es um die Toten, deren Asche in den See geschüttet wird. Asche ist pur, sie ähnelt dem Menschen nicht mehr. Manchmal werden auch an bestimmten, dafür vorgesehenen Stellen Geister ausgetrieben, da taucht schon mal der Ton des Irrsinns auf und verklingt wieder, wenn sie ihn mitnehmen. Sonst liegt über allem eine erfrischende Ruhe. Doch es sind ungeheure Dinge geschehen. Die Quelle des Wassers ist versiegt, die einstige Tiefe verflacht. Einmal sind alle Fische und Schildkröten aus Mangel an Sauerstoff gestorben, dann gab es gar kein Wasser mehrt. Bagger kamen zum Graben. Neue Systeme wurden erfunden und eingesetzt. Früher gab es mal einen Ausdruck dafür, den ich immer so treffend fand: „duplicate maya“, meint „das Duplikat des Illusionären“, Illusion hier als alles Manifeste gemeint, die inhärente Täuschung, der wir unterliegen, indem wir das, was wir sehen, für real halten. Und doch atmet der Ort etwas aus, das ist jenseits der architektonischen Strukturierung: sein eigenes, unzerstörbares Wesen, das sich immer wieder in neuen Verfassungen zeigt. Denn auch die Menschen würden sich nicht so darum kümmern, wenn sie sich nicht angesprochen fühlen würden auf eine ganz bestimmte Weise. Vor allem das Einfache und das Offensichtliche kann einerseits geteilt werden, aber gibt auch den Genuss der Art, wie man es selbst empfindet, und was der Ort durch meinen inneren Zuspruch mir ermöglicht zu sein.

Blutmond

Ich habe dann nur diese zwei Bilder gemacht, eher ein graphisches Design als der Versuch, etwas  Grandioses einzufangen. Auch hat (m)ein Smartphone da doch seine Grenzen. Man kann in den indischen Ritual-Räumen stets eine Menge fühlen, nicht zuletzt, weil es diese massiven Gleichschaltungen gibt, die, mehr oder weniger bewusst, doch noch ziemlich positiv ausgerichtet sind. Und was heißt hier bewusst? Ihrer Meinung nach, soweit vorhanden, beruhen ja die Antworten auf die überlieferten Rituale auf Wissen. Ihr Wissen. Zum Beispiel, was man bei einer Mondfinsternis tut oder nicht tut. Dennoch hat mich erstaunt gestern, dass tatsächlich niemand wusste, warum in ganz Indien alle Tempel verriegelt wurden. Während der Finsternis durfte auch nicht gegessen werden. Pankaj hat mir erklart, dass bei keinem Ereignis so viele Dinge befolgt werden wie bei einer Finsternis. Nun kamen just an diesem Tag gemeinsame Freunde von Shivani und mir aus Bombay an, die wir am Bahnhof in der naheliegenden Stadt abholen sollten. Der Zug hatte 2 1/2 Stunden Verspätung und wir tranken mehr chai im Haus und aßen Kaman Dhokla, ein himmlisches Gericht. Dann sollte es endlich losgehen, aber die Batterie im Auto war leer. Jemand kam mit dem Kabel, dann mussten wir nochmal warten, da ging der Motor wieder nicht an. Ein auf der Straße Herumstehender schob von hinten an und wir waren unterwegs und kamen direkt an, als der Zug einlief. Zis is India. Auch da in der Stadt konnte man eine Veränderung im Raum wahrnehmen, da sich viele Menschen im Inneren der Häuser aufhielten. Die Finsternis war ja in vollem Gang, obwohl man nichts sehen konnte bis abends um 19:30. Da schauten wir auf der Rückfahrt doch immer wieder aus den Fenstern in die Dämmerung hinein, ja wo isser denn…aber erst, als wir ankamen in Shivanis Haus und noch mehr chai tranken, da war es auf einmal da, das tiefdunkle, blutrote Rund, das man auch in meinen Bildern sehen kann. Langsam, sehr langsam, lüfteten sich Schleier und Bann. Erst als es wieder ganz hell wurde, das Rund, fingen turbulente Bewegungen am See an. Massenhaftes Baden, Spenden und Opfern, überall kleine Feuer, dann erst essen. Hat was, kann man nicht leugnen. Wir waren da schon mitten im Pizza-Essen. Übrigens wurden die Tempel dann wieder geöffnet, aber nur kurz, dann eine Puja gemacht und alles wieder verriegelt. Das muss mir noch jemand erklären, oder auch nicht, wenn ich’s recht bedenke. Denn ich ahne ja schon, dass die Wurzel bei Krishna liegt, dem Gott mit der Pfauenfeder.