Himmel und Hölle

 

Auch um für Menschen wichtige Festtage herum kann man sehen, dass Himmel und Hölle immer sehr nahe beieinander sind. Da fällt mir doch gerade das Spiel ein, dass so beliebt war unter uns Kindern und das man mit Kreide auf den Pflasterstein zeichnete und hin- und herhüpfte, an die Spielregeln kann ich mich nicht mehr erinnern. Das Spiel hatte auf jeden Fall erfasst, dass Himmel und Hölle eine gleichermaßen wesentliche Präsenz haben in der lebendigen Wirklichkeit, auch wenn sie nicht immer leicht zu erkennen sind. Es kommt auch auf die jeweiligen Empfindungen an, die auf der Skala zwischen den beiden Feldern stark schwanken können. Für manche kann der Druck der Weihnachtseinkaufspflicht z.B. ein höllischer Trip sein trotz der aufwendigen Lichtergaukeleien, unter denen man sich entscheiden muss, wer was außer all dem, was er oder sie schon hat, noch wollen könnte, oder in das Garnichtsmehrwollen noch eins drauf geben, weil es ja ums Geben gehen soll und ums mit Freude empfangen. In dieser Hinsicht könnte man sich ein tägliches x-mas wünschen, der Faktor x als menschliche Vorstellungsvariante, wie man sich selbst als Mensch so wünscht, und wie weit mit dem Auspacken der Geschenke an sich selbst man damit gekommen ist. Aber da die meisten Feste ja religiöse Hintergründe haben, ist der Schritt von der Leere in die Fülle und wieder zurück schon vorprogrammiert. Schön ist, wenn man sich aussuchen kann, mit wem man feiern möchte, und letztendlich auch wann und wie, sodass keiner belastet wird von obskuren Vorstellungen, die zu bedienen sind. Mami, ich möchte das neue Samsungsmartphone haben mit dem xxxL-display, oder das neue Game aus Südkorea, wo Kim mit einem gekonnten Wurf Donald Trump erledigen kann. Ich bin aber sicher, es gibt noch Orte, wo ein schöner, aufrechter Tannenbaum  geschenkt wurde, an den man süße Kringel hängen kann und allerlei buntes Zeug, und macht ein schönes Essen für die Freunde, die froh sind, eingeladen zu sein in ein Haus, wo es sowas Stressfreies gibt, und  Musik und gute Gespräche. Ich hab‘ gut reden, sehe ich hier doch nicht einmal mehr diese roten Weihnachtsmannsmützen, die vor allem bei Inderinnen so beliebt waren und vielleicht in Bombay und Delhi gekauft werden. Alle haben ja gerade Weihnachtsferien, und viele denken schon, das sei der Hindukalender, dabei ist es der Christenkalender noch aus der Engländerzeit, der vermutlich seiner klaren Struktur wegen bevorzugt blieb. Vielleicht auch wegen dem Sonntag, wo die Bürokratie mal eine dringende Pause hat und zuhause weiterschlafen kann. Sonst wird die Zeit genutzt, im noch vom letzten Fest schmutzstrotzenden Wasser ein heiliges Bad zu nehmen, obwohl die Zeitungen ständig wegen dem umherschleichenden Denguefieber, übertragen von der ägyptischen Fliege, warnen vor der Kälte, da sie sich auch im Winter behaupten konnte und seit ihrer Ankunft reichlich Leichen hinterlassen hat. Ich habe heute den kleinen Holzweihnachtsmann, der praktischerweise schon einen winzigen Tannenbaum in den Händen hält, und den Papierstern oben vom Regal (wo die  Sachen das ganze Jahr rumliegen) heruntergeholt und entstaubt, und die vierte Minikerze des Adventsblechdöschens angezündet, damit das, was ich vom Christentum noch mitkriege, aufleuchten kann. Im Hindukalender läuft die Zeit ja kreisförmig ab, in genau vier Zeitaltern. Ein kluger Kopf hat mir mal erklärt, dass alle vier Zeitalter immer gleichzeitig stattfinden, und dass jeder Mensch frei ist, geistig d e n Raum zu beleben und zu bewohnen, der ihm oder ihr entspricht. Das sehe ich auch so, denn auch wenn man nicht weiß und nie wissen wird, wie die Gebeine der drei Könige ausgerechnet im Kölner Dom landeten, so kann man es doch schön finden, dass sie den Kleinen dann doch noch gefunden haben, weil ein Stern ihnen den Weg wies.

Wole Soyinka

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RAUM

Sein Geist war grenzenlos als er
Ausflog, er war ein Schweigen wie angegossen
Auf Luft und Wasser mannigfaltig
Gestoßen aus dem Schoß einer Arche

Licht-Atem, webende Flügel beim Wirken
Des Unermeßlichen, von der Kuppe des Betens
Trennten sich Hände, um die Versprechen
Des ersten, ungestörten Es Werde einzulösen

Er fliegt und macht die Strohhalm-Probe auf die Sintflut
Durchwatet den verhangenen Meeresarm des Zorns
Kurier aus dem Schlummer und First des auserwählten
Treibguts, einer von all den Zugrundegegangenen

Durch Glühwürmchen-Gewebe trieb er
Einen sachten Keil ins Splintholz des Himmels
So sicher wie der Pilger zum Ursprung gelangt
Brachte den weißen Schatten auf dem Webstuhl unter

Seine Fülle war ein weißes Zelt auf
Kobalt-Sänden, und er, Focksegler –
Damit die Flut-Perioden nicht vergessen werden –
Pflückt der Karawane eine Dattel. Der Stein
Der Herzstein Quelle wahrer Fata Morganen
Öffnet sich auf eine glühende Oase im Osten

Beim Fliegen flügellos, Weihrauch-Boot mit
Eingelegten Hoffnungs-Strömen, ein Nebel-Beben
Das an ein körperloses Luftlied rührt
Ein ovales Kleid aus verblassendem Mondlicht
Eine Pause leuchtend von Schweigen, hingezogen
Zu Geisterfingern auf dem bezauberten Webstuhl

Zwischen der äußeren Reise und dem Blick
Zurück auf den Glanz von Oberflächen bevor sie
Leer waren sah er – neu aufgekommene
Staub-Spannen, den Raum abzumessen!

Ist es ein Wunder, daß er nicht zurück will?
Er sucht seine Ruhe auf Seitenwinden –
Die leeren in eine einzige einsetzende Flut
Ewige Sintflut des Entwurfs eines Wortes!

 

 

Yosano Aki-ko

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Die Stufen

Die unzählbaren
Stufen
zu meinem Herzen,
zwei, drei vielleicht
ist er hinaufgegangen.

 

Die Dichterin

So denkt an mich:
auf eures Herzens Insel,
dürstend
und ausweglos,
bin ich verbannt.

Rose Ausländer

 

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Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam

besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden

Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte

die uns aufblühen lässt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen

Gabriela Mistral

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DER BECHER

Ich trug einen Becher
von einer Insel zur andern. Ich weckte das Wasser nicht.
Hätt’ ich’s verschüttet, hätt’ ich den Durst betrogen.
Nur einen Tropfen, und die Gabe wäre vertan,
alles wäre verloren, sein Herr hätte geweint.

Ich habe keine Stadt begrüßt,
kein Lob dem Flug ihrer Türme gespendet,
nicht die Arme geöffnet in der großen Pyramide,
kein Heim gegründet dem Reigen der Kinder.

Doch als ich ihn abgab, den Becher, rief ich,
die junge Sonne auf meiner Kehle:
„Meine Arme sind frei wie die Wolken, die herrenlosen.
Und mein Hals wiegt sich auf dem Hügel,
eingeladen haben mich die Täler.“

Lüge war mein Alleluja! Seht mich an!
Ich halte den Blick gesenkt auf meine leeren Hände.
Langsam schreite ich, ohne den Diamanten aus Wasser.
Schweigend gehe ich fort. Nicht trage ich Schätze.
Mich betäubt das Blut, das in meiner Brust,
in meinen Pulsen schlägt aus Angst, aus Sorge.

R.M.Rilke

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Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.

Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.

Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,

ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.

Kerstin Preiwuß

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Kraftmenschen

wir haben doch nur
die katzen ertränkt
die hähne gehenkt

nun schwillt kein kamm
tanzen die mäuse auf
dem zerbrochenen rücken

nun säufst du
seufzt der regen, ach

wir schießen doch nur
mit Kanonen auf Spatzen

Ingeborg Bachmann

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FRÜHER MITTAG

 Still grünt die Linde im eröffneten Sommer,
weit aus den Städten gerückt, flirrt
der mattglänzende Tagmond. Schon ist Mittag,
schon regt sich im Brunnen der Strahl,
schon hebt sich unter den Scherben
des Märchenvogels geschundener Flügel,
und die vom Steinwurf entstellte Hand
sinkt ins erwachende Korn.

Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,
sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Hass
und reicht dir die Schüssel des Herzens.

Eine Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel.

Sieben Jahre später
fällt es dir wieder ein,
am Brunnen vor dem Tore,
blick nicht zu tief hinein,
die Augen gehen dir über.

Sieben Jahre später,
in einem Totenhaus,
trinken die Henker von gestern
den goldenen Becher aus.
Die Augen täten dir sinken.

Schon ist Mittag, in der Asche
krümmt sich das Eisen, auf den Dorn
ist die Fahne gehisst, und auf den Felsen
uralten Traums bleibt fortan
der Adler geschmiedet.

Nur die Hoffnung kauert erblindet im Licht.
Lös ihr die Fessel, führ sie
die Halde herab, leg ihr
die Hand auf das Aug, dass sie
kein Schmerz versengt!

Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt,
sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen,
eh sie der Sommer im schütteren Regen vernimmt.

Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land:
Schon ist Mittag.

Friedrich Hölderlin

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Am Kreuzweg wohnt
und dicht am Abgrund die Halbheit
und gibt uns Rätsel auf. Wer aber muss
fallen?
Wir oder sie?
Da kann unser eigenes Wort uns
unten zerschmettern
oder uns hier ergänzen.

Kein leicht zu Sagendes.
Nämlich nur unser Leben
ist dieses Wortes Mund. Wo er sich auftut,
kann seiner Stimme Strenge gütiger sein
als jene lautlose Milde, die liebevoll
dich dich dich
und dich und mich und uns beide
vorüberführen will an der eigenen Antwort.

Nah ist und leicht zu lieben
die Lüge
und trägt einen bunten Rock
aus vielen Farben.
An uns aber liegt es, dass wir
nicht verlieren die Farbe unserer Würde,
dass wir nicht aufgeben
das Unteilbare:
unser eines angeborenes Recht.

Nämlich der es nicht hütet,
der büßt es ein,
denn leicht färbt ab auf uns,
auf dich sogar und auf mich
bis in die Herzen die Rostschicht,
die unsere Schwächen verdeckt,
die zähe falsche Haut
aus Staub und aus welken Blättern
des Vorsichhintuns.

