ordnen

Wenn einem etwas unbegreiflich Vorkommendes begegnet, hat man ja immer noch Worte, aber welche Worte. Hat immer noch Bilder, aber welche Bilder. Auf der Titelseite der Zeit war das Photo eines  weinenden ukrainischen Bauers zu sehen, das hat mehr erzählt von dem, was wirklich unaussprechlicher ist als vieles andere. Dennoch will man Sprache und Bild nicht verlieren, sowie den Humor, den man braucht, will man nicht in Trübsal versinken. Ganz im Gegenteil, denn alles, was Wachsein unterstützt ist hilfreich. Und es stimmt, dass es zynisch klingen kann, will man ganz nebenher Putin Kredit geben für das große Aufrütteln, das die Weltordnung neu zu gestalten beginnt. Ein Anfang, an dem sich Menschen in verblüffender Einigkeit entscheiden, einen Preis zu zahlen, den noch keiner kennt und der gänzlich im Ungewissen gelagert ist. Natürlich sind wir überrascht. Es sind ja nicht nur die 70 Jahre Frieden, die wir erfahren durften, sondern in diesen Jahren ist viel passiert, was allen ErdbewohnerInnen ermöglicht hat, kundig zu werden über den Planeten, auf dem sie leben. Und bei diesem immensen Angebot der Neuorientierung mussten wir ganz persönlich entscheiden, wo wir selbst damit hingehen wollen, denn der Raum schien immer freier zu werden für das, was jedem  wünschenswert vorkam. Jedes friedvolle Miteinander ist eine Art Paradies, an das man sich gerne gewöhnen möchte oder das man zu Recht zu erhalten versucht. Und es gelingt ja auch häufig, und vor allem dann, wenn Menschen keine Angst haben müssen zu sagen, was sie denken. Und dass es eh kein Paradies war auf Erden, das wussten wir ebenfalls schon lange. Eigentlich, wenn man genauer hinschaute, kam es einem zuweilen vor wie ein offener Therapieprozess, in dem Heilung von Verirrungen und Verwirrungen der menschlichen Seinsweisen durchaus gelingen konnte, oder auch nicht. Der Wunsch nach neuen Umgangsformen und Lebenserfahrungen drückte sich sehr stark durch das viele Reisen aus, und Indien stellte für westlich Ermüdete eine vorübergehende Heimat dar, deren innere Architektur in das westliche Leben webte. Menschen wollten wieder erwachsen werden und Reife erfahren durch sich selbst. Da kommt es einem schon seltsam vor, wie viele Männer da noch auf ihren Stühlