Kulisse

 

Lebt man in der Nähe eines orientalischen Bazaars, weiß man, was eine facettenreiche Geräuschkulisse ist. Lebt man dort länger, beginnt man gewissen Geräuschen hinterher zu forschen. Es kam auch schon vor, dass ich zu nächtlichster Stunde aufgestanden bin, um ein bestimmtes Geräusch zuordnen zu können. Einmal war ich mir lange sicher, eine Pappkarton kauende Kuh zu hören, aber jeden Morgen pünktlich um 3 Uhr 30, nein. Es war ein Mann, der, als erster auf der Bildfläche erscheinend, überall weggeworfene Kartons einsammelte und in einem riesigen Sack wegtransportierte. Dann schreit um 5 Uhr, und auch das pünktlich wie die Smartphone-Uhr, eine Frau, die um diese Zeit aus einem Hinterhaus ins Freie geführt wird von einer anderen Frau, die ständig auf sie einredet. Ich denke, es ist die Frau, die dann später so ziemlich den ganzen Tag auf einem Stein sitzt mit verblüffend leeren Augen. Dazwischen muss man sich endlose Hundegebellschlachten vorstellen. Der dann endlich menschenstill gewordene Teil der Nacht gehört den Hunden, die ihre Jagdreviere verteidigen und gerne in Rudeln einen Fremdling jagen. Dann dämmerts, und ein Mann betritt den noch verhältnismäßig passantenfreien Marktplatz. Man hört sein Erscheinen an seinen Worten, bzw einem einzigen Wort, das ist Babu. Baaaaaabbbbuuu!, schreit er von nun an regelmäßig, denn Babu darf ohne Leine herumtoben, solange der Verkehr noch überschaubar ist. Babu ist, das habe ich später draußen gelernt, ein riesiger weißer Kuschelhund, und er und sein Herrchen sind eins. Die sich dort langsam Ansammelnden schreien auch manchmal Baaabuuu, wenn Babu sich zu weit entfernt, denn jeder hat gern was zu tun, eine Aufgabe, in der er behilflich sein kann. Nun haben bereits die meisten Tempel ihre Lautsprecherorgien hinter sich, und man ahnt mit der Zeit, dass es sich hier nicht um aufrecht sitzende Männer mit großer Insichgekehrtheit handelt, sondern um Hände, die auf einen Knopf drücken zur als heilig gepriesenen Zeit,, und die einst für die Ewigkeit gewählte Musik-oder Sprechnummer läuft ab. Interessant auch, dass man manche Geräusche einfach aufhört zu hören. So hört man die tägliche Soundkulisse ja auch nicht jeden Tag, und auch nicht auf diesselbe Weise. Es ist vermutlich das Bewusstgemachte, das dann gespeichert wird und sich beliebig meldet. Ach ja, das Hupen, das fängt auch sehr früh an, gnadenloses Gehupe, denn ohne Hupen kämen hier auf den Straßen sehr viel mehr Menschen ums Leben. Ja, die Motorräder. Da strömen sie alle aus den Häusern und Gassen durch den Bazaar, nur weg von zuhause ins wichtige Irgendwo. Dann laüft das Spiel ab mit seiner aus dem Zusammensein geborenen Geräuschkulisse. Am See, ein paar Meter weiter, immer noch Stille.

Das Bild zeigt ein weggelegtes und dann näher betrachtetes
Pinselabwischtuch.

zaubern

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, wo ich mich sagen hörte: ich glaube an nichts. Mein System schaltete sofort auf Überprüfung um. War es ein leerer, eitler Satz, oder sagte da was Wahres aus, dem ich Zugang gewähren musste?. Auf jeden Fall überraschte es mich, wobei mir Überraschungen zusagen, da ich den Begriff auch mit ‚Leben‘ ersetzen könnte. Dann suchte ich was, an was ich glaube und viellecht versäumt hatte, es zu sehen. Das. Wort ‚glaubwürdig‘ finde ich sehr passend, wenn es passt, aber dann…würdig welchen Glaubens? Glauben heißt hier wohl mehr ‚vertrauen‘, ein Mensch z.B., dem man Glauben schenken kann, der  einem also vertrauenswürdig vorkommt. Man weiß, dass das leicht zu Täuschingen führen kann, denn jede/r bindet ja seinen Glauben in d a s ein, was er gerne sieht oder erwartet, Das führt wiederum oft zu Enttäuschungen, und enttäuschen ist doch genau d a s , was Glauben nicht kann, nämlich die Täuschung entdecken und aufdecken, da sind wir im „gyan“, Wissen auf Hindi. Die klugen Inder haben sehr feine Unterscheidungen erzeugt, die ihnen allerdings zur Zeit nicht immer helfen. Sie haben z.B. unterschieden zwischen Anbetung und Wissen, beides aufwendig in Zeit und Raum, Dann gibt es bereits existierendes Wissens, das sich ja jeder nach Wunsch und Willen aneignen kann, und dann kosmische Konzentrationen des Gewussten, wie Zen oder Raj Yoga, wo davon ausgegangen wird, dass die geistigen Prozesse nicht als Nebensache betrieben werden oder etwas sind, was man mal ausprobieren möchte, sondern, die eigene Existenz nimmt eine Richtung an, die auf ein Zurück verzichten muss,  ganz einfach deshalb, weil sie es nicht mehr kann. Dann kann man den Glauben hinter sich lassen, nicht ohne durch gewisse Erschütterungen darüber zu gehen, was um Himmels Willen man ales bereit war, zu glauben. Der Vergleich mit Opium ist gar nicht so schlecht, denn man kann beobachten, dass, je dringlicher die Zeit ein Erwachen erfordert, desto suchterzeugender wirken die leeren Rituale des Glaubens. Nimmt man die ebenfalls suchterzeugende Handhabung des Smartphones dazu, kann von nichts mehr Verlässlichem ausgehen.  Ich sehe, dass die meisten Inder da noch locker mitschwingen, denn ihr Himmelreich ist praktisch gebunkert, der Rest ist Glaubens-und Traditionsroutine. Auch wird durch das Denken nicht die Seinsfrage entschieden, obwohl Denken fürwahr unerlässlich ist, wenn man im Auge behält, das auch Wissen, in welchem Kontext auch immer erforscht, eine Grenze bietet. Sein an sich muss der inhärenten Essenz gemäß weder habbar noch wissbar sein. Alles, was mit sich selbst verbunden ist, kann weder habbar noch wissbar sein, das würde die Sache verfehlen und verfehlt sie auch meistens. Nun kommt nämlich der wahre Zaubertrick, der, wie alle guten Zaubertricks, eine Transzendenz des Bewusstseins enthält. Wenn man Glück hat, zieht einen das absolut Wissenslose hinein in den Strudel des Wurmlochs, und wenn diese Reise von Überleben gekürt ist, dann strömt tatsächlich alles weiter wie zuvor. ‚ Es ist nun bewiesen‘, sagte doch neulich der Verrückte in der Weltsprache, ‚dass Aliens gelandet sind“. Vielleicht sind es aber wir, die heimischen Planetarier, die zurückkehren zu uns selbst.

Strom


 

Da sind sie, die Pelikane, näher konnte sie mein Smartphone leider nicht bringen. Man stößt auf Begrenzungen,  kein Zweifel. Als ich das Hindi Wort für sie erfrage, sagt jemand „Siberian“. Es wird angenommen, dass sie aus Sibirien sind, der Sadhu meint, sie seien aus Afrika. Dann weiß man, dass es nicht wirklich einen Unterschied macht, wo sie herkommen, denn sie sind da und gleiten während des Morgentees in höchst eleganten Formationen an unseren Augen vorbei wie etwas Hellsichtiges, dann auch sekundenlang denkt man sich hinein in den organischen Tanz, der einen mitfühlen lässt. Als ich zurückkehre an meinen Wohnort, gibt es keinen Strom. Das ist wahrlich verwunderlich, dass ein Land Atomwaffen haben kann und in nahezu jeder Hand liegt ein selfieparates Phone, dann kein Strom zum Chargen etc.! 200 Männer auf Motořrädern sind schon mal zum Elektrizitätswerk gebrummt, um zu meutern. Na, wenn das nichts bringt, und siehe da, es brachte nichts.Wahrscheinlich würden 200 Frauen auf Royal Enfields auch nichts bewirken, vielleicht eher auf Elefanten, also eine Elefantendemo gegen den Stomabbruch. Ich sitze derweilen hier und tippe in die Mini-Tastatur des Phones, mit einem Finger, versteht sich. Das habe ich in Portugal gelernt, als mein Reisecomputer den erwünschten Dienst versagte, ich aber nicht klein beigeben wollte. Schließlich auferlegt man sich gewisse tägliche Durchführungen, die in der aktuellen Situation sogar den gebannten Blick von der Glühbirne lösen können…wie gesagt, das kann Stunden dauern und man lernt mit der Zeit, potentielle Gereiztheiten zu ‚morphen‘, was wiederum eine Gelegenheit bietet, das schöne Wort ein weiteres Mal einzufügen. Was will man mehr (in so einer Stunde).!?

rückblickend

Mir ist aufgefallen, was Rückblicken betrifft, dass ich es ähnlich mache wie (meine) Ordnungen herstellen. Es war nicht schlecht, über Jahre hinweg während der praktischen Ausbildung in Meditation und Yoga, einen einzigen Tag zu haben (Mittwoch), wo alles geputzt wurde gemäß einer indischen Achtung vor dem Donnerstag. Man gewöhnt sich ja wirklich an alles, was einem, zumindest eine Weile, logisch und sinnvoll erscheint. Auf meinen eigenen Wegen habe ich dann immer mehr beobachtet, dass sich entwickelt, was mir selbst entspricht. So ordnet meine Hand gerne während des Hin-und Hergehens, was in einfachster Weise vorgegeben ist, nämlich die eigene, bereits erschaffene Ordnung, die die Zufügung der Objekte vereinfacht und dadurch zeitsparend wirkt. Wenn nun etwas Zurückliegendes in der eigenen Geschichte vor dem Auge auftaucht, ist es sinnvoll, sich entweder zu widmen oder aber das Gebilde vorüberziehen zu lassen, auch wenn es erfüllt ist von vergangener Freude und nicht von abgrundtiefem Leid, dessen nur der Mensch fähig ist. Beim Herumwandern mit dem Thema (wo liegt die Verantwortung, wenn Vergangenes sich meldet) auf meiner Morgenrunde, schweifte mein Blick über den See und fing an zu starren. Was war das, was sich da bewegte…das waren doch nicht die üblichen 37 Gänse, die sonst hier herumschwimmen. Kein Zweifel, es waren Pelikane, große, weiße, schwerwiegende Vögel, die dem Geist einen ungeheuren Auftrieb geben können. Vor Jahren hatten sie sich schon einmal auf dem See niedergelassen, und ich erlaubte mir eine Art Berauschung, die mich ergreifen kann, wenn ich mich in den Zeuginnenstand gerufen fühle: Seht diese Vögel und ihre ergreifende Schönheit!, zum Beispiel. Ich ging damals zu Freunden, um sie an den See zu locken, aber alle waren zu beschäftigt. Aber ich gab mir selbst Freizeit und saß täglich stundenlang am See und schaute dem seltenen Genuss gründlich zu. Der ganze See war verwandelt durch ihre riesige Präsenz und ihre mächtigen Flügelschläge. Wem soll ich danken, dass ich mein Leben so eingerichtet habe, dass ich meine äußeren Augen einerseits herumschweifen lassen kann in freudiger Ungebundenheit, und sie dann tief im Staunen sich verankern lasse, als wäre ich gerade erwacht zu genauerem Sehen. Gut, dann stehe ich halt herum eines Tages mit schneeweißem Haar und einem langen Stab, und weiß zumindest selbst, welcher Reichtum an Schönem und Sehenswertem in mir gespeichert ist. Und obwohl ich, bei Zeus und Shani (Saturn), eine gute Kassandra hätte werden können, hat es sich doch anders ergeben. So kann ich nichts Beunruhigendes finden in der menschlichen Fähigkeit der Zeitenwanderungen, und doch distanziert sich etwas in mir vom Drang nach genetischem Gedächtnis, dem ich mich nicht grundsätzlich verpflichtet fühle. Ich denke, es hängt vom Bewusstsein ab darüber, dass wir unsere Erfahrungen (zu einem gewissen Grad)  gestalten können. Das macht das ganze Erleben für einen selbst erst lebendig.

Robert Frost

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Der unbegangene Weg
(nachgedichtet von Paul Celan)

Zwei Straßen gingen ab im gelben Wald,
Und leider konnte ich nicht beide reisen,
Da ich nur einer war; ich stand noch lang
Und sah noch nach, so weit es ging, der einen
Bis sie im Unterholz verschwand;

Und nahm die andre, grad so schön gelegen,
Die vielleicht einen bessern Weg versprach,
Denn grasbewachsen kam sie mir entgegen;
Jedoch, so weit es den Verkehr betraf,
So schienen beide gleichsam ausgetreten,

An jenem Morgen lagen beide da
Mit frischen Blättern, noch nicht schwarz getreten.
Hob mir die eine auf für’n andern Tag!
Doch wusste ich, wie’s meist so geht mit Wegen,
Ob ich je wiederkäm, war zweifelhaft.

Es könnte sein, dass ich dies seufzend sage,
Wenn Jahre und Jahrzehnte fortgeschritten:
Zwei Straßen gingen ab im Wald, und da –
Wählte ich jene, die nicht oft beschritten,
Und das hat allen Unterschied gemacht.

 

überqueren

Vor ein paar Wochen gelang es mir eines Morgens, unbeobachtet ein Bild von dem Sadhu zu machen, wenn auch nur von hinten, wie man oben rechts im Bild sieht. Er ist jemand, den ich jeden Tag sehe, denn er verlässt schon seit Jahren seinen Platz nur noch für’s Allernötigste. Seine kleine Hütte, extra für ihn gebaut, ist angefüllt mit Zeug, das alles die gleiche Farbe zu haben scheint: die vergilbte Schönheit vom Feuerrauch gleichermaßen behandelte Objekte, die sich alle einem Besitzanspruch entzogen hatten. Der Baba, wie diese „Mönche“ hier meist geannt werden, lag oft in der Tür seiner Behausung und sonnte sich. Oft war er eingeschlafen oder zählte sein Geld, das die vielen Pilger bei ihm ließen. Sein Körper nur noch Haut und Knochen, aber die Haut darüber fiel auf durch einen tiefen Glanz, die das ganze Gerüst beleuchtete, nur bekleidet mit einem kleinen Tuch und einem größeren zum Umlegen, denn er gehörte nicht zu den Nackten, die sich mit Asche kleiden. Gestern kam ich vorbei und blieb zusammen mit Anderen stehen, denn er lag und sah krank aus. Fieber, sagten sie. Er wurde von zwei Männern mit Senföl massiert, aber es ging ihm offensichtlich nicht gut, ich ging weiter. Heute war die Tür geschlossen. Ich wusste sofort, dass er gegangen war. Um 11 Uhr, erzählte mir der nächststehende Brahmane, eine Stunde nach meinem Vorübergehen. Schon fingen die Legenden an, wieviel Jahre über hundert er war, und wer kann es wissen. Die Mütter dieser Generation erinnern sich an ihre Geburtsdaten höchstens, wenn der Mond schien oder irgendein besonderer Feiertag war, als alle feierten, nur sie musste gebären. Die Szene um die Hütte des Sadhu war wie leergefegt. Ich werde ihn vermissen, sagte ich zu Ashok, da war er jeden Tag und man konnte sein Alter bewundern. Doch ich denke auch, dass bei so einem ganz natürlichen Abgang wegen hohem Alter nicht so viele Emotionen auftauchen. Man freut sich, wenn jemand es gut geschafft hat und vor dem Abgang nicht so viel leiden musste. Die Nachricht von seinem Tod war aber heute für mich schon die zweite. Als ich das Bild von dem Hund oben machte, der im Tempelhof wohnt, zeigte der Priester auf eine kleine Familie, die am See stand und die Asche ihrer dreijährigen Tochter in den See versenkte. Er war auf dem Weg, die Rituale für sie einzuleiten. Drei Jahre!, das ist nicht viel, aber es ist trotzdem ein ganzes Leben. Beide, das Kind und der Sadhu, werden nicht verbrannt, sondern in die Erde gelegt. Die Eine, weil sie noch ein Kind war, und der Sadhu wurde in „Samadhi“ gesetzt (ein das Körperliche transzendierenden Bewusstseinszustand) als jemand, der einen guten Weg hinter sich und dadurch auch vor sich hat. Wir sehen einen Nachen sich zeitlupenmäßig durch die Dunstgefilde der scheinbaren Ewigkeit bewegen. Am Bug sitzt ein Tempelhund und wittert die greifbare Nähe des Ungewissen.

morphing

Die Regenmassen sind wieder wie ein Gespenst verschwunden und lassen auch originelle Spuren zurück, zum Beispiel oben im Bild bei Krishna, dem kleinen Amor, der hier beim heimlichen Joghurtschlecken manifestiert  und nun von der Natur etwas gemorpht (vom Englischen „morphing“-verändern) wurde. Bei meinem Rundgang sehe ich, dass neue, riesengroße Masten mit Lichtflutern aufgestellt wurden, die so hässlich sind, dass man es nicht fassen kann, warum das sein muss. Es gab auch schon künstliche Bäume, die megateuer waren und von deren Zweigen nur noch Drähte zu sehen sind. Also, um nochmals ins Einst zu wandern, so war ich mir dort immer mal wieder bewusst, dass ich das Glück hatte, diese Kultur noch als eine organische Einheit zu erleben, auch wenn die Zeichen sich häuften, dass auch diese Spuren sich bald verwischen würden, und eine neue Zeit anbrach, für die die Inder den geistreichen Begriff „Duplicate Maya“ prägten. Das heißt, Maya, die flüchtigen und daher unwirklichen Manifestationen des Illusionären als Drama konstanter Veränderungen, und unfassbar in seiner Ganzheit. Diese Maya ist ja u.a.auch ein organischer Vorgang, der aus sich selbst heraus entsteht durch Einwirkung und Zusammenspiel mit den Akteuren und Akteurinnen des Spiels. Wenn dieses natürliche Zusammenspiel aber von seiner inneren Struktur her eine Anhäufung unguter Elemente produziert, dann können wir das Ergebnis  ‚duplicate Maya‘ nennen. Zeichen eines zerstörerischen Aspektes, der sich gegen sich selbst wendet. Man kann es an einem ganzen Volk sehen, wenn es eintritt, dieses schleichende Gift der Unverbundenheit mit sich selbst, das heißt des Einzelnen, das zu einer Unverbundenheit mit den Anderen führt und zu einer potentiellen Gefühllosigkeit. Ist man sich des Ausmaßes dieser zersetzenden Tendenzen bewusst, kann man verstehen, dass so eine Zeit auch als Zeit des Erwachens gilt. Es ist die Tiefe des Erschreckens und das Loslassen jeglicher Vorstellung einer vorhandenen „Normalität“, die einem einen Freiraum eröffnen kann, sich in angemessenem Verhalten zu schulen und sich ohne Einschränkung der Steuerung des eigenen Systems anzuvertrauen. Selbst die als zuvor angestrebten Praktiken des „Gutseins“ können gefährliche Fixierungen bilden, die erneut Spiralen der falschen Selbstspiegelungen und Identitäten produzieren. Das führt oft zu Fehlern, die sich als Normen einschleichen und niederlassen. Keiner weiß mehr, warum etwas da ist und wer es befohlen hat Irgendwann gehen die Rechte des Mitspielens verloren. Man schaut nur noch zu, wie Juden mit gelben Sternen an der Kleidung angsterfüllt durch die Gegend hasten. Man weiß nicht mehr, wie das alles geschehen konnte. Auch da gab es Erwachen. aber spät, viel zu spät. Was ist Erwachen? Erwachen von was? Und wer oder was war man, bevor man erwacht? Fakt ist: sucht man ernsthaft nach für einen selbst glaubwürdiger Verbindung und Nähe zu sich, kann man sie finden und die Furcht verlieren vor der Steuerung, denn auch hier gilt natürlich, dass Übung den Meister macht.

ghosts

Wenn im Januar die Tage anbrechen, meistens drei,  wo die Sonne sich nicht durchsetzen kann, ist es besser, draußen nicht unnötig Zeit zu verbringen Ein schaudriges Schütteln geht durch die Menge, und man kann noch einen Hauch spüren von dem Zusammenhalt, der einmal war unter ihnen, und nun sind es eher die Geister, die umherirren, und es wird klar, wie viele es gibt unter Einheimischen, die keinen angenehmen Ort haben, an den sie sich zurückziehen können vom kollektiven Schaudern. Ich wollte das Bild eigentlich „Das Füttern der Gelüste“ nennen, aber den Fütterer habe ich entfernt und nur die Geister gelassen. Und in der Tat, wenn man die Geister ruft, dann kommen sie. Geister der Vergangenheit, was sind das für Geister. Es kontempliert weiter vor mich hin. Automatisch taucht mehr Material auf. Wie ist denn jemand, den man jahrelang gut kannte, eigentlich gestorben? Wer war bei ihm? Und welcher Geist interessiert sich so für eine bestimmte Zeit, dass es ihn oder sie anregt, einen Film zu machen oder ein Buch zu schreiben, und auf einmal trete ich dort auf als jemand, über die man mal nachgeforscht hat. Menschen werden interviewt, die die Person kannten, nämlich mich, und die sagen, an was sie sich erinnern: wie man war, und was man trug, und wo die letzte Spur sich verlor für die Nachforschenden. Muse soll ich gewesen sein, und dann eines schönen Tages Nonne geworden, ach nee, wusste ich gar nicht. So kann es sein, dass man seinem eigenen Geist  begegnet. Da ich ja noch anwesend bin, kann ich mich natürlich auf ein Gespräch mit ihm einlassen. Auch kann es gravierende Unterschiede geben zwischen Ghost und Geist. Jetzt hat draußen heftiger Regen begonnen, der wird den unermesslichen Dreck aus dem mehr oder minder Verborgenen holen und durch den Bazaar schwemmen,  und da! ein Blitz und grollender Donner, wie kann ich da eine Unterhaltung führen, denn nun, da ist es schon, geht das Licht aus, und nun heißt es umschalten auf die alten Weisheiten, denn das wird heute nichts mit dem entspannten und konzentrierten Kontemplieren, hier geht’s eher ums Durchhalten. Ich schaue hinaus auf das Massenbad. Doch, überall haben sich Grüppchen gebildet, und die Teemacher haben zum Glück entweder Gas oder Kerosinöfchen, das ist auch was Schönes, was man dann machen kann: Chai trinken. Und wie R.D. Laing vielleicht für solche Momente bemerkt hat: ‚Every time there is an emergency, we look into each others eyes…..‘ Und was einem eben noch so alles einfallen könnte, wenn man nicht wie ich gerade die Message bekommt, man soll das Kabel an den Strom anschließen. Wir aber wissen hier im Dorf, wie lange das dauern kann, das mit dem Strom. Immerhin hat es der Zeitungsmann, ein Sikh, noch geschafft, vor der Überschwemmung zu liefern. Mal schauen, was es in der Welt ansonsten noch gibt. Schließlich bin ich nicht der Sklave meines Geistes, isn’t it?

 

 

