Zwei

 

Oben in Shimla ist jetzt das verspätete Eis gekommen und bringt uns verdeckte Himmel am Morgen mit kalten Winden, die dann allerdings einer Tageshitze weichen, die in Kombination eine Menge Husten und Heiserkeiten und Fieber verursachen. Vor meinem Fenster weht eine unruhige Fahne, die mir zeigt, dass ich lieber drinbleiben sollte, denn draußen sind nicht nur alle verstimmt, sondern auf meinem Sitz ist es auch ohne Sonne nicht gemütlich. Ich habe gerade mal nachgeschaut, ob es das Wort „gemütlich“ überhaupt gibt in Hindi, und ja, es gibt das Wort, es heißt aaraamadaayak, immerhin sieben a’s drin, natürlich translatiert vom Translator, damit es für alle lesbar wird, und ich nutze nun spontan diese Gelegenheit, allen Einwohnern möglichst viel aaraamdaayak zu wünschen, denn daran hapert’s in den Häusern oft sehr, deswegen sind alle so viel wie möglich draußen, oder sind das nur die Männer, die ihre Gemütlichkeiten auf ihrem groß angelegten Spielfeld erschaffen?
Auf den Photos kann man zwei Menschen sehen, die ich beide ungefähr gleich lang kenne, und das ist ziemlich lange. Die Frau links ist Lalis Mutter, man sieht sie beim Knoblauchpuhlen. Mit ihr musste ich mich immer wieder auseinandersetzen, und je mehr ich Zeugin ihrer Handlungen wurde, desto weiter saßen wir auseinander. Sie gilt unter den Dörflern ringsum als eine Art Heilerin, und üblicherweise in solchen Fällen erfährt man natürlich nie, ob irgend jemand in den langen Jahren ihrer Magenkneterei wirklich  geheilt wurde, aber der Glaube soll ja noch mehr können, zum Beispiel Berge versetzen. Diese Heilerin also hat bei allen Heiraten, die in den Jahren zwangsweise stattfanden, immer die Entscheidungen der jeweiligen Partner getroffen, die geheiratet werden sollten, und noch nie habe ich solch schreckliche Fehlentscheidungen bezeugen müssen. Sie ist gewarnt worden und hat trotzdem entschieden, zum Beispiel für Lali, die von dieser Zeit nur als von einem entschwundenen Albtraum spricht, bis ihr Mann sich das bereits vor der Hochzeit verkorkste Leben genommen hat. Aber viele andere Fälle folgten, bei denen man eine Menge blanken Irrsinn hätte vermeiden können. Die Mutter ist die Einzige, die nicht in die Schule gegangen ist, also weder lesen noch schreiben kann. Das war für die Familienmitglieder durchaus nicht günstig, denn was bleiben musste, war eine traditionell geprägte Show von Respektbezeugung, die man für unerlässlich hielt. Jetzt ändern sich die Dinge, aber sehr, sehr langsam. Zumindest weiß man schon mehr, wen man vor sich hat, oder man lässt es auch mitunter gerne sein, wissen zu wollen, wen man vor sich hat, denn das würde hier bei ihr ja nur in sinnloses Raten führen, denn da existiert noch nicht einmal die geringste Spur von Selbstreflexion, also auch keine Idee von eigenem, fehlerhaftem Verhalten.
Der Mann rechts im Bild kommt aus der Bopa-Kaste. Es sind Zigeuner, die an der Dorfgrenze wohnen, und die meisten von ihnen spielen, mehr oder weniger talentiert, auf einem Instrument, der Ektara, simpel und meist selbst gebaut mit ein paar Strings, die mit einem Bogen, an dem Glöckchen hängen, gestrichen werden. Da die Foreigners auf solche, ihrer Phantasie vom Orient entsprechenden Gestalten schon seit langem abfahren, haben sie eine gewisse Berühmtheit erlangt, haben eine CD von Ravi machen lassen, der wiederum ihre CD profitabel verkauft. Der alte Mann auf dem Bild ist einer der Letzten, die noch richtig gut spielen können. Wenn er in Fahrt kommt, sitzt man gerne eine Weile herum oder greift zum Geldbeutel. Auch das ist lange her, denn weil nichts erneuert wurde in ihrer Kunst, hörte auch das begeisterte Zuhören (für mich) auf. Vor ein paar Tagen, als ich das Bild von der Mutter gemacht habe, saß er auch da auf der Treppe, daher die farbliche Angleichung. Das Bild zeigt ihn beim Erzählen, dass er gerade eine Diagnose für Kehlkopfkrebs bekommen hat. Er ging zum Arzt, weil er nichts mehr essen und trinken kann. Ob hier etwas zu machen wäre medizinisch oder nicht, kam als Frage gar nicht auf. Niemand wird ohne Geld so einen Menschen behandeln, nur die Reichen haben entweder Geld für Behandlung oder eine Krankenversicherung. Da sitzt er nun, der alte, uns allen vertraute Bopa, mit seiner Ektara, und wir wissen alle, dass er bald sterben wird. Meine Güte, denke ich, als er weiter geht, da ist er nun allein damit.

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