Ein Wort aber könnte sein,
das risse sie weg,
das führte aus jedem
Verstohlensein deine Wahrheit
zurück in ihr Eigentum,
das immer noch du bist.

Sonst brächte kein Hauch mehr,
kein Wind von den Gipfeln der Zeit
dir Linderung,
und keine Ahnung des Seins
von dem, was sein könnte
schenkte die Wahrheit dir wieder:
Nur sie kann du sein.

Denn das meiste
ertrotzt sich der Mensch nur mit Schmerzen.
Auch du bestehst nicht quallos
im Gegenwind deiner Zeit.
Doch wenn du
nicht mehr du sein wolltest
wenn du nicht länger
stündest zu dir,
die du bist,
und auch nicht länger
zu deiner Freiheit,
und nicht mehr
zu denen, die in dir wohnen
den Richtungen deines
eigenen Bildes…
was
dann
zwischen den Trümmern
bliebe von dir
und von einem
der dich kennt und
dich liebt?

Die Zeichnung von Hölderlin ist von Armin Mueller-Stahl

Chacheperreseneb klagt (1)

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Abriss der Worte, Blütenlese der Sprache,
Sehnsucht nach Reden bei der Suche nach dem Herzen
verfasst von dem heliopolitanischen Priester Chachperreseneb
genannt Anchu:

Hätte ich doch unbekannte Reden,
fremdartige Sprüche,
neue Worte, noch nie gebraucht
und frei von Wiederholungen,
nicht die Sprüche der Vergangenheit,
welche die Vorfahren schon brauchten!

Ich presse meinen Leib aus von dem, was er hält,
ich siebe alle meine Worte;
denn Wiederholung ist alles, was man sagt,
und alles Gesagte ist (schon einmal) gesagt.
Die Worte der Vorfahren sind nichts zum Rühmen,
wenn die, die später kommen, sie wiederverwenden.

Der soll nicht sprechen, der (schon) gesprochen hat,
(sondern) der soll sprechen, der etwas zu sagen hat.
Ein anderer soll herausfinden, was zu sagen ist,
kein bloßes Nachschwätzen von Worten,
wie man es immer schon tat!
Doch auch keine Rede, die (nur) gesagt werden könnte,
das ist vergebliche Mühe, dazu noch unwahr,
und niemand wird andere daran erinnern wollen.
Ich sage dies, wie ich es kennengelernt habe:
Von der ersten Generation bis bis zu denen, die eins
kommen, alle ahmen nur nach, was vergangen ist.
Wüsste ich doch, was andere nicht wissen,
was niemals noch überliefert wurde,
dass ich es sage und mein Herz mir Antwort gebe!

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Der weitere Teil der Rede kommt nächsten Sonntag. Ich freue mich immer wieder, dass ich mich so früh in meinem Blog entschieden habe, sonntags hier andere Quellen sprechen zu lassen, wobei die einzige Mühe  ist, dass die Worte der „Anderen“ auch in mir eine Resonanz erzeugen.
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Gottfried Benn

Menschen getroffen

Ich habe Menschen getroffen, die,
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benennung zu haben −
„Fräulein Christian“ antworteten und dann:
„wie der Vorname“, sie wollten einem die Erfassung erleichtern,
kein schwieriger Name wie „Popiol“ oder „Babendererde“ −
„wie der Vorname“ – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!
Ich habe Menschen getroffen, die
mit ihren Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchenherde lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehen

 

Eugen Gomringer

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schweigen                         schweigen
schweigen  schweigen  schweigen
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Marie-Luise Kaschnitz

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Ich wollte die Entscheidung, am Sonntag immer einen Text einzufügen, der nicht von mir ist, auch in Indien beibehalten,  und stieß  zufällig“ gestern auf einen Kommentar, in dem jemand mir dieses Gedicht von Marie-Luise Kaschnitz zugesandt hatte, da ich einen einzigen Satz daraus einmal in einem früheren Beitrag gepostet hatte, ohne den Rest zu kennen oder zu suchen.
Ich hatte mich sofort entschieden, das vollständige Gedicht aufzunehmen, und dann war es mir entfallen. Es passt nicht so ganz in den Rahmen meiner gegenwärtigen Wahrnehmung, da ich mich in eher „paradiesischer“ Umgebung aufhalte, aber trotzdem findet das alles gerade statt auf dem Planeten, deshalb heute ihr Gedicht.

ICH LEBTE

Ich lebte in einer Zeit,
Die hob sich in Wellen
Kriegauf und kriegab,
Und das Janusgesicht
Stieß mit der Panzerfaust
Ihr die bebänderten Wiegen.

Der Tausendfüßler, das Volk,
Zog sein grünfleckiges Tarnzeug
An und aus,
Schrie, haut auf den Lukas,
Biß ins Sommergras
Und betttelte um Gnade.

Viel Güte genossen
Die Kinder,
Einigen schenkte man
Kostbares Spielzeug,
Raketen,
Andern erlaubte man,
Sich ihr eigenes Grab zu graben
Und sich hinfallen zu lassen tot
Zu den stinkenden
Schwestern und Brüdern.

Schwellkopf und Schwellbauch
Tafelten, wenn es bergauf ging,
Zander und Perlwein.
Die Erdrosselten saßen
Die Erschossenen mit am Tisch
Höflich unsichtbar.