erschüttern

 *

Dass Indien einen u.a. regelmäßig tief erschüttert, liegt natürlich auch daran, dass sich so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann oder bislang nicht vorstellen konnte, vor einem abspielt. Abspielen ist hier das entsprechende Wort, denn es passt zum indischen Konzept des „Großen Spiels“, Maha Lila, mit dem man das dramatische Treiben des Menschenstromes einigermaßen fassbar machen kann. Es gefällt mir persönlich besser als „Baghwan ka Lila“, also das „Spiel Gottes“, wo man dem Unsichtbaren das ganze Spektakel aufbürdet, so als hätte Er/Sie/Es nichts Besseres auf dem Spielplan als das, was sich auf dem Planeten generell darbietet – abgesehen davon, dass man auch oft genug in tiefes Staunen verfallen kann ob der vorhandenen Schönheit und ihrem ebenso täglich verfügbaren Glanz. Aber es ist auch kein Zweifel, dass ich in einer deutschen Stadt z.B., wenn ich mich mal aus irgendwelchen Gründen dort vorfinde, mich zumindest auf den ersten Blick unter Aucheinkaufenden vorfinde, die mit Tüten und Taschen very busy hin-und hergehen, so als hätte das Leben vor allem Läden zu bieten, durch die man sein Innenleben erweitern kann. Die indischen Straßen, gefürchtet und belebt von allen, kann man nur das nackte Dasein nennen. Nichts bleibt einem erspart an vorübergleitendem Prunk und offen sichtlicher Grausamkeit. Nun hatte ich gestern dieses Erlebnis. Ich stand bei OmJi, dem einzigen und ehrenwerten Pakoraverkäufer, von dessen Räderwagen ich manchmal Pakoras zu Lali mitnehme, die wir dann bei Chai zu uns nehmen. Ich warte da also ein bisschen, bis sie schön dunkel gebrutzelt sind, dann die grüne Soße dazu mit einem Schuss Zitrone. Da sehe ich gegenüber ein groteskes Geschöpf sein Unwesen treiben, während die Umstehenden emotionslos darauf starren. Das Wesen fuchtelt irre mit einem Büschel aus Pfauenfedern herum, und langsam fokussiert sich mein Blick und ich denke….das ist doch…Ich frage OmJi, aber der starrt ins Leere und schweigt wie einst sein Vater. Ich gehe hinüber zum nächstbesten Brahmanen, die immer alles wissen und sage…das ist doch nicht Mukesh…??? Doch, er ist es. Der Angesprochene erklärt mir, dass Mukesh jetzt so viel Heroin nimmt, dass er nicht mehr zu Sinnen kommt, was Lali mit ihrem eigenen Begriff „out of human“ nennt, da auch ihr Bruder im Junk verloren ging. Alle betrachten, wie gesagt, emotionslos das letzte Kapitel dieses Lebens, und ich gehe erschüttert weiter. Ich kenne seine Geschichte. Er ist schwul und hatte jahrelang einen Liebhaber aus Canada, bis ihn die Familie gezwungen hat zu heiraten. Man kann schon sagen, dass die beiden Männer durch Abscheu permanent gequält wurden, dann war Mukesh allein mit dem, was man hier gerne als heilbares Leiden sieht. Dann bin ich zu seinem Bruder, einem Priester. Warum holt ihr ihn da nicht raus, frage ich, er ist doch noch jung. Der schüttelt müde den Kopf und erklärt, wieviel schon getan und gelitten und nun aufgegeben wurde. (Nur nicht sein gelassen). Nachdenklich sitze ich bei Lali. Sie erzählt mir, dass Mukesh zwei Kinder hat und seine Frau irgendeiner schrecklichen Arbeit von Tür zu Tür nachgeht, um ihre Kinder durchzubringen. Ich habe gelernt, das Gefühl der Ohnmacht als wesentlich zu empfinden. Was ich gefährlich finde, ist die Gefühllosigkeit, die sich in diesem Drama gerne anbietet, weil so ziemlich alle von der Realität ihres Schicksals überfordert sind. Was allerdings mir die Teilnahme an und die Distanz zu diesen Schicksalen schenkt ist die dringende Notwendigkeit, für sich selbst eine innere Ausgleichung zu finden, die weder ertarrt ist noch in zu großer Bereitschaft, sich permanent an den Geschichten aufzureiben. Man muss die Ohnmacht aushalten können, vor allem aber die Liebe nicht verlieren. Ich danke dem Land und allen Wesen, die sich darin bewegen, dass ich immer noch teilhaben kann am Lernprozess dieser Kunst, aus deren lebendiger Quelle vermutlich alle meditativen Ideen entsprungen sind. Vielleicht erscheinem einem diese exportierten Lehren im Westen deshalb so künstlich und bedenklich in ihrer imaginierten Wirksamkeit.

Die Illustration ist aus der Times.

erinnern

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Manchmal kann man auf überraschende Weise auf sich selbst treffen. Es gibt z.B. die Pappkisten, in denen sich die Beweise des vergangenen Lebens ansammeln und dort häufig genug zu geistigem Staub werden. Man kann sich schwer von ihnen trennen, weil man in etwas dumpfer Weise vermutet, eines Tages doch noch hineinzuschauen und was auch immer dadurch zu erleben, was ja schon durchlebt wurde, nun aber vielleicht eine Neugier entfacht, ob man wohl wieder erkennt, wer man war, beziehungsweise immer noch ist. Als wir noch Briefe schrieben, die z.B. von Indien nach Deutschland gut ihre zehn Tage brauchen konnten und unter Umständen auch als leere Kuverts ankamen, wurden sie natürlich auch gesammelt (Ahh!, der Geruch des Papieres!), und automatisch wurde die Fähigkeit des Menschen kultiviert, sich  aus dem Nu heraus zu bewegen und ihn in andere Zeiträume zu transportieren. Man könnte zum Beispiel auch zur eigenen Unterhaltung irgendwo im inneren Raum einen riesigen Dachboden erschaffen, wo man (kurz) Männer und Frauen hineinprojeziert, die versunken und entgeistert in ihren Briefbündeln wühlen. Mit den Smartphones sorgt man sich ja eher um unknackbare Kennworte, wenn z.B.Vergangenes für Andere nicht zugänglich sein soll. Wem kann man trauen, nicht von Neugier überwältigt zu werden? Nun ist ja die stets hochaktuelle Frage: wer war und ist man denn so? Erkennt man sich wieder in den unendlichen Geschichten und Räumen und Gärten und Palästen und Hütten und Tempeln und Ländern und Wäldern und Städten und Gassen etc, in denen man sich alleine und mit Anderen bewegt hat. Wer waren denn die Anderen für einen, und wer war man für sie? Oder man kann die Erinerung an Vergangenes ganz neu erfahren, also im Kontext des Jetztseins. Aber, da das Entschwundene bereits gelebt wurde, ist man nun beschäftigt mit den trickreichen Formen der Erinnerung. Stößt man aber im Jetzt auf Unwegsames, das einen an der Lebendigkeit des eigenen Stromes hindert, ist es ratsam, sich Hilfe zu suchen bei Menschen, die sich Kenntnis angeeignet haben über den Umgang mit psychischen Hindernissen. Ich habe selbst nach Jahren von meditativer Praxis verstanden, wie unerlässlich  für westliche Menschen es ist, sich den komplexen Vorgängen der eigenen Psyche zumindest zeitweise intensiv zu widmen. Ich danke auch gerne für alle Hilfe, die ich diesbezüglich erhalten habe. Nun wurde ich gestern durch einen Anruf aus Boston, wo es Abend ist bei meinem Morgen, auf einen Link hingewiesen, wo sich ein Photo von mir befand, das ich noch nie gesehen hatte und habe mir erlaubt, es im heutigen Blog erscheinen zu lassen. Der Anrufer aus Boston ist der Sohn des Mannes, der einmal mein Weggefährte war, und wir kamen zusammen aus New York nach Indien. Er war u.a. ein besessener Photograph, und mehr als tausend Photos von mir liegen irgendwo in Sammlungen herum, und selbst wenn ich wollte, hätte ich keinen Zugang mehr zu ihnen, denn der Bildschöpfer lebt nicht mehr, und seine Bilder waren hoch im Kurs. Aus einer Zeit, die wir für unsterblich hielten, und an die sich kaum einer mehr erinnert. Aber was weiß man schon von dem, an was sich ein Mensch erinnert. Manchmal weht durch einen sich gerade im Wachwerden befindlichen Geist eine Erinnerung, und man geht ein bisschen hinein und schaut herum. Meine Güte, denke ich dann, ich könnte von dieser kleinen Ecke im Korridor des Seins schon ein Büchlein füllen, wäre ich eine kompetente Erinnerungserzählerin. Ich schaue das Bild an und habe keine Ahnung, wo und wann und wie das war. Keiner weiß es, und was würde es ändern, wenn ich es erinnern könnte. Es war, was es war, das ist alles, was ich sehen kann. Das war ich, kein Zweifel. Und dabei wird es wohl bleiben, solange es dauert, und bis „es“ günstigerweise ganz und gar zum Ich geworden, oder vielleicht gar darüber hinausgewandert ist.

fremd

Das Thema „fremd“ taucht ja zwischen dem Westen und dem Osten häufig auf, vor allem im Kontext mit Indien, und ich erinnere mich sehr gut, wie schwierig so einiges zu vermitteln war an den Erfahrungen, vielleicht auch alles, als es sich ergab, dass die Reise immer wieder zwischen den beiden Welten stattfand. Es ist ja auch erst in dieser Zeit, dass sich Gruppen von Touristen gemeinsam durch die Gassen wagen. Ob aus China oder Korea oder Deutschland oder wo auch immer her, sie haben alle diesen gemeinsamen Blick, in dem vor allem das Gefühl einer Fremdheit zu sehen ist. Es ist nicht so leicht, das Östliche zu durchdringen, weil es tatsächlich Jahre braucht, bis diese Durchdringung einer anderen Kultur, hat man lange genug durchgehalten, einem auf einmal, vorkommt wie das Eigene, was es ja dann auch sein kann und ist, hat man sich selbst nicht irgendwo im fremden Land stehen gelassen, weil man dachte, man kann das alles auf Indisch machen. Geh in/disch. Die Inder sind ein kultiviertes und freundliches Volk, und auch trotz der Schrecken, die sich hier in den Veränderungen zeigen, kann man diesen feinen und kultivierten Geist noch spüren, auch in dem Erwachen zu einer Welt, die sich mit diesem Geist immer schwerer verbinden lässt. Aber Fremdheit und Nähe sind tatsächlich Gefühle, die mit der eigenen Verbindung zur Welt etwas zu tun haben, Es gibt ja diese Mini-Anekdote von Indien, dass Menschen, die hereinkommen, es entweder lieben oder hassen. Als ich über die Grenze kam in Lahore, damals war die Reise über Land noch möglich, war ich hell begeistert. Alles, worauf mein Auge fiel, schien mir vertraut und anregend: das Chaos, die Ordnungen, die Gerüche, die Musik, die Menschen, alles von einer solchen Vielfalt, dass es war, als würde man in ein gutes Buch hineinwandern, das einem auf jeder Seite etwas Geheimnisvolles enthüllt, und man will nicht mehr ohne es sein. Wer hätte ahnen können, dass wir, die neuen Fremdlinge und Weltenwanderer, diese Inhalte, denen wir begegneten und auf völlig verschiedene Weisen umsetzten, nach und nach in den Westen tragen würden, wiederum in immer neuen Formen und Gruppen und Wissensverarbeitungen, sodass man davon ausgehen kann, dass die Aufenthalte in Indien Millionen von Leben grundlegend verändert haben. Früher dachte ich auch öfters, jeder Mensch müsste zumindest einmal seinen Fuß auf diese Erde setzen und schauen, ob er fleihen oder bleiben möchte im Land, das als Wiege der Menschheit gesehen wurde und vielleicht noch wird, oder ob es vielleicht eines Tages nach Qualen und Schmerzen des Reifeprozesses zurückfindet zu seinem ureigenen Ton. Das ist wahrlich befremdlich, was hier an Wissen täglich gemurmelt wird, und wie eine Leere sich ausbreitet in ein gefährliches Nichts hinein, das immer mehr getragen wird vom Haben und vom Habenwollen, und immer weniger vom Sein. Ich selbst bin meinem Schicksal zutiefst dankbar dafür, dass ich noch rechtzeitig aufnehmen konnte, was so reichhaltig vorhanden war von der natürlichen, vedischen Hochkultur, die einem alles abverlangte an geistigem Abenteuer. Ich selbst schätze jetzt eine gute, innere Ausgleichung an Nähe und Fremdheit, die mir emöglicht, ob allein oder mit Anderen, mich an meiner eigenen Gesellschaft und gleichermaßen an der Gesellschaft der Anderen zu erfreuen. In der indischen Schulung habe ich Menschen lieben gelernt. Und ja, manchmal ist es doch besser, auch ein Alien zu sein anstatt zu tun, als sei das Ganze einfach normal und gäbe keinerlei unlösbare Rätsel auf. Ich verneige mich vor dem Unlösbaren.

