Menschen getroffen

Gestern abend fiel mir das Gedicht bzw der Teil eines Gedichtes von Gottfried Benn ein, das zu den paar Gedichten von ihm gehört, die m.E. erlesene  Schöpfungen bezeugen, durch die man mit Dankbarkeit erfüllt wird: dass man teilnehmen durfte und kann an ihnen. Ich habe das Gedicht mal früher mit einiger Mühe auswendig gelernt,  es heisst „Ich habe Menschen getroffen“, und es ist der zweite Teil, den ich erinnert habe, wo er von den Menschen spricht, die mit Eltern und Geschwistern in einer Stube aufwuchsen, „nachts, die Finger in den Ohren am Küchentisch lernten, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen, und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa die reine Stirn der Engel trugen. Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Schöne und das Gute kommt, weiß es auch heute nicht und muss nun gehen.“ Hier in Indien habe ich über die Jahre auch noch keinen Küchentisch gesehen, an dem die Kinder sitzen können. Sie sitzen meist auf dem Boden, und all meine Reden um die Notwendigkeit einer 100 Watt Glühbirne herum waren vergeblich. Ich kenne auch nur e i n Beispiel einer reinen Stirn. Lali, die ich seit ihrer Kindheit kenne, hat für meine Vorstellungskraft das schier Unvorstellbare durchwandert. Eine grässliche, von der gefühllosen Mutter arrangierte Ehe mit einem Irren, der sich vor zwei Jahren umgebracht hat, als sie zum Glück schon lange von ihm getrennt lebte, weil er ihre gemeinsamen Kinder sexuell belästigt hat. Ihr ältester Bruder ist an Alkohol gestorben, der zweite ist von Jugend auf ein Junkie, der dritte ist handlungsunfähig, eine wandelnde Schlaftablette. Da sitzt sie, Lali, mit mir beim Chaitrinken am Abend, als mir das Gedicht einfiel. Ich hatte mich ja selbst gefragt „was tun“ im Angesicht des Schrecklichen, außer den Schrecken zuzulassen und die eigene Ohnmacht wahrzunehmen und zu akzeptieren. An der scheinbaren Ausweglosigkeit von Lalis Schicksal kann ich sehen, wie viel Spielraum es trotzdem noch gibt. Hier sitzt ein Mensch, der durch innere Unbeirrbarkeit dem eigenen Wesen gegenüber eine Würde erlangt hat, die nur von innerer Haltung genährt wird. Wir sprechen darüber, wie es gelingen kann, das vorhandene Leid nicht auszublenden, und doch vor allem darauf zu achten, den inneren Zustand wesensgerecht zu halten, weil er ganz eindeutig der einzig verlässliche Stabilisator ist. Wird man einmal aufmerksam auf das Leid und den Schrecken, kann man leicht überwältigt werden, wem hilft das. Selbst wenn ich das Los der Tiere zu lange verinnerliche, ergreift mich eine Dunkelheit, von der ich mich entweder lösen muss, oder einer ernsthaften Verpflichtung im Kontext dieser Not nachgehen. Da komme ich immer wieder zurück zu diesem Punkt: wenn wir es uns ermöglichen, das zu tun und das zu leben, was unserem innersten Wesen entspricht, dann kann man sagen: das ist, was ich tun kann. Mein Beitrag zum Weltgeschehen, das ich in meiner Zeit durchwandere, mag mir zuweilen ziemlich dürftig vorkommen. Aber gemessen an empfundenem, innerem Reichtum und der Wertschätzung für die Möglichkeiten eines menschlichen Aufenthaltes und der Willigkeit, von den Besten zu lernen, die sich ernsthaft darum bemüht haben und bemühen, nun ja, das kann so viel Schaden nicht anrichten. Und wo auch immer es sein mag, wo über eigenes Bewusstsein weniger Schaden angerichtet wird, da entsteht Spiel-Raum. Wichtig, so wesentlich: der störungsfreie und gewaltfreie Raum.

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