Um den Himmel flogen
Selbständig rechnende
Geräte, zeichneten auf
Den Grad unsrer Fühllosigkeit
Den Bogen unsrer Verzweiflung.

In den Sperrstunden spielten
Abgehackte Hände Klavier
Lieblichen Mozart.

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Ich habe nachgeschaut, ob die Anfangsbuchstaben wirklich immer groß geschrieben werden, und manchmal denkt man, ob es wohl so sein kann, aber es kann.

Karl Jaspers

Der Wille zur Wahrheit

Dieser Wille ist in seiner Haltung zu charakterisieren:
Ansichhalten im methodischen Fragen; Offenheit des
Blicks; unendliche Bewegung in die Weite, in die
Gefahr der Bodenlosigkeit, aus der erst Rückkehr zur
existentiellen Gegenwart erfolgt; unendliche Reflexion
und Vertrauen auf den entgegenkommenden Grund;
Verwerfen aller Grenzen, wenn sie Schranken werden
sollen; kein Vergessen und kein Erlauben einer Lebens-
Lüge; Wagnis des Sehens; Phantasie des Möglichen;
Gerechtigkeit. Es ist der von der Vernunft geführte Wille.

Mascha Kaleko

Kaleko_Beitrag

Rezept

Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.

Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.

Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muss, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.

Erwarte nichts.
Und hüte besorgt dein Geheimnis.
Auch der Bruder verrät,
geht es um dich oder ihn.
Deinen eigenen Schatten nimm
zum Weggefährten.

Feg deine Stube wohl.
Und tausche den Gruß mit dem Nachbarn.
Flicke heiter den Zaun
und auch die Glocke am Tor.
Die Wunde in dir halte wach
unter dem Dach im Einstweilen.

Zerreiß deine Pläne. Sei klug
und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
im großen Plan.
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.

 

Ernst Meister

Ernst Meister

Hier
gekrümmt
zwischen zwei Nichtsen,
sage ich Liebe.
Hier, auf dem
Zufallskreisel,
sage ich Liebe.
Hier, von den hohlen
Himmeln bedrängt,
an Halmen
des Erdreichs mich haltend,
hier, aus dem
Seufzer geboren,
von Abhang
und Abhang gezeugt,
sage ich Liebe.

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Dieses Gedicht habe ich mal unterwegs in WDR5 gehört und war so berührt davon, dass ich sofort im Netz danach gesucht habe. Dann verschwand es in meinem Notizbuch bis heute. Ein guter Tag für ein  gutes Gedicht. Blessed be the net!

Olaf H. Hauge

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Wie lange hast du geschlafen?

Das wagst du,
schlägst die Augen auf
und schaust dich um?
Doch, du bist hier,
hier in dieser Welt,
du träumst nicht,
sie ist so wie du sie
siehst, die Dinge hier
sind so.
So?
Ja, grad so,
nicht anders.

Wie lange hast du geschlafen?

Rose Ausländer

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Manchmal spricht ein Baum
durch das Fenster mir Mut zu.

Manchmal leuchtet ein Buch
als Stern auf meinem Himmel,

manchmal ein Mensch,
den ich nicht kenne,
der meine Worte erkennt.

 

 

 

 

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Ich wollte zwischendrin nochmal erwähnen, dass in meinem Blog die Kategorie „Andere Quellen“ bedeutet, dass ich von Anfang an die Idee hatte, zumindest einen Tag in der Woche nicht eigene Texte hineinzugeben , sondern andere Stimmen sprechen zu lassen, und das immer am Sonntag.

 

Max Picard

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Niemals kann dem Menschen durch die Maschine
geholfen werden, weil sie den Menschen wegholt
von jener Zeit,  die ein Moment der Ewigkeit ist.
Die andauernd sich bewegende Maschine macht aus
der Zeit eine mechanisierte Dauer, wo es keinen für
sich bestehenden Augenblick gibt, der der Ewigkeit
gegenübertreten kann. Diese mechanische Dauer hat
überhaupt keine Beziehung zur Zeit, sie füllt die Zeit
nicht an, sondern den Raum. Die Zeit erscheint gestockt,
fest und in Raum verwandelt. So ist der Mensch
abgetrennt von der Zeit. Darum ist er so einsam vor
der Maschine, er ist nur ein Wesen des Raumes, und
anstatt dass die Zeit sich bewegt, scheint sich durch die
Bewegung der Maschine nur der Raum zu bewegen.
So lebt der Mensch im Raume, nur im Raume, wie in
einem Schacht ohne Ende, der durch die Maschine immer
tiefer sich gräbt. In dieser Welt der Maschine, die das
zu Eisen geronnene Wortgeräusch ist, kann niemals das
Wort des Dichters entstehen, denn das Wort des Dichters
kommt aus dem Schweigen, nicht aus dem Wortgeräusch.

 

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Ein Satz von Marie-Luise Kaschnitz

20160960

 

Um den Himmel flogen
selbständig rechnende Geräte
zeichneten auf den Grad
unserer Fühllosigkeit
den Bogen  unserer
Verzweiflung

 

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Dieser Satz stand auf einem der Blätter, die sich bei mir ansammeln, weil etwas auf ihnen steht, das mich erreicht hat. Er ist ganz sicher  Teil eines größeren Gedichtes, zeigt aber auch, wie gut ein tiefer Satz für sich stehen kann. Ich bin auf der Suche nach dem Gedicht, habe es aber noch nicht gefunden.