Christina Thürmer-Rohr

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Das einzige Gut liegt nicht vor uns, sondern ist
bereits da, hinter uns, neben uns, bei uns. Es ist
das Dasein selbst. Dieses haben wir mit der
Tatsache,  überhaupt zusammen mit Anderen
anwesend zu sein und aus unserer Weltzugehörigkeit
eine beherbergende Welt machen zu wollen. Dieses
Dasein ist kein Für-Sich-Sein und kein
Besitztum. Es ist eine Tätigkeit, die sich auf die mit
Anderen gemeinsame Welt richtet. Es ist die Tätigkeit
der Sorge um die Welt, deren Bedeutsamkeit ihr die
Menschen selbst versagen.

warum

Vor und während der großen westlichen Pilger-und Lernenwoll-Invasion in Indien fingen die erstaunten Fragen auch an uns an, zum Beispiel „warum immer warum fragen“. Wir kannten ja das kollektive Seinsgefühl im Ungewissen nun gar nicht, oder wenn, dann nur nachgeliefert aus den Nachkriegserzählungen, wenn ab und an auch menschliche Anekdoten ans Ohr kamen und nicht nur die Aufgewühltheit großer, schrecklicher Ereignisse, mit denen man nichts mehr zu tun haben wollte. Auch in unserer bzw. meiner Meditationsausbildung wurde ich immer wieder darauf aufmerksam, wie sinnlos Hindus das Warum empfanden. Zum Glück lässt sich auch der forschende Geist ungern kirre machen, und so gab es weiterhin Überlebende und reichlich Überlegende. Manchmal bietet der Humor sich an und holt einen aus dem Labyrinth des Widerspruchs direkt hinein in das, was man sich selbst zutraut zu denken und zu sein. Mein derzeitiges Warum ist nun einerseits auch eingebettet in den indischen Kosmos, aber andrerseits sprengt es ihn auf dringende Weise. Das Bild da oben, das ich eines Morgens schnell, weil unbemerkt, geknipst habe, scheint mir ein gutes Beispiel für mein Warum. Warum also ist es ohne begleitenden Gott undenkbar, dass Menschen z.B. einfach einen Baum so schön finden, dass sie aus lauter Freude seine Anwesenheit mit einer kleinen Flamme und Rosen küren und dadurch nicht vergessen, wie dankbar wir ihnen sein können, so, als wäre das nicht genug. Nein, ein Gott muss her, und der muss auch was für einen tun: endlich einen Sohn schenken zum Beispiel (die Schnüre), oder was auch immer Menschen von den Göttern wollen, die sie erschaffen haben, um Grund für Verbeugung und Züchtigung zu haben. Ein indischer Lehrer hat behauptet, die Inder wüssten, dass sie die Götter selbst erschaffen haben. Das ist ein interessanter Gedanke, der vielleicht erklären könnte, warum hier unter Gläubigen so locker mit dem Gottwerden umgegangen wird. Ich selbst wurde mal vor Jahren auf einen Gott hingewiesen, der hier in der Gegend auf einem Berg sitzen sollte, auch begleitete mich der Hinweiser dorthin. Dort wurde ich mit heiligen Süßigkeiten überschüttet, und als ich aufstand, um dem Gedöns zu entkommen, vergaß ich die Süßigkeiten, die zum greifbaren Schrecken der Anwesenden überall auf dem Boden herumkullerten.Noch heute freue ich mich, dass ich die Kraft hatte, einfach zu gehen, anstatt auf dem Boden vor dem Gott herumzukriechen. Es gab weitere Götter, und in der Tat, überall basteln sich immer noch meist bärtige Männer ihr eigenes Himmelreich, das schien und scheint keinen zu stören. Was mich stört, ist der Mangel an spürbarer Freundschaft und Liebe, den man meistens unter Zugehörigen irgendeiner spirituellen Zunft vorfindet. Zugehörig zu sein zu ganz klar definierten Kreisen, und getrennt vom Gedankengut Anderer ist ja vielleicht nichts Schlimmes, aber warum nimmt es so deutlich zu, wo wir doch als Menschheit jetzt m.E. das Aufeinanderzugehen brauchen, und das Interesse am Wohlbefinden der Anderen. Jetzt weiß ich auch, was „große Worte“ sind. Sie klingen groß, wenn man aus Erfahrung weiß, wie schwer das Einfache und Einleuchtende umzusetzen ist. Alles Gute, soll Laotse mal bemerkt haben, sei schwer zu erringen, alles Ungute mühelos. Hassen sei einfach, und lieben schwer. Warum also ist Lieben so schwer? Ist es schwer?

Da fällt mir ein Essay von Christina Thürmer-Rohr ein. Wo ist nur das Buch gelandet?

 

wundern

Ich muss gestehen, dass mir nicht nur dieser ständig alles Indische begleitende, surreale Hauch öfters mal bewusst zusagt, sondern ich werde auch sehr aufmerksam, wenn sich in einem Menschen ganz offensichtlich d a s manifestiert, was man unter „göttlichem Wahnsinn“ verstehen könnte, für das es auch einen Begriff gibt, „mast“, godmad. Ich kannte mal Einen, Manoj hieß er, dem hörte ich so gerne zu, dass mir für  eine Weile alle „normalen“ Gesprächsformen ermüdend vorkamen. Er erzählte immer lang und ausführlich von etwas, das keinerlei Sinn ergab, au ßer, dass er darin wohnte und nicht mehr heraus kam. Er strahlte mehr Freiheit und Schönheit aus als die meisten, die während dieser Monologe an uns vorüberliefen. Während er in dieser Zeit noch einigermaßen auf sein Äußeres achtete, verwahrloste er zusehends und wurde immer mal wieder auf irgendwelchen Straßen von irgendwem gesehen, wie er verwildert und verloren herumlief. Trotzdem seine eigenen Wege gehen konnte, das fand ich auch immer gut. Ein Anderer stand einige Jahre immer stocksteif auf der Straße, so lange, bis jemand „RamRam“ zu ihm sagte, dann ging er weiter bis zum nächsten Stocksteif. Brahmanen zogen die Schuhe aus und schenkten ihm alles Mögliche, und berührten seine Füße. Vielleicht war er sowas wie ein Heiliger für sie, weil er immerhin in einem Gottesnamen stecken blieb, bzw. durch ihn wiederbelebt wurde. Seit zwei Jahren sehe ich wieder Einen. Er steht auch, oft stundenlang, an einem Fleck. Wenn ich ihn morgens sehe und zufällig gegen Abend nochmal vorbeikomme, steht er am selben Fleck, so, als hätte er sich nie bewegt. Er hat auch diese Schönheit und diesen seltsamen Blick, von dem man gleichzeitig mehr sehen möchte, dann aber die Augen abwendet. Ich sehe und grüße ihn also schon das zweite Jahr und habe ihn noch nie einen Ton machen hören. Nun komme ich gestern Nachmittag da vorbei, da spricht er mich an. Er erzählt mir in fließendem Englisch, man hätte eine Eisscheibe gefunden, so groß wie der See vor unserer Nase, da wären Aliens über Lichttechnik gelandet, jetzt hätte man endlich Beweise. Ich starre ungläubig vor mich hin und lasse mir alles noch einmal wiederholen. Ja, Aliens, sagt er, endlich bewiesen. Woher kannst du so gut Englisch, frage ich, noch betäubt von der Wirkung. Er versteht die Frage nicht, und mich beschleicht das Gefühl, dass er gar nicht merkt, dass er eine Fremdsprache spricht. Den Blick in seinen Augen kann man nur eine unerreichbare Ferne nennen. Du bist ja auch ein Alien, sage ich zu ihm, das bringt ihn zum Lächeln. Aber meistens lächelt er eh.  Ich bin auch ein Alien, gebe ich mich zu erkennen. Ich habe keine Probleme damit, mich vorübergehend in Nachvollziehbares einzublenden. Irgendwann muss man die Angst, sich selbst zu verlieren, hinter sich lassen. Und selbst die, denen das Unnachvollziehbare geschehen ist, sie können noch tiefe und wunderbare Dinge in einem bewirken. Dann löst man sich los und geht  weiter und hält sich eine Zeitlang in lächelndem  Wundern auf.

 

natürlich

Das ist doch manchmal ganz gesund, zu sehen, wie „die Natur“ auch mit sich umgeht. Da stirbt und tötet und beißt und verwundet es ständig vor sich hin, und jagt einander und zieht Grenzen in den Revieren, wo Andere nicht zugelassen werden. Die Hunde, denen nachts das Dorf gehört, bellen sich oft stundenlang durch die ihnen verfügbare Dunkelheit. Dem kleinen, brauen Affen oben rechts wurde vom eigenen Stamm die linke Pfote abgebissen. Seine Mutter ist die braune Äffin, von der ich schon mehrmals berichtet habe, die zum Erstaunen aller Beobachtenden mit dem Oberhaupt einer Lemurentruppe zusammengelebt und zwei Kinder gezeugt hat, beide eher braun als lemurisch. Die Mutter ist zum Stamm der Braunen zurückgekehrt, erzählte mir Mohan, aber der Kleine lebt mit den Silberhaarigen. Neulich konnte ich mit tiefer Freude beobachten, dass der Vater sich um ihn kümmert. Das alles erinnert an Schicksale unter uns Menschen, auch die Schönheit des Morgens und die uns verbleibenden Jahre und Tage und Stunden, in denen man sich darüm kümmern kann, was Sein, so einfach dahin gesagt, wirklich für einen selbst bedeutet. Deswegen sehe ich oft, nach Jahren von aller möglichen Praxis, die mit dem indischen „Wissen“ verbunden ist, die tatsächlich bedeutsamste Wirkung, die Indien in uns auslösen kann, das Freiwerden des Auges von der Lösungs-und Meinungsidee. Hier spielt sich alles im Offenen ab. Ja, es gibt die mehr oder weniger finsteren Vorgänge in den Innenräumen, und ja, Frauen werden gern im Haus gesehen. Aber sie sind auch ganz gut unterwegs und finden ihre eigenen Wege in der Überlebenskunst. Man kann hier wirklich sehen, wie das große Spiel zustande kommt. Es fließt in unaufhörlichen Varianten vor sich hin, und hat der Hund da oben zB,gerade Blut geleckt von der Taube, so sehe ich ihn auf dem Rückweg angeschmiegt an eine Touristin, die ihr Glück gar nicht fassen kann, das ihr dient für die Ausstrahlung ihrer eigenen Wärme. So werden wir durch das vorhandene Schauspiel gezwungen, oder besser gesagt angeregt, unser eigenes Spiel zu gestalten, denn die vorhandenen Beispiele gehören alle sich selbst und geben keinen Aufschluss über ihre  Verborgenheiten. Wie gerne würde man sich und die Anderen als Hüter und Hüterinnen sehen von all diesem Übermaß an Reichtum, den es allerdings auch gut zu verwalten gilt und zu bedenken, welche Spielarten zu einem passen, und welche nicht. Und schon sind wir wie automatisch auf der Bahn des Bewusstseins gelandet, das dem Menschen natürlich ist. Da hat er und hat sie ein mächtiges Werkzeug bekommen für die paar Jährchen, das es gut einzusetzen gilt. Woher kommt sie nur, diese unermessliche Freiheit, auf die man in eigener Regie antworten muss oder kann, und ist doch nur an e i n e Kunst gebunden. Wer bin ich und was mache ich aus mir und mit den Anderen auf diesem Weg.

 

Indisch

Warum sich mit Indien beschäftigen? Wenn der eigene Weg einen nicht hierher geführt hat, was kann es dann für eine Bedeutung haben für das eigene Leben? Und doch erscheint gerade im Westen, wenn man mal die Aufmerksamkeit darauf richtet, an sehr vielen Orten der großen und kleinen Städte eine geradezu verblüffende Präsenz indischer Lehren. Auch der Buddhismus, der ohne Gott lehrt, kommt aus Indien und spricht vermutlich gerade deswegen die Westler oft an, obwohl er sich in Indien in und nach Buddhas Zeiten nicht wirklich durchsetzen konnte und erst durch die Flucht des Dalai Lama und durch seine Autorität, dann durch seine neuen Lehrer einen enormen Zustrom erlebte und erlebt. Die Räume, in denen dieses ursprünglich indische „Wissen“ vermittelt wird, sind so zahllos wie die Methoden im Umlauf, die Arten und Weisen des Umgangs damit, und die wild sprießenden Unarten, die sich in falsch erworbenen Wegen und Titeln ausdrücken wie in so vielen Berufen ,wo das einst Gutgemeinte zur eigenen Verfälschung wird. Die Gefahr, ein Wissen gedanklich zu erfassen und es dadurch für umgesetzt zu halten. Je höher die Anzahl der Wisensdurstigen an den Orten ist, desto unübersichtlicher wird, was mit dem Wissen geschieht. Und wie undurchdrungene Licht (Bewusstein) zur Finsternis werden kann, haben wir vom Dritten Reich gelernt. Wie Hitler das Wissen und seine Symbolik  missbraucht hat, ist doch nie klar geworden. Es wurde vom „Drehen des Rades in die andere Richtung“ gesprochen. Statt in Richtung des lebendigen Stromes in die Gegenrichtung, vielleicht als unaufhaltbare Selbstbesessenheit, die auch hier  bis heute in einigen der berühmtesten „Gurus“ als Licht verkauft wird und angebetet von denen, die sich selbst nicht zutrauen, sich zu finden, und verloren gehen in dem Glauben, so sähe es aus, das Beisichsein, durch das Andere nicht zu Schaden kommen. Doch langsam wandeln sich auch die Götter in der mächtigen, letzten hohen Kultur, die auf dem Krankenlager liegt, noch nicht im Sterben. Wenn der Missbrauch sich als unheilbar herausstellt, wird es für niemanden auf der Erde gut gehen. Es ist aber in diesem Land vorgesorgt worden für diese Zeit. Man hat es einst das dunkle, das tödliche, das eiserne Zeitalter, oder auch das digitale Zeitalter genannt, in dem künstliche Intelligenz die Götter und die Menschen locker einholen wird. Im Angesicht dieser enorm machtvollen, entmenlichenden Katastrophe hat man geraten, zu sich selbst zurückzukehren, und bestenfalls das Einfache, das uns alle an der Quelle ausmacht, neu zu beleben und zu beachten. Die Würde des Körpers und des Geistes zu bedenken, die uns in gemeinsamer, gar nicht so hochkomplizierter Zusammenarbeit ermöglicht, unsere Zeit auf dem Planeten so gut, wie es uns möglich ist, zu verbringen. Mir scheint, dass die „großen“ Dinge sich letztendlich doch als einfach erweisen. In welche Richtung man das Rad lenkt, nur um irgendwann zu sehen, dass das Rad schon läuft, und dass es nur um die Handhabung des Kompasses ging.

 

willkommen

Als ich heute früh an dieser Pfütze vorbeikam, in der sich die von mir so hoch geschätzte Architektur spiegelte, fiel mir auf, wie häufig diese Fenster in ein dahinter liegendes All auch in meinen Pinseleien vorkommen, wie Öffnungen die, egal aus welcher Situation und Befindlichkeit heraus, immer auch ins Freie führen, wenn auch nur als geistige Erweiterung innerhalb der menschlichen Fähigkeit, unsere Gedanken dahin zu führen, wo sie uns eher fördern statt schaden. Und ja, es gibt auch immer wieder die Einzelnen, die sich bewusst für dunkle Wege entscheiden und sie auch entlang gehen und durchführen, was ihnen ihr Geist eingibt. Aber ich denke, dass diese Menschen, immer in Hinblick auf das agierende Bewusstsein, genau so selten und obskur sind wie die sogenannten „Erleuchteten“. Nun habe ich in Indien so eine Spannweite an unterschiedlichen Bewusstseinsebenen und Variationen des Menschseins erleben dürfen, sodass ich mich manchmal vor dem großen Nichts und dem Alles verneige. Natürlich bin ich eine Fremde in fremdem Land, das war für mich auch nichts Neues. Ich finde es angebracht angesichts des ungelösten Rätsels unseres Aufenthaltes hier, immer eine Spur von bewusster Fremdheit in sich zu beherbergen. Schließlich sind wir auch Raumdurchquerende auf einem großen Schiff, und die Ganzheit des Vorgangs kann nur ein Mensch erfassen, der sich ganz klar darüber ist, dass es nicht zu erfassen ist. Und warum sollte dieses Mysterium keines bleiben? Die Zerpflückung, der wir uns manchmal verpflichtet fühlen, hat ihre Grenzen und stößt eben genau an diese Grenze, die es verhindert, die Einheit des Vorgangs wahrzunehmen. Und wenn zum Planetenbewohner und zur Planetenbewohnerin die Liebe kommt, auf welche Weise auch immer, dann ist der Wanderweg hochgradig begünstigt. Den Augen, durch die die Liebe atmet, kommt ja nicht automatisch alles schön und passend vor, sondern dieser Blick aktiviert im Inneren eine Bereitschaft, den Dingen so zu begegnen, wie sie sind, und nicht, was ich persönlich an ihnen sehe oder von ihnen möchte. Als ich hier in diesem Dorf vor vielen Jahren ankam, war der Eindruck dieses vorgefundenen Lebens so beseligend für mich, dass ich meinen ganzen Besitz und mein damaliges, mit Schätzen angefülltes Haus in Kathmandu aufgeben konnte durch einen Zettel an Freunde, die gerade ein Haus suchten, und mit ein paar (schönen) Habseligkeiten in mein neues Leben einsank und mich jahrelang darin vertiefte. Dadurch habe ich auch gelernt, dass ein vollständiges Einlassen eine der Möglichkeiten bietet, gerade durch dieses Einlassen wieder zu eigener Freiheit zu gelangen. Ich darf mich nur nicht aus den Augen verlieren, das kann sehr schädlich sein, manchmal auch tödlich. Heute wurde ich in einer Mail gefragt, was meiner Meinung nach der Unterschied sei zwischen der Raumschiff Enterprise Crew und Data, dem Computer. Ich erinnerte mich, dass Data Schwierigkeiten hatte, Humor zu verstehen, wohl, weil die Quelle des Humors die Liebe ist. Das kann verdammt lange dauern, bis wir verstehen, dass nur die Liebe uns entbinden kann von der Blindheit, alles getrennt zu sehen, so wesentlich auch immer die persönliche und individuelle Wahrnehmung sein mag, da auch sie die Quelle der Liebe ist. Das erinnert mich an die Süßigkeit, die in diesem Fest rauschhaft verteilt wird: Sesamkörner in Rohrzucker. Erst gestern habe ich erfahren, dass ja, Sesam allein immer gut ist, und Rohrzucker auch, aber, wenn die beiden zusammengefügt werden, außerordentlich gesundheitsfördernde Eigenschaften entwickelt werden (u.a. sollen Magnesium und Calcium  drin sein und vieles mehr), sodass diese Süßigkeit an alle, die es sich sonst nicht leisten können, verteilt wird, damit sie teilhaben können an dieser Wirkung. Es ist eine Wintersüßigkeit. (Die Sesamkörner werden separat in einem Topf 5 Minuten angeheizt, der Rohrzucker separat flüssig gemacht, dann nach Abkühlung zusammen gebracht und je nach Wunsch geformt, z.B. in Kugeln). Kann eine Kultur, aus der heraus man nicht geboren ist, jemals eine Heimat sein? Ja, sie kann. Alle Kulturen sind ja nur ein kleiner Teil der Planeten-Heimat. Mir persönlich wäre wichtig, dass alle an eienm Ort leben können, wo sie willkommen sind.

entzyklen

Makar Sankranti ist der Name des Festes, das gerade hier abläuft. Einerseits ist es ein Drachenfliegfest, bei dem vor allem männliche Kinder und Jugendliche viel Freude haben, aber auch von den Terassen herunterfallen und verwundet werden von, was im Volksmund jetzt „Killer Manjhas genannt wird, eine chinesische Todesform im Kostüm eines Spiels. Die Schnüre werden mit Glas oder Stahlteilchen beklebt und sind verboten. Aber was heißt schon verboten. Die Polizei durchstreift den Bazaar und verdient an Verrätern, die wiederum ihre eigenen dunklen Geheimnisse haben. Tierliebhaber bauen seit neuestem extra Orte, wo verwundete Tiere behandelt werden können, vor allem Vögel, von Tauben bis Pelikanen und Flamingos, verwundet und flugunfähig. Zu dem Ganzen gibt es Technomusik aus jeder Richtung, das ist auch verhältnismäßig neu und gehört zu dem völlig enthemmten Trieb, endlich gehört zu werden, wenn auch nur über technische Kanäle. Alles muss laut sein, sonst ist es, als wäre man nicht da. ‚Man‘ hier nicht als Ich gesehen. Ich gehöre bei Sankrati zu der Gruppe, die durchhält, was sein muss, denn es gibt keine Fluchtpfade. Daher gedeiht es zur Praxis von irgendwas, über was ich noch nachdenken muss, oder auch nicht .Schließlich ist aufgeputschte Feststimmung überall, und immer noch geht es weiter mit den Pakoras, gewürzte und süße, und dann auch Kofta, runde Bälle mit Gemüse drin, von denen zwei einer mir schon leicht übersättigt vorkommenden Lunch-Vorstellung entsprechen. Alles wird seit Tagen angeboten, und manchmal gibt es gar keine Schlangen mehr vor den Geberkesseln, weil alle Mägen schon pappevoll sind. Natürlich sind es nicht nur die reinen Herzen, die sich hier froh zusammentun, sondern jeder Beteiligte, von den Geldgebern bis zu den Ölbrutzlern sind nur unterwegs, um ihr eigenes Karma aufzubügeln. Das kann rauschhafte Züge annehmen, wenn einem so ein Festtag das Gutsein ermöglicht. Ich finde es unangenehm und stelle mich dem Geberzwang entgegen, so gut ich kann. Die Kuhgrasverkäuferinnen sind an solchen Tagen besonders aufdringlich. Sie wollen mich fangen und entlarven, da kaufe ich  doch lieber ein Grasbündel, um zu entkommen. Es ist eine knifflige Frage, die mich schon öfters beschäftigt hat, heute mal als Frage an mich formuliert: warum stört mich das, wenn auf diese Weise gegeben wird? Der Gutmensch braucht die Anderen, damit er gut sein kann. Der himmlische Eintrag ins goldene Bich der guten Taten ist aber nur für ihn bestimmt. Ich beobachte, dass diese Einstellung in den Häusern eine Leere verbreitet, eine Trostlosigkeit, eine Lieblosigkeit, die in meinen Augen keine gute Lösung der menschlichen Situationen hervorbringen kann. Ist das nicht doch ein bisschen zu einfach, sich den Gott als ideales Gegenüber zu basteln, und zuhause brodeln die Höllenkeime. Wer soll sich denn darum kümmern? In der Zwischenzeit schaukelt sich  das Festival hoch und die Stimmung ist aufgeheizt vom Nehmen und Geben. Irgendwie hat es auch mit Zuckerrohr zu tun. Man schenkt in Zuckerrohr eingegebene Sesamkörner, gibt die hart gewordene Süßigkeit an Andere weiter und sagt;‘ nimm dieses süße Sesam (Til) und sprich süße Worte‘. Das kann man ja auch ohne Sesam und Zuckerrohr anstreben, Auf jeden Fall ist es angebracht, eine Einstellung zu solchen Festen zu haben. An Wundern fehlt’s ja nicht (und nie). Feste erinnern einen auch an die zyklischen Vorgänge des Daseins, aber auch an die Möglichkeit, nicht verhaftet zu sein an sie oder abhängig von ihnen für die eigene Befindlichkeit, damit auch unter Umständen die Illusion des Zyklischen sich auflösen kann. Warum nicht?

Charles Baudelaire

 

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Zusammenklang

Im Tempel der Natur, in Säulengängen,
Durch die oft Worte hallen, fremd, verwirrt,
Der Mensch durch einen Wald von Zeichen irrt,
Die mit vertrauten Blicken ihn bedrängen.

Wie weite Echo fern zusammenklingen
Zu einem einzigen, feierlichen Schall,
Tief wie die Nacht, die Klarheit und das All,
So Düfte, Farben, Klänge sich verschlingen.

Denn es gibt Düfte, frisch wie Kinderwangen,
Süss wie Oboen, grün wie junges Laub,
Verderbte Düfte, üppige, voll Prangen,

Wie Weihrauch, Ambra, die zu uns im Staub
Den Atemzug des Unbegrenzten bringen,
Und unsrer Seelen höchste Wonnen singen.

Menschen getroffen

Gestern abend fiel mir das Gedicht bzw der Teil eines Gedichtes von Gottfried Benn ein, das zu den paar Gedichten von ihm gehört, die m.E. erlesene  Schöpfungen bezeugen, durch die man mit Dankbarkeit erfüllt wird: dass man teilnehmen durfte und kann an ihnen. Ich habe das Gedicht mal früher mit einiger Mühe auswendig gelernt,  es heisst „Ich habe Menschen getroffen“, und es ist der zweite Teil, den ich erinnert habe, wo er von den Menschen spricht, die mit Eltern und Geschwistern in einer Stube aufwuchsen, „nachts, die Finger in den Ohren am Küchentisch lernten, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen, und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa die reine Stirn der Engel trugen. Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Schöne und das Gute kommt, weiß es auch heute nicht und muss nun gehen.“ Hier in Indien habe ich über die Jahre auch noch keinen Küchentisch gesehen, an dem die Kinder sitzen können. Sie sitzen meist auf dem Boden, und all meine Reden um die Notwendigkeit einer 100 Watt Glühbirne herum waren vergeblich. Ich kenne auch nur e i n Beispiel einer reinen Stirn. Lali, die ich seit ihrer Kindheit kenne, hat für meine Vorstellungskraft das schier Unvorstellbare durchwandert. Eine grässliche, von der gefühllosen Mutter arrangierte Ehe mit einem Irren, der sich vor zwei Jahren umgebracht hat, als sie zum Glück schon lange von ihm getrennt lebte, weil er ihre gemeinsamen Kinder sexuell belästigt hat. Ihr ältester Bruder ist an Alkohol gestorben, der zweite ist von Jugend auf ein Junkie, der dritte ist handlungsunfähig, eine wandelnde Schlaftablette. Da sitzt sie, Lali, mit mir beim Chaitrinken am Abend, als mir das Gedicht einfiel. Ich hatte mich ja selbst gefragt „was tun“ im Angesicht des Schrecklichen, außer den Schrecken zuzulassen und die eigene Ohnmacht wahrzunehmen und zu akzeptieren. An der scheinbaren Ausweglosigkeit von Lalis Schicksal kann ich sehen, wie viel Spielraum es trotzdem noch gibt. Hier sitzt ein Mensch, der durch innere Unbeirrbarkeit dem eigenen Wesen gegenüber eine Würde erlangt hat, die nur von innerer Haltung genährt wird. Wir sprechen darüber, wie es gelingen kann, das vorhandene Leid nicht auszublenden, und doch vor allem darauf zu achten, den inneren Zustand wesensgerecht zu halten, weil er ganz eindeutig der einzig verlässliche Stabilisator ist. Wird man einmal aufmerksam auf das Leid und den Schrecken, kann man leicht überwältigt werden, wem hilft das. Selbst wenn ich das Los der Tiere zu lange verinnerliche, ergreift mich eine Dunkelheit, von der ich mich entweder lösen muss, oder einer ernsthaften Verpflichtung im Kontext dieser Not nachgehen. Da komme ich immer wieder zurück zu diesem Punkt: wenn wir es uns ermöglichen, das zu tun und das zu leben, was unserem innersten Wesen entspricht, dann kann man sagen: das ist, was ich tun kann. Mein Beitrag zum Weltgeschehen, das ich in meiner Zeit durchwandere, mag mir zuweilen ziemlich dürftig vorkommen. Aber gemessen an empfundenem, innerem Reichtum und der Wertschätzung für die Möglichkeiten eines menschlichen Aufenthaltes und der Willigkeit, von den Besten zu lernen, die sich ernsthaft darum bemüht haben und bemühen, nun ja, das kann so viel Schaden nicht anrichten. Und wo auch immer es sein mag, wo über eigenes Bewusstsein weniger Schaden angerichtet wird, da entsteht Spiel-Raum. Wichtig, so wesentlich: der störungsfreie und gewaltfreie Raum.