Daniela Danz

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Masada

Wenn du dann stehst wo es still ist dass du
es merkst wenn das Denken aufhört und
das Hören anfängt wenn das Hören aufhört
und das Sehen anfängt wenn ein Vogel
fliegt wenn du als schwarzer Vogel gleitest
und schreist wenn du zu sprechen ansetzt
in der klaren Luft und von nichts sprechen
kannst als dem Licht so als wäre es das erste
Licht wenn du einen Schatten auf den Fels
wirfst und sagst mein Schatten bleibt
und der Fels vergeht wenn für jetzt wahr ist
dass es gut ist den ganzen Einsatz zu wagen
kannst du die Wüste mit Namen nennen

 

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Daniela Danz, Lyrikerin und Schriftstellerin *1976

Roberto Juarroz

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Die Welt zu enttaufen
Den Namen der Dinge opfern,
um ihre Anwesenheit zu gewinnen.

Die Welt ist ein nackter Ruf,
eine Stimme und nicht ein Name,
eine Stimme mit ihrem eigenen Echo
auf dem Rücken.

Und das Wort des Menschen ist ein
Teil dieser Stimme,
kein Fingerzeig,
keine Aufschrift im Archiv,
keine Seitenansicht des Wörterbuchs,
kein hörbarer Personalausweis,
kein Kennwimpel
der Topographie des Abgrunds.

Der Dienst des Wortes
jenseits der kleinen Armut
und der kleinen Zärtlichkeit, dieses
oder jenes zu bezeichnen,
ist ein Liebesakt:
Anwesenheit zu schöpfen.

Der Dienst des Wortes
ist die Möglichkeit, dass
die Welt zur Welt spricht,
die Möglichkeit, dass
die Welt zum Menschen spricht.

Das Wort: dieser Körper, gerichtet an alles.
Das Wort: diese offenen Augen.

 

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Roberto Juarrez ist/war ein argentinischer Dichter (1925 – 1995)

„Dir auch – Gottfried Benn

Dir auch – tauschen die Nächte
dich in ein dunkleres Du,
Psyche, strömende Rechte
schluchzend dem andern zu,
ist es auch ungeheuer
und du littest genug:
Liebe ist Wein im Feuer
aus dem Opferkrug.

selbst du beugst dich und jeder
meint, hier sei es vollbracht,
ach im Schattengeäder
flieht auch deine, die Nacht,
wohl den Lippen, den Händen
glühst du das reinste Licht,
doch die Träume vollenden
können wir nicht.

nur die Stunden, die Nächte,
wo dein Atem erwacht,
Psyche, strömende Rechte,
tiefe, tauschende Nacht,
ach es ist ungeheuer,
ach es ist nie genug
von deinem Wein im Feuer
aus dem Opferkrug.

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 Tatsächlich! Eine gewagte Satzzeichensetzung! Man würde es gerne als einen Fehler kennzeichnen, zB nach einem Punkt klein weiter zu schreiben, aber es hat seine eigene Logik, die leuchtet ein. Wie gut, dass es geistige Freiheit gibt. Was wären wir sonst gebunden an die ungefähre(Satz)Zeichen!
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„Mensch, werde wesentlich!“ (Angelus Silesius)

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Da in meinem ersten Beitrag heute bereits ein Heiligenschein auftaucht, geht es hier nochmal um eine staunenswerte und überraschende Erfahrung. Ich hatte gestern die Gelegenheit, in einem architektonisch christlichen Rahmen mich zu einem Menschen sagen zu hören, dass ich an gar nichts glaube, und gleichzeitig zweifellos eine zeitlose, heilige Stunde miterleben durfte, kein Zweifel. Noch am Nachmittag kam mir mein Geist irgendwie gelähmt/verdüstert/unkreativ vor und ich war froh zu hören, dass es außer einem Ablenkungs-Angebot an Vollmond auch noch eine angekündigte Mondfinsternis gab und fand den Gedanken tröstlich, dass das herannahende Mondverdunkelungs-Ereignis schon seine Schatten auf mich vorausgeworfen hatte. Da näherte sich der Abend, und Freunde von uns, die vor kurzem nach Mecklenburg-Vorpommern gezogen waren, waren zu einem Programm angereist, das eine Rezitation der Texte von Angelus Silesius beinhaltete sowie eine musikalische Darbietung des Ensembles „Ültramarine“, wahre Meister ihrer jeweiligen Kunst. Das Ganze fand in einer kleinen  Kirche unweit unseres Hauses statt, von der ich noch nie was gehört hatte. Ungefähr 50 Besucher/Innen, einfach und geschmackvoll gestaltete Einrichtung und ein Meer von brennenden Kerzenlichtern. Ich denke in letzter Zeit öfters mal daran, was die Religionen ausmacht und wie schwer es ist, einiges von dem, was sie anbieten, zu ersetzen… zum Beispiel diese Stille des Raumes, die den Geist in die Vertikale zieht. Die Bilder oben zeigen das schneckenartige Herumwandern meiner Augen, die über zwei dicke Bände mit dem Titel „Gotteslob“streifen…wow, dachte ich, wird Er doch mächtig gelobt, der Hohe Herr….und an einem gut geschmiedeten Nagel hing ein Objekt, das wohl nur hier zu finden ist, edel gearbeitet: ein Knieschutz zum Beten auf den Knieen. Beeindruckend. Der Diakon, der eine ganz passable Rede hielt, sprach von 300 Mitgliedern seiner Gemeinde, das schien mir viel. Ich kenne wenige im westlichen Raum, die beten und knien, aber das sagt ja auch nichts darüber aus. Anschließend an die Rede also das Programm….Gerne würde ich die Minute, die ich mit meinem Phone aufgenommen habe, als Klang hier einfügen, aber es würde wirklich der Erfahrung nicht gerecht werden. Es war wie eine himmlische Brücke, die sich aus den Zusammenklängen der Künstler und ihren sich zulauschenden Ohren bildete, und die Sängerin der Gruppe ermöglichte  einem, bzw mir, eine Auferstehung der Madonna zu visionieren, so rein und gleichzeitig mächtig war ihr Gesang, und ihre Bewegungen kamen aus der Tiefe ihrer eigenen Quelle…alle Fünf waren Meister ihrer Kunst, in spürbarer Bereitschaft und Ausrichtung zum Zusammenspiel, dem alles verbindenden, heiligen Ton, der das Antike, Archaische mühelos verbinden konnte mit dem Klang der Zeit. Das Programm hieß übrigens „Mensch, werde wesentlich!“, eine Zeile von Silesius. Die Mondfinsternis breitete sich in der Tat über unseren Köpfen aus und….na ja, ich muss ja nicht übertreiben, aber tatsächlich hatte ich den Gedanken, in Licht gebadet worden zu sein….durch Poesie! Durch Kunst! Durch Bereitstellung von Räumlichkeiten, die diesen Ereignissen Möglichkeit zur vollen Entfaltung bieten! Hier ein paar Angaben über das Konzert für Interessierte, es gibt auch eine CD…

Das Ukrainisch / Litauisch / Deutsche Quartett ULTRAMARINE
Ute Kaiser:  Verse und Texte des Dichters Angelus Silesius (1624-1677).

Uliana Horbachevska – Stimme/Gesang (Lemberg)
Petras Vysniauskas – Sopransaxophon (Vilnius)
Mark Tokar – Kontrabass (Kiew)
Klaus Kugel – Perkussion (Mecklenburg-Vorpommern)

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Laotse

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„Wir passen so natürlich in diese Schönheit rings um uns wie ein Baum oder ein Berg. Wenn wir nur immer so bleiben können, so werden wir ständig fühlen, dass es uns in all den großen Wechseln des Weltgeschehens gut geht. Es wurde so viel geredet über das menschliche Leben, und die Gebildeten haben so ein endloses Durcheinander von Theorien geschaffen! Und doch ist im innersten Kern alles so einfach wie die Natur. Alle Dinge sind gleich in Einfachheit. Nichts ist in Wirklichkeit verworren, so sehr es auch so scheinen mag. Alles bewegt sich sicher und unvermeidlich wie die Sonne.“

 

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Aus:  (Henri Borel) „Wu-Wei“ – Laotse als Wegweiser Drei Eichen Verlag

Zum Bild: wer weiß, wie er wirklich aussah, aber das ist eine der Varianten…

Friedrich Nietzsche „Nachtlied“

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O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht!
„Ich schlief, ich schlief –
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

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Dieses Lied aus dem Zarathustra kenne ich aus meiner Kindheit. Mein Vater hatte eine schöne Ausgabe hinterlassen, und es ist eines der ersten Bücher, die tiefe Bewegungen in mir auslösten. Ich liebe auch das von Mahler vertonte Lied. Wie wahr und stetig manche Dinge doch in einem weiter klingen und erhalten bleiben durch die Resonanz, die sie in uns auslösen bzw ausgelöst haben.

Joseph Beuys

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(Photo: aus meiner Zeitungsbildersammlung)

Lass dich fallen
lerne Schlangen beobachten,
pflanze unmögliche Gärten.
Lade jemanden Gefährlichen
zum Tee ein, mache kleine Zeichen,
die „Ja“ sagen und verteile
sie überall in deinem Haus.
Werde ein Freund von
Freiheit und Unsicherheit.
Freue dich auf Träume.
Weine bei Kinofilmen,
schaukle so hoch du kannst
mit deiner Schaukel bei Mondlicht.
Pflege verschiedene Stimmungen,
verweigere „verantwortlich zu sein“,
tue es aus Liebe.
Glaube an Zauberei,
lache eine Menge,
bade im Mondlicht.
Träume wilde, phantasievolle Träume,
zeichne auf die Wände.
Lies jeden Tag.
Stell dir vor,
du wärst verzaubert,
kichere mit Kindern,
höre alten Leuten zu.
Spiele mit allem,
unterhalte das Kind in dir,
du bist unschuldig.
Baue eine Burg aus Decken,
werde nass,
umarme Bäume,
schreibe Liebesbriefe.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Florian Goldberg: ‚Engel‘

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Die Narben, wo die Flügel saßen, heilen nicht.
Die Stümpfe drücken schmerzhaft auf dem Schulterblatt.
Doch gut umtucht. Damit es keiner sieht.

Von endlos leeren Himmeln matt,
saugen die Blicke an der Welt nach Licht.
Nach einem Zeichen, das sich nicht entzieht –

Als wär‘ da was! Als machten Lehm und Erde satt!
Es blieb das Lehnwort: Engel!
Das er behütet wie ein Kindheitslied.

 

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Florian Goldberg

Kaifi Azmi

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BRICH DAS BAND DER SITTE

FLIEHE VOM GEFÄNGNIS

DER TRADITIONEN

ERFREUE DICH NICHT

AN DEINER EIGENEN SCHWÄCHE

FLIEHE DIESE SCHEINBARE

EMPFINDLICHKEIT

VON DIESEN SELBSTBESCHWÖRENDEN

GELÜBDEN HALTE DICH FERN

– AUCH SIE SIND ANBINDUNG –

VON DER ANBINDUNG DER LIEBE FLIEHE

NICHT NUR DER DORN, AUCH

DIE BLUME VERWEICHLICHT!