finster

Dann gibt es die Momente, wo man sich überlegt, wann es angebracht ist, ein Land zu verlassen. Die Masse der Flüchtenden auf diesem Planeten zeigt, wie aktuell das Thema schon immer war und ist, und dass es entweder die Natur oder die Natur des Menschen ist, die andere Menschen veranlasst oder zwingt, ihre vertrauten Orte zu verlassen, und ausgeliefert zu werden an die Kälte und Unvertrautheit des Fremden. Wenn die Entscheidungen nicht frei sind, dann ist das Resultat selten erfreulich. Dann gibt es die ganz persönlichen Momente, wo man etwas bedenken muss, was schwer zu fassen ist und doch bedacht werden muss, wenn auch nur, um sich der eigenen Illusionen zu entledigen, bzw. sie sorgfältig zu betrachten und günstigerweise zu durchdringen. Wenn eine Empörung sich in mir Platz macht, während ich hier in Indien bin, geht es meistens um die Schicksale von Frauen, die ich entweder direkt vermittelt bekomme, oder über die Zeitung. Es sind fast täglich Berichte von Missbrauch, Misshandlungen und Vergewaltigungen. Ist das nun wirklich anders in anderen Ländern, oder tut es nur da weh, wo man selbst eine vollkommen andere Erfahrung macht und sich wehren möchte gegen den Einbruch der Finsternis. Aber es ist eine Finsternis. Gestern war in der Times ein fast seitenlanger Bericht über das Leben von Frauen, die oft, erschreckend oft, schon als Kinder gruppenvergewaltigt werden, das Leid aber damit kein Ende hat. Sie werden gebrandmarkt und oft ausgeschlossen von der eigenen Familie. Nach der Entjungferung nicht mehr brauchbar. Bei der verzweifelten Suche nach Hilfe von Polizisten weitergereicht von Vergewaltigung zu Vergewaltigung, ist ja eh schon passiert, das Unglück. Wie kann man für all das Worte finden, und das Land verlassen als Reaktion auf diesen Ausbruch kollektiver, männlicher Gewalt, was würde es nützen. Heute früh fiel mir mal wieder auf, wieviel Phallus-Anbetung hier betrieben wird, der erigierte Penis wirklich in allen Größen, meist aus solidem Stein, damit die Macht nicht einzuknicken droht. Alle lebendigen Kümmernisse der erträumten Realität überdauernd, und unter dem Steingewicht die wesentliche Yoni, der weibliche, selten erwähnte und gern übersehene Halt des ganzen patriarchalen Ausmaßes. Da kann man schon mal ins Fassungslose gleiten. Was sollen sie denn verstehen, die omnipotent erzogenen Gefährder, wenn schon ihre Mütter einen Gott aus ihnen machen. Gefährliche, bedrohliche Menschen, die  uns jetzt, obwohl wir gar nicht mehr hinhören, noch einmal die Welt erklären möchten, und wie es zu endlosen Überschreitungen kam, wo der Mensch jede Form eines Auftrags verliert. Hat er einen? Und wenn, welchen? Wenn es nun wirklich nur, in jeder Hinsicht, um das Menschsein an sich ginge? Und was es sei, und was man sich darunter vorstellen könnte und kann, und wie es erreichbar ist, und wie es aussieht, wenn es verspielt wird, das kostbare Leben, aus Mangel an Achtsamkeit.

( Da drüben im Dorf, zum Beispiel, lebt einer, der leiht Geld an Familien, die in Not sind. Wenn sie nicht rechtzeitig zurückzahlen können, bittet er sie, nachts ihre kleine Tochter zu ihm zu schicken. Das geht schon seit Jahren. Niemand rührt einen Finger, denn er hat politischen Einfluss.)

baden

Wenn ich morgens vermummt durch die Morgenkälte gehe und meistens unterwegs den Grasverkäuferinnen entkommen muss, die mit ihren Bündeln (Kuhfutter) vor den vorbeigehenden Nasen herumwedeln, dann noch ein paar Worte mit Prithvi wechsle, einem jungen, einbeinigen Bettler, dann vorbei an einigen Tempeltüren, dann sehe ich schon von Weitem die Lemuren, die in den ersten Sonnenstrahlen baden. Dann gehe ich auf meinen Sitz zu und mache dasselbe. Sonnenbaden. Wie beglückend und entspannend das ist, einfach eine Weile in der Sonne zu sitzen und auch von außen nach innen die Wärmezufuhr zu spüren. Die Inder staunen immer mal wieder über den Kerzenverbrauch von uns Westlern. Kerzen werden hier im Haus nur bei Stromausfall benutzt, was immer noch häufig genug vorkommt, und das stundenlang. Im Westen sind Kerzen eine Art Zuversicht, dass das Licht trotzdem brennt, und wer brennende Scheite in einen Ofen legen kann und dem Flackern zuschauen, ist schon gut dran. Hier genießen alle den Winter, weil da eine kurze Zeit die Strahlen der feurigen (und männlichen) Gottheit gnädig sind, und einige Monate später keine liebe Sonne mehr, in der man sich aalen kann. Die Kühe stehen jetzt am Morgen wie gebannt in der Gegend herum, die Hunde schlafen. Unterwegs erkundigen sich einige nach den heftigen Schneefällen, von denen sie in der Hindu Times gelesen haben. Habe ich auch gelesen, Bayern im Schneechaos. Wenn es nur diese klimatischen Abenteuer wären, die Menschen gemeinsam bewältigen müssten, ginge es vielleicht menschlicher zu. Manche Menschen sind gerne Helden und wenn sie das Heldenhafte vollbringen, fühlen sie sich gut. Auf der anderen Seite ist jedes Leben schlichtweg ein Heldenepos, man braucht nur die nötige Distanz, um es wahrzunehmen. Heute morgen am See, mit köstlichem Tee (chai), den Laxmi Kant in seinem winzigen Zimmer innerhalb des Tempelgeländes für uns macht, meinte der Priester, man käme doch an das Wissen ohne Guru nicht heran. Das sehe ich gar nicht so, bzw finde es völlig unzeitgemäß, vor allem aus offensichtlichem Mangel an solchen Geschöpfen, denen man zutrauen würde, brauchbares und notwendiges Wissen weiterzugeben. Und doch wird Wissen, was auch immer man darunter versteht, seit Urzeiten weitergegeben, so als könnte der Mensch, der einfach so lebt, gar nicht an „es“ rankommen. Dieses berühmte „Es“ kann man hier auch in ein „Ich“ verwandeln, bevor es weitergeht. Ist man an diesem Pfad interessiert, steckt man sich seine oder ihre eigene Route. Wer suchet, der findet, auch ohne Glaubenslehren. Man muss sich das selbst mal klar machen, was unsere gegenwärtige Zeit ganz wie nebenher anbietet: Zugang zu jeder Art Wissen, für das ich geeignet bin. Wie merke ich, für was ich geeignet bin? Ich betrachte mein Leben sorgsam und schaue, ob es mir gut tut. Wer ist verantwortlich, wer kann ändern, was nicht stimmt? Das ist und bleibt unter allen Umständen die selige Mühsal, einen guten Tag zu erschaffen, der meinen tieferen Bedürfnissen entspricht. Dass ich mich in der scheinbaren Ewigkeit langsam vergehender Tage selbst erkennen und feststellen kann: Ja, das bin ich, das ist der Grund meines Daseins: dass ich mich selbst erkenne, denn nur über diesen Weg kann ich alles andere erkennen. Wer wird mir sagen können, wer ich bin, auch wenn die klugen Sätze überall durch die Welt ziehen. Wie bastle ich sie um in meine eigene Erfahrung, meine ureigene Erkenntnis. Die einzige, die mir Resonanz geben kann auf das, was ich bin, jenseits vom Kreislauf der Geschichten und der Gedanken und der Erinnerung.

to be

 

kal

Heute früh entdeckte ich im Vorübergehen dieses Bild und grübelte kurz, wen es darstellte oder einmal dargestellt haben könnte. Dann schaute ich links und rechts, bevor ich mein Smartphone zücken wollte, aber da kam schon ein Brahmanenpriester und wollte sehen, was ich da sehe. Anstatt ihn ins Grübeln über mich zu bringen, teilte ich mit, wie überraschend ich es finde, dass man manchmal gar nicht mehr sehen kann, wer gemeint ist, das kam irgendwie bei ihm an. Beschäftigt mit der unter uns Menschen grassierenden Sucht, alles besser zu wissen, dachte er kurz nach und bemerkte, dass die Zeit doch sehr mächtig sei. Das ist richtig, und da er jetzt in Fahrt war, musste ich ein paar Schritte mit ihm gehen und konnte das Bild erst später aufnehmen. Ist es nicht erfreulich in seiner heiteren Kindlichkeit? Bilder, auf denen man nicht mehr erkennen kann, was einmal gemeint war, haben mich in Indien immer interessiert und regen meinen Sammlerinnen-Geist an. Sie sind etwas, was achtlos herumliegt, obwohl das nun Zugängliche oft viel tiefere Ebenen des Unterbewussten anspricht, dann auch die des Bewussten. Am besten ist es, wenn ich unterwegs merke, dass es wieder so ein Tag ist, an dem ich beim Sehen auf alles gefasst sein muss, und dann ist es auch so, dass es mir vorkommt, als würde ich auf einmal „wirklich“ sehen: dieses Enthaltensein von allem in allem, diese bestürzend kosmische Verbundenheit. Aus diesem Blickwinkel heraus kann ich dann manchmal auch nachvollziehen, wie Götter erschaffen werden. Alle erschaffen, was sie brauchen. Werden die Götter nicht mehr gebraucht, werden sie und ihre Welten langsam vergehen. Die Landschaften werden ein leises und fast unauffälliges Grab werden von doch auch sehr hoher Kunst, die hier überall schon schlummert, an Bäume angelehnt, und manchmal noch ein kleines flackerndes Öllämpchen davor. Das Ich will sein Lämpchen brennen sehen, und immer kommt es auf die innere Haltung an, die einer Geste Bedeutung und Wirkung gibt. Und ja, die Zeit ist mächtig und hat Grenzen in der körperlichen Welt wie alles andere auch. Eines der Hindi Worte für Zeit ist „kal“ und bedeutet einerseits gestern, und andrerseits morgen, was bedeutet, dass der lebendige Moment nicht wirklich einen Namen hat, er kann nur erlebt werden, eingegrenzt von den festgelegten Bedingungen. Es gibt aber auch ein „Mahakal“, eine Große Zeit, in der die Grenzen des Raumes und der Zeit gesprengt werden können. Es wird gelehrt als die ursprüngliche Bedeutung von Yoga, bzw der Zustand des meditativen Seins an sich. Manchmal traut man sich kaum mehr die viel vermarkteten Worte auszusprechen, das kostbare, einfache Gut mit den neuen Preisschildern. Für etwas, das gar keinen Preis haben kann, denn es ist immer da und braucht nichts anderes als Wahrgenommensein. Das allerdings braucht es, sonst kann es nicht sein, was es ist.

Mo. bzw. So.