 

ERHEBE DICH, MEINE LIEBE!

DU MUSST MIT MIR GEHEN!

 

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Kaifi Azmi ist bzw war ein indischer Poet, der in Urdu geschrieben hat. Ach wüsste man, vor allem bei der letzten Zeile, was er wirklich gesagt hat in seiner Sprache…oder befand er es einfach als rechtmäßig, seiner Liebe zu befehlen, mit ihm zu kommen…?

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Hilde Domin: ‚Abel steh auf‘

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Abel steh auf
es muss neu gespielt werden
täglich muss es neu gespielt werden
täglich muss die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muss ja sein können
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rückgängig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein

Täglich steh auf
damit wir es vor uns haben
dieses Ja ich bin hier
ich
dein Bruder

Damit die Kinder Abels
sich nicht mehr fürchten
weil Kain nicht Kain wird
Ich schreibe dies
ich ein Kind Abels
und fürchte mich täglich
vor der Antwort
die Luft in meiner Lunge wird weniger
wie ich auf die Antwort warte

Abel steh auf
damit es anders anfängt
zwischen uns allen

Die Feuer die brennen
das Feuer das brennt auf der Erde
soll das Feuer von Abel sein

Und am Schwanz der Raketen
sollen die Feuer von Abel sein

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Dieses Gedicht von Hilde Domin ist vor ein paar Tagen zu mir gekommen, als ich mich selbst mit der Frage „Wie war das eigentlich mit Kain und Abel und dem ersten Mord nach dem Ausschluss vom Paradies?“ beschäftigt habe. Wie aktuell und verbunden mit dem Weltgeschehen poetische Texte doch sein können!, und auch wenn die Reflektionen nicht gleich hilfreich sind, sind sie doch anregend, um auf tieferen Ebenen über die laufenden Geschehnisse nachzudenken. Mir selbst erschließen sich noch nicht die beiden letzten Zeilen des Textes…was meint sie mit „am Schwanz der Raketen sollen die Feuer von Abel sein?“

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Paul Klee/Walter Benjamin

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Über dieses Aquarell, das Paul Klee
1920 gemalt hat, schrieb der Philosoph
Walter Benjamin 1940:

„Es gibt ein Bild von Klee, das ‚Angelus Novus‘
heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht,
als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen,
worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein
Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt.
Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat
das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine
Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht
er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer
auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße
schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten
wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber
ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen
Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der
Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm
treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den
Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm
zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt
nennen, ist dieser Sturm.

 

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Ich kenne diesen Text schon eine ganze Weile und war immer mal wieder davon sehr berührt. Jetzt lese ich in einem kleinen, sehr schönen
Buch (bei Dumont) „Die Engel von Paul Klee“ die Geschichte zu diesem Bild, die ich leider hier nicht ganz wiedergeben kann. Klee hat das Bild wohl „Angelus Novus“ genannt, weil er Engel mehr als Zeitgenossen gesehen hat und nicht als Wesen der Vergangenheit. Benjamin hat das Bild gekauft, begleitet von dem Religionshistoriker Gershom Sholem. Vor der Flucht nach Spanien schneidet er das Bild, sein wichtigster Besitz, aus dem Rahmen und legt es in einen Koffer, den er bei Georges Bataille unterstellt. Benjamin stirbt auf der Flucht. Nach seinem Tod geht das Bild in den Besitz des Philosophen Theodor W. Adorno, der es dann Gershom Sholem vererbt. Was für wunderbare Geschichten es doch gibt auf dieser Erde!

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Weh unser guter Kaspar ist tot – Hans Arp

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weh unser guter kaspar ist tot.
wer verbirgt nun die brennende
fahne im wolkenzopf und schlägt
täglich ein schwarzes schnippchen.
wer dreht nun die kaffeemühle im
urfass.
wer lockt nun das idyllische reh aus
der versteinerten tüte.
wer schneuzt nun die parapluies
windeuter bienenväter ozonspindeln
und entgrätet die pyramiden.
weh weh weh unser guter kaspar ist
tot. der kaspar ist tot.
die heufische klappern herzzerreissend
vor leid in den glockenscheunen
wenn man seinen vornamen ausspricht.
darum seufze ich weiter seinen
familiennamen kaspar kaspar kaspar.
warum hast du uns verlassen. in
welche gestalt ist nun deine schöne
grosse seele gewandert. bist du ein
stern geworden oder eine kette aus
wasser an einem heissen wirbelwind
oder ein euter aus schwarzem licht oder
ein durchsichtiger ziegel an der stöhnenden
trommel des felsigen wesens.
jetzt vertrocknen unsere scheitel
und sohlen und die feen liegen halbverkohlt
auf dem scheiterhaufen.
jetzt donnert hinter der sonne  die
schwarze kegelbahn und keiner zieht
mehr die kompasse und die räder der
schiebkarren auf.
wer ist nun mit der phosphoreszierenden
ratte am einsamen barfüssigen
tisch.
wer verjagt nun den schirokkoteufel
wenn er die pferde verführen will.
wer erklärt uns die monogramme in
den sternen.
seine büste wird die kamine aller
wahrhaft edlen menschen zieren doch
das ist kein trost und schnupftabak
für einen totenkopf.

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Dieses Gedicht von Hans Arp habe ich einmal in einer Ausgabe der Kunstzeitschrift „du“ aus den achziger Jahren entdeckt und (leider) herausgenommen, sodass ich keine genaueren Angaben machen kann über das  Jahr und die Nummer. Es lag mir sofort am Herzen. Was ist das, was einem am Herzen liegt!? Man kann es schon mit Worten beschreiben, aber das muss ja nicht immer sein, wenn schon wie hier so ein schöner und poetischer Raum erschaffen wurde, der einen bereichert an Vorstellungen…..

Das Bild habe ich auf der Marmorplatte auf meinem Schreibtisch in den Farbklecksen dort entdeckt und herausgeholt mit ein paar Linien……..

Al-Halladsch

Lampion-Blume (13)

Die Ruhe und dann Schweigen, und dann
Stummheit, und Wissen, und dann Finden,
dann Begraben, und Erde, darauf Feuer,
dann ein Leuchten, und Kälte, dann ein Schatten,
und dann Sonne, und Felsgrund, und dann Flachland,
und dann Wüste, und Fluss, und dann ein Meer,
und dann Vertrocknen, und Rausch, und dann
Ernücht’rung, und dann Sehnsucht,
und Nähe, und dann Treffen, dann Vertrautheit,
Bedrängnis, dann Befreiung, dann Vernichtung,
und Trennung, dann Vereinung, dann Verlöschen,
Ergreifen, dann ein Rückstoß, dann Entrückung,
Beschreibung, dann Enthüllung, dann Bekleidung.

Nur Worte für die Menschen, die das Diesseits
gleichsetzen mit wertlosen Kupfermünzen,
und Stimmen hinter einer Tür; denn Worte
der Menschen sind, wenn man sich nähert, Murmeln.
Das Letzte doch, dess‘ sich ein Mensch erinnert,
wenn er das Ziel erreicht, ist „Ich“, „mein Glückslos.“

Denn die Geschöpfe sind der Wünsche Diener
und Gottes Wirklichkeit ist „Heiligkeit“.

 

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Ich liebe diesen Text und die Anekdoten  des „Sufi-Heiligen“ seit Jahren, habe ihn auswendig gelernt und einmal bei einer Performance auch unbedingt sprechen wollen und gesprochen, und immer bin ich in Versuchung geraten, die letzten Zeilen  wegzulassen oder sie zu verändern, weil sie der jeweiligen Mystik so sehr entsprechen, und ich aus der persönlichen Gottesbeziehung herausgewandert bin…doch was soll ich machen?
Ich liebe den Text und kann doch dem Dichter das Tor nicht verwehren, ohne das der Ball keine Bedeutung hätte.Das Buch, dem ich den Text entnommen habe, heißt
„O Leute, rettet mich vor Gott“,
erschienen in der Herder Bücherei.

Zwei Texte von Tamara Ralis

20160625_190354

 

Bei den Entwordenen am Dunkelquell

leg ab den letzten Dein-Beweis

auf jenen unvorhandenen Stein,

der alle Opfer wendet.

 

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Beide poetischen Texte sind von Tamara Ralis.Den ersten, der hier am Ort des Bildes steht, habe ich aus einem Mailbeitrag von ihr herausphotographiert. Es gibt Zeilen dieser befreundeten Poetin, die mir so am Herzen liegen, dass ich sie auf einmal auswendig kann. Immer wieder verändern sich auch meine Bezüge dazu, sind mal persönlich, mal politisch. Man erkennt den zeitlosen Text an seiner immer wieder aktuellen Wirksamkeit.

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Mystik

_-84

In den Totenhallen des Museums

erscheint ein Dervisch. Aus seinen Gewändern windet sich

in seelenwilder Ordnung unermesslicher Reichtum an Formeln

und das präzise Wesen von innerstem und äußerstem Wissen.

Unruhiges Flattern in den Holzaugen der Beflügelten, dokumentierter

Aufschrei gegen das Totgeglaubte. So, als gäbe es Wiederkehr,

wo es in Wirklichkeit nur „Hayula“ gibt, universelle

und unbehelligte Substanz.

Alien in action! „The radioactivity of nuclides“(!)

Das wandert mit sich allein, genau an der Grenze  des Vorführbaren,

wo Resonanz nicht mehr garantiert ist.

Daher diese vortreffliche Sicherheit am Ort,

wo es nun gar keine gibt,

auch kein Echo.

Ich, selbst aus der Dervisch-Gilde, zögere mit Recht im Bedenken,

ob es hier noch gemeinsames Essen gibt.

Glücklich kann sich schätzen, wer in der Leere

eine Antwort findet, und in den Augen

des Gepeinigten

keinen Zweifel.

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Dieser Text heisst „Mystik“ und

ist Sina Seifee gewidmet

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(Ich schätze mich wirklich glücklich, im Rahmen der „New Talents“

Kulturveranstaltung in Köln zwei Performances von Sina Seifee

gesehen zu haben, einmal im Literaturhaus und ein anderes Mal im Snütgen Museum –

und meinen Blog mit einer Empfehlung seiner Kunst zu beginnen. Kein Zweifel!, er gehört

zum Kreis der Liebenden, von dem Rumi gesprochen hat, und man kann sich auf seiner Website

über ihn informieren!!!)

 

 

 

Ansonsten: Ja, ich habe (m)einen Blog eröffnet. Das ist schön.

Mal sehen.