Im Bild sehen wir einen von Genderfragen und Weltverhältnissen unbehelligten Raum-Tänzer bei der Morgen-Praxis. Nachdem das geklärt ist, kann es weitergehen. Nein, erst noch einen Schritt zurück. Vor Jahren habe ich aus verschiedenen Gründen entschieden, am Sonntag nicht hinauszugehen. E i n Grund ist, dass sonntags das Dorf mit Pilgern und indischen Touristen derart bevölkert ist, dass die Einheimischen im Gewühle untergehen. Viele indische Männer kommen auch in Gruppen, belastet und beladen mit allerlei unguten Phantasien, die sich meist nur in erhöhten Alkoholkonsum umsetzen, das ist eine Neuheit, zumindest hier im offenen Raum. Die Enthemmung hat ihren Preis. Es gibt ein neues Gesetz, das die Todesstrafe festgelegt hat. Für Vergewaltigung von Kindern bis 12 Jahren. Man muss sich mal vorstellen, wie viele Verbrechen begangen werden müssen, damit eine Regierung zur Abschreckung auf so einen Gedanken kommt. Todesstrafe, wenn das Opfer nach der Tat so geschädigt ist, dass es kein normales Leben mehr führen kann. Und sonntags lese ich dann, öfters zu meinem Bedauern in eigener Regie, zu lange die Sonntagszeitung. So habe ich tagelang nur flüchtig  die Schlagzeilen bzw. Schlachtzeilen um einen indischen Tempel in Kerala überflogen, ach nee, dachte ich, schon wieder!, und gestern habe ich es dann mal verstehen wollen, was eigentlich war und warum die Menge tobt und Tote hervorbringt in einem neuen Wahngebilde. Also die Regierung hat gesetzlich ein Gebot aufgehoben für einen Tempel, den Sabarimala-Tempel (nie vorher gehört), eine Göttin, der man irgendwann auch ein zölibatäres Leben andichtete, um die „Reinheit“ der Sache zu betonen. Nämlich war bis dato Frauen zwischen 10 und 50 Jahren der Eintritt ins Heiligtum verboten, man rate mühelos, weshalb. Ich habe mich schon öfters mal in den Jahren gefragt, wie d i e, wer auch immer es sei, überhaupt wissen, dass eine Frau in diese vor allem für Priestergehirne „unreine“ Phase kommt. In Tamil Nadu fragte ich einmal, warum manche Frauen ein gelbes Gesicht hatten, und man erklärte mir, sie müssten Kurkuma-Paste auflegen an den Tagen, damit jeder weiß, was los ist. Nun sind  also drei Frauen am Dienstbotennebeneingang des Tempels unter Polizeischutz eingeschleust worden, denn draußen stand eine tobende Meute usw. Die Namen der Frauen werden nicht genannt, und irgendwie müssen sie auch wieder rausgeschleust worden sein. Noch leben sie. Ich kann das nur als eine politische Aktion verstehen, alles andere wäre zu grotesk und zu unwürdig, und sollte keineswegs als feministische Heldenleistung angesehen werden. Auch die Hoffnung, dass die keusche Göttin die Gehirne der Gläubigen reinwaschen könnte, kann ich leider nicht haben, da mich Sabiramala nur im Kontext des indischen Erwachens interessiert, bzw. im Kontext des langen Wälzens im Schlaf. Da meine Internetverbindung nicht immer stabil ist, bekomme ich von der Weltpolitik meist nur die ‚Global Page‘ der Times mit, das reicht auch häufig. Gestern gab es unten auf der Seite einen Bericht darüber, dass die AfD „rot“ gesehen hat, als freie Karten ausgegeben wurden für den Film „Schindlers Liste. Es wurde erwähnt, dass AfD-Mitglieder die Nazizeit als einen Vogelschiss bezeichnet haben, in der englischen Übersetzung hieß das “ a speck of bird poop in more than 1000 years of successful german history“. Sowas könnte Narendra Modi auch sagen, und wahrscheinlich wäre bei ihm das vorhandene Grauen noch ein kleinerer „speck of bird poop“ im Angesicht der indischen Ewigkeit. Dann war gestern mal wieder so ein Tag, wo ich den Göttern (ja wem sonst) danken konnte, dass ich nicht raus musste (zur Arbeit), denn der Nebel war so dicht, dass erst am Nachmittag auf die schlecht gelaunte Menge, die sich durch den Bazaar quälte, ein paar Sonnenstrahlen fielen. Und das war nicht alles an guten Nachrichten. Die erste Geldsammlung des Marktplatzes war zustande gekommen, um die in diesem Monat beliebte und karmafördernde Leistung zu erbringen, stundenlang Pakoras (süße und scharf gewürzte Teigteile) in riesigen, mit gutem Öl sizzelnden Pfannen herzustellen und an jeden zu verteilen, der sie möchte. Mir lief schon vom Fenster aus beim Anblick der zufrieden blickenden PakoraesserInnen das Wasser im Mund zusammen, da brachte mir Mohan einen gehäuften Teller davon.  Wer nicht weiß, was leckere Pakoras sind, sollte unbedingt mal bei Lord Google nachschlagen oder sie mal in einem indischen Restaurant bestellen. Aber ob sie an den Genuss dieser göttlichen Gabe herankommen, muss ich bezweifeln. Was für ein Glück und was für eine Zufriedenheit hier verbreitet wurde. Gute, köstliche Ware, und alles für den Genießenden kostenfrei, denn die Geldgeber haben auch was davon. Stolz schauen sie auf das Resultat ihres Karmaliftes. Man freut sich doch auch über jedes gute Erleben und jede gute Nachricht.

J.W.von Goethe

 

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Süßer Schlaf! Du kommst wie ein
reines Glück ungebeten, unerfleht am
willigsten. Du lösest die Knoten der
strengen Gedanken, vermischest alle
Bilder der Freude und des Schmerzes,
ungehindert fließt der Kreis innerer
Harmonien, und eingehüllt in gefälligen
Wahnsinn versinken wir und hören auf
zu sein.

heiliges Gut

Wenn etwas eindeutig und unwiderruflich da ist, ist es besser, eine klare Einstellung dazu zu gewinnen, sodass man es integrieren kann in die Archive des Unvermeidlichen oder eindeutig Daseienden. So sind die Götter in Indien nichts, was man übersehen kann, denn sie sind allüberall. Der Elefantengott Ganesh zum Beispiel, der oben im Bild aussieht, als würde er ewig dort hausen, ist aus Pappe und von irgend jemandem, der ihn aus dem Weg haben wollte, dort abgelagert. Er gibt natürlich dem Steingerümpel eine gewisse Würde und Farbe. Dieses Jahr musste ich einmal eine Ratte aus dem Lagerraum fangen und hinübertragen an die Brücke, wo ich sie von einiger Höhe herunterwerfen wollte. Hinterherschauend, wo sie gelandet ist, sah ich in ungläubigem Staunen eine Gottheit im Tümpel liegen, die aussah, als wäre sie dort in einer anderen Dimension unterwegs. Auf der einen Seite also dieser ungeheure Aufwand, um ja kein Mensch zu sein, der nicht von irgendeinem Gott gelenkt und geliebt wird, auf der anderen Seite diese Nachlässigkeit dem doch so Geschätzten gegenüber. So viele heilige Bilder, die im Dreck herumliegen und manchmal, wenn auch nicht für jedermanns Auge, neue kosmische Kompositionen ergeben, oder die Mauer, wie man oben im Bild entdecken kann, fügt von selbst eine orientalische Figur dazu, die man selbst gerne gemalt hätte, sozusagen als Elevin des Monsoons. Wahrnehmen ist zeitaufwendig und kann nur unter günstigen Bedingungen stattfinden. Dann hatte ich gestern mit der jungen Frau aus Bombay (ich kann mich nicht an „Mumbai“ gewöhnen, obwohl ich verstehe, dass sie vermutlich auch die Bombe aus der Stadtbezeichnung haben wollten) ein interessantes Gespräch. Sie meinte, dass Indern jede Empathie fehlt. Das verblüfft erst einmal, leuchtet aber ziemlich schnell ein, und obwohl das Verallgemeinern oft ungünstig ist, konnte ich das mit meinen persönlichen Erfahrungen decken. Die Bereitschaft und Fähigkeit der Einfühlung in die Einstellungen anderer Menschen ist in der Tat ein seltenes Gut, aber erstaunlicherweise ist es da, wo viel Heiliges am Werk ist, am rarsten anzutreffen. Kaum steht der Mensch unter Gutsein-Zwang, was oft durch die Verbindung mit überirdischen Mächten zustande kommt, verliert er den empathischen Zugang zu Anderen. Auch wird oft gelehrt, sich möglichst fern zu halten von irdischen Verhaftungen, um näher ans erlösende Gutsein zu rücken. Das scheint, wenn auch erst in einem Irgendwann, sich nachteilig auf das Leben unter Menschen auszuwirken. Wenn sich aber das erstrebte Gutsein nicht auf das Zusammenleben unter Menschen förderlich  auswirkt, was soll’s. Vielleicht nimmt es ja auch erst in einer bestimmten Zeit eine Bedeutung an, wenn wir wie jetzt Zeugen und Zeuginnen einer schamlosen und gefährlichen Groteske werden, die sich ins Weltendrama eingeschlichen hat, nicht als Sonderfall, über den man ein Epos kreiren kann, sondern ein Alltagserleben, mit dem man lernen muss, umzugehen. Die junge Generation beginnt das auch hier wahrzunehmen, doch was tun? Noch gibt es keine Räume ohne Götter, und die Mutter schlägt schon zum dritten Mal einen jungen Mann vor, der geheiratet werden könnte. Wohin, wenn man nicht mehr mitspielen will? Fleißig lade ich nach Deutschland ein. Dort sind auch schon viele Menschen durch die Hingabe an vermeintlich Höheres umgekommen oder geschädigt worden, und das Antreffen von Empathie wäre jetzt auch nicht der Lockvogel, aber…ja, was preise ich denn dann da? Das satte Grün im Sommer, die Freiräume des Denkens und Seins, vielleicht auch die Tatsache, dass ein ganzes Volk durch eine Hölle marschiert ist, was ein „Nie wieder!“ erzeugt hat. Nie wieder so ein Mensch sein. Aber was für ein Mensch sein. (?) Heute brummt es um den See herum wieder mit emsigen Pilger-Ritualen. Amavash!, sagt der Priester, Neumond. Da werden die Toten geehrt.

Glücksfall

Gestern war ich unterwegs (online), da wurde ich durch den algorithmicus youtubicus auf einen Vortrag aufmerksam und hörte auch bis zum Ende zu, als das ganze Publikum sich erhob und dezent klatschte als eine Art Geste der Verneigung vor einem Mann, der sein schwer vorstellbares Schicksal im bestmöglichsten Sinn meisterte. Nach einem Unfall, (massiver Stromschlag) mussten beide Beine amputiert werden und der linke halbe Arm fehlte auch. Der rechte Arm war so verblüffend lebhaft, und so war der Geist und sein Inhalt, sodass einem das körperliche Desaster erst nach und nach auffiel. Die modernen Prothesenbeine, nicht verhüllt, sondern sichtbar, manchmal übereinandergeschlagen, es war nicht so einfach, hinzuschauen. Sein Thema war die Nähe des Todes, in die er viele Male  gekommen war. Ja, er beschrieb seinen Heilungsprozess als die Nähe des Todes an sich, und sein Leben und seine Arbeit kreisten ganz eindeutig um diese Nähe herum, die er den Menschen ans Herz legen wollte. Das konnte er gut. Einem klar machen, wie dieser Tod auch immer da ist, fast unmerklich, aber untrennbar verbunden mit dem lebendigen Vorgang, dem das Vergängliche beigegeben ist wie jedem guten Essen und dem Erstaunen, dass sich die Neujahrszahlen zu einem Leben reihen, dessen Träger günstigerweise wahrnehmen können, dass ein unvermeidliches Abenteuer noch auf uns wartet, wenn alles, was gelebt wurde, sich sammelt an einem Tor, und dann: wo ist der Schlüssel. Einmal, als ich in Kathmandu lebte und ein guter Freund von uns starb, war ich froh,  dass ich gute Beziehungen hatte zu den dort lebenden Buddhisten und ihren Mönchen, die sich bereit erklärten, die Bardo-Reise für ihn zu organisieren. 49 lange Tage, begleitet von denen, die wissen, was da los ist und einem das Gefühl geben, der oder die Gegangene ist gut aufgehoben. Die Trompeten bliesen, die Rituale liefen, wir wurden jeden Tag informiert, wie es ihm geht, und dass er nicht einschläft und auf irgendeine Nebenstraße abzwitschert, wo es doch darum geht, das, was unterwegs ist, in die nächste Geburt zu geleiten. Fängt man bei so etwas zu zweifeln an, muss man eigene Wege finden und gehen. Ist man von Wärme und Freundschaft umgeben, fällt den Anwesenden sicherlich eine adäquate Form ein, wie man den Abschied gestalten kann, um der Trauer den angemessenen Rahmen zu geben, oder auch, um Wünsche zu erfüllen, die rechtzeitig geäußert wurden. Die Reise auf dem Planeten kann einem lang oder kurz vorkommen, es kommt immer auf die Wahrnehmung und das Wahrgenommensein an. Der Sadhu-Mönch sagte heute früh am See, es würde sehr lange dauern, bis einer ein Mensch wird, und immer, wenn es geschieht, sei es ein Glücksfall. Sagte ein Alien zum anderen: „Das ist also der berühmte, blaue Planet, auf dem die Glücksfälle kommen und gehen.“

Das Bild habe ich in den letzten Tagen während des Sterbeprozesses einer Frau gemalt, die ich nur vom Hörensagen kannte, die mir aber dadurch vertraut wurde.

 

 

deichseln

Das ist der Wolf, der sich als Schatten mit dem Hund bewegt. Das Gleichnis, das sich hier mit dem Menschen aufdrängt, lasse ich jetzt lieber, obwohl es ein interessanter Gedanke ist, das Unterbewusstsein als ein Tier zu verstehen, das als Schatten mitzieht, bis man Licht in die Kammer bringt und wow!, das bin ja ich! rufen kann mit der angebrachten Freude und dem notwendigen Schrecken. Auch die uns durch Forscher vermittelte, hohe Prozentzahl, die man zwischen Mensch und Affe in der DNA gefunden hat, fand ich nie sehr beeindruckend oder überzeugend, da es lediglich auf körperliche Fakten hinweist, während man in der Möglichkeit des Bewusstseins doch gravierende Unterschiede akzeptieren muss. Auch was die Zeit betrifft, so sind wir wieder an einer dieser Schnittstellen, wo möglichst Vieles neu zu bedenken ist. Wenn man manchmal z.B. über eine Statistik stolpert, die einem klar macht, dass es auf der Welt immer mehr Menschen gibt, die chemische Substanzen, ob als Medizin oder Droge, in sich hineinwerfen, sagt es einem genau so viel oder so wenig wie das Sterben der Wale oder der Kühe an der Plastikmasse, die nicht mehr einzudämmen ist. Auch will man sich nicht einreihen in den Wettlauf apokalyptischer Visionen, die in letzter Konsequenz alle auf eine einzige Tatsache hinweisen, die zu erkennen jederzeit förderlich ist: die Zeit ist kostbar und ständig am Verrinnen. Wie will ich sie gestalten, und wie viel Bewegungsraum habe ich mir dafür geschaffen. Auch das „Gott deichselt alles“ der Inder kann ich nicht mehr hören. Es gibt Ausnahmen, eine davon habe ich gestern schon erwähnt in der Person von Laxmi Kant. Er schiebt auch alles, was er ist, auf Gott. Aber die Gnade, in der er lebt, eine Art Licht der Dankbarheit und Bescheidenheit, das ihn umgibt, zeigt, dass er sein Ich tatsächlich abgegeben hat. „Gott hat mir alles gegeben und mehr, viel mehr“, hat er heute gesagt. Das ist m.E. der einzige Weg, der es möglich macht, „Gott“ als eine Instanz zu benutzen, die einem ermöglicht, das Ich weiter zu transportieren an einen Ort, den man für verlässlich hält. Aber wer kann das schon? Laxmi Kant ist simpel, sehr simpel, doch man kann genau deswegen sehr gut sehen, wie das, was er ist, das Sein adelt. Vielleicht prägen wir auch ständig unsere eigenen Kreisläufe, und alle werden oder sind, was sie glauben, wodurch sich die Welt vor unseren Augen (nur für uns) auf diese Weise umsetzt. Das Konzept von „Maya“, dem illusionären Gewebe des jeweils Daseienden, ist tief, und es ist spannend und abenteuerlich, es als empfundene Realität zuzulassen, vor allem, um zu erkennen, dass ich am Steuer meines eigenen Nachens sitze, auch mal Surfboard, sure, auch mal Raumschiff, und mal Körper, in dem die Archive lagern, und wo man  das Zeug findet, das man braucht, um das Lebendige nicht unnötig zu beschweren. Da vorne am Tunnel wartet, wie lange auch immer es einem vorkommen mag: der Abschied von allem, was einem möglich erschien und liebens-und lebenswert.

aufnehmen

Das Ergebnis einer solchen alljährlichen Cosmo-Party wie der Eintritt in die neue Zahl ist natürlich bescheiden, nicht, dass man Erwartungen daran geknüpft hätte oder knüpfen würde. Man kann sich vielleicht mal kurz vorstellen, wie es wäre, wenn diese Milliarden, die wir sind, alle rundum eine Weile gemeinsam schweigen würden. Nicht das Schweigen der Einsamen und sich verlassen Fühlenden, sondern vielleicht aus Achtung der Stille gegenüber, durch die ein Quantensprung im Bewusstsein der Menschheit zumindest denkbar wäre. Doch wohin würde gesprungen werden?, denn es würde ja nur Sinn machen, wenn es eine deutliche Veränderung in der persönlichen Wahrnehmung der Einzelnen erzeugen könnte. Man sieht einen in unvorstellbarer Größe sich entfaltenden Scheibenwischer über die mentalen Einrichtungen der Menschheit streifen und wieder verschwinden. Keiner weiß, dass es alle betrifft. Ein Bedürfnis nach authentischen Verbindungen taucht auf, eine Milde des Herzens macht sich breit in den Bevölkerungen. Die enttrübten Augen sehen auf einmal, dass die Existenz eines jeden einmalig und kostbar ist, und dass tatsächlich in der kurzen Zeit unseres planetarischen Besuches jede Sekunde zählt, nicht durch Zahlen, sondern durch ihren eigenen Wert. Gestern früh war ich nicht unterwegs am Morgen, weil ich der Nacht hinterherschlafen musste, was auch ganz angenehm war. Man kann dann z.B. erfahren, dass die eigenen Ordnungen einem gut tun können, aber dass sie gerne auch mal unterbrochen werden, um nicht in selbst auferlegte Sklaverei zu verfallen, ohne dass man es merkt.  Heute war es dann auch wieder schön, an „meinem“ Platz am See den Sadhu (Baba/Mönch) zu treffen, der über seinen Ischiasnerv klagt, um den herum sich eine kleine Gruppe von uns gebildet hat, die täglich neue Vorschläge machen, wie es ihm besser gehen könnte, von Wärmflasche, die er ablehnt, bis Senföl. Er sieht mich als Schwester auf dem Pfad, dann kommt noch der Priester dazu, und Laxmi Kant, den man einen „seva dhari“ nennt, einen, der Dienst macht am Anderen, in diesem Fall am Baba. Zur Zeit macht er täglich chai, den berühmten indischen Tee mit guter Milch und Zucker, für uns alle. Er ist auch mit dem Baba über ein Handy verbunden, sodass  der ihn aus seiner Mini-Zelle heraus um alles bitten kann, was er braucht. Weil Laxmi Kant so ein stiller, wunderbarer Mensch ist, kann der Baba ihm stundenlang sein Leben erzählen, was er auch mit uns macht, denn er hat eine Menge erlebt und bevor er tatsächlich stirbt, muss er offensichtlich alles noch einmal vor Augen holen. Laxmi Kant ist auch klug und sagt auch ab und zu was zu den Sachen, aber meistens hört er zu, beziehungsweise leiht er dem Baba sein Ohr, weil der es dringend braucht. So einen Menschen wie Laxmi Kant habe ich selten außerhalb von Indien getroffen. Er strahlt eine Menschenwürde aus, die in einem eine Wärme erzeugt. Heute ist mir zum ersten Mal aufgefallen, wie arm seine Kleidung ist. Auf der Straße würde man ihn kaum sehen, denn es gibt doch sehr viele, die nicht im Strom des aufsteigenden Online-Indiens mitschwimmen können. Aber wenn man sich fragt angesichts der bestehenden Tatsachen, was all dieses „hohe“ Denken und diese meditierenden Welten und diese sich in sogenannter Weisheit über ihre unzähligen Followers ergießenden Gurus an Gutem und Förderlichem und Friedensbereitem in den Dabeisitzenden hervorgebracht hat, da würde ich eher heute auf Laxmi Kant deuten und sagen: seht mal, ein Wunder! Ein liebevoller, bescheidener Mensch, voll da, aufmeksam, wach. Auch meine ausgesprochene Wertschätzung prallt an ihm ab. Ich kenne auch andere gute und authentische Menschen, klaro, in Ost und West, die von ihren ruhelosen Selbstbespiegelungen zumindest immer weniger geplagt werden. Aber es freut einen doch jedes Mal, wenn einem klar wird, dass ein authentischer Mensch vor einem steht, der die eigene Dankbarkeit nährt. Vielleicht ist es dieses Gefühl, das Dschalal ad-Din Rumi meinte, als er in einem seiner Verse sagte, wie froh er ist, im Kreis der Liebenden aufgenommen worden zu sein.

Diesen Stein oben im Bild habe ich heute früh gefunden. Es ist eindeutig ein „heiliger“ Stein durch die Farbe, aber ob die Zeichnung darauf durch Zufall entstanden ist, oder ob jemand ein bisschen gekritzelt hat, war nicht eindeutig zu sehen.. Es wäre sicherlich interessant, von einigen Hindus, die immer alle alles wissen und nie etwas nicht wissen, zu hören, wer sich da ihrer Meinung nach manifestiert hat.

9 (Neun)

„Wir“ Milliarden von Menschen hatten also ein paar kurze Momente eine global und digital gesteuerte Ausrichtung, nämlich (wohl oder übel) die jeweilige Mitte der Nacht zu erwarten, um die Ankunft des Neuen Jahres zu begrüßen, das sich diesmal als eine Neun vorstellt. Auch am nächsten Tag sind Bilder dafür ja nicht zu erstellen, da die eigenen Feuerwerkkörperbilder meist langweilig sind, und auf allen Kanälen massiv gebildert wird. Ich habe diese zwei oben gewählt. Das linke ist von einer Wand, an der ich täglich vorbeikomme, und es eignet sich als freies Feld, denn man kann sehen, was man möchte, oder auch gar nicht(s). Das rechte habe ich mal aus der Times photographiert, weil es so schön zeigt, wie gut und diszipliniert Frauen Bürden tragen können, während die Götter das tiefe Wissen der ursprünglichen Entspannung weiterleiten. Auch die Geburt der Neun kann nicht ohne Komplikationen ablaufen, manchmal braucht es einen Kaiserschnitt. Auch kann man in solchen Nächten etwas lernen, warum nicht. Wie schon erwähnt, hatte ich keine Pläne.  Doch die Technofronten entwickelten sich und der Gemüsehändler riet mir, abends auf den Marktplatz zu kommen, denn da würden „Bacchans“, heilige Gesänge, stattfinden. Da diese Performer auch nicht mehr ohne Lautsprecher und Mikrofone auskommen, war auch an eine kurze Zwischenruhe nicht mehr zu denken. Ich denke, also bin ich? Nein! Ich bin, also kann ich auch meinen Denkapparat einsetzen, um aus dem, was da ist, das mir Bestmögliche zu machen. Ich pilgerte hinüber zu meinen Freunden im Nachbarhaus. Da waren Sänger eines Gurus zugange, die sich im Kreis formierten, mit einer Kerze in der Mitte, Harmonium und Gitarre, alles da. Ich freute mich ein bisschen über mich selbst, dass  keine aggressiven Gedanken in mir aufstiegen, denn ich kann bleiben oder gehen, ganz, wie ich möchte. Ich kehre also ein in meine Räumlichkeit und bemerke, dass sie mir wohlgesinnt ist. Meine Fenster führen hinaus zu den Feuerwerken, alles ist da, was ich brauche. Um das indische Mitternacht herum whatsappe ich ziemlich viel mit denen, die mir am Herzen liegen. Whatsapp macht’s möglich, vor allem in so einer Nacht, wo man davon ausgehen kann, dass Freunde zuhause sind und es sich schön machen für ihren Mitternachtsdurchgang. Und sich um die Tiere kümmern, damit die vor lauter Menschenfreude nicht traumatisiert werden. Hier in Indien ist aber auch alles wirklich sehr laut geworden. Vielleicht ist es ein Bedürfnis, zu erwachen von dem, was jahrtausendelang war, ohne dass irgend jemand es anfechten wollte. Der Weg zum sogenannten Göttlichen war nicht versperrt und nicht verboten. Ein gigantischer Olymp wurde erschaffen, wo jeder und jede seinen und ihren Gott haben konnte, das funktionierte wohl eine lange Zeit ganz gut. Doch welche Göttlichkeit ist dadurch entstanden und zu beobachten? Was ist passiert? Die Notwendigkeit des Beisichseins hat sich eingeschlichen als ein Gedanke, doch noch wird weltweit nicht gelehrt, wie man den Unterschied erkennt. Ich denke, also bin ich? Nein! Ich bin, daher trage ich die Verantwortung für mein Denken. Und wenn ich nicht weiß, wer ich bin, was kann ich dann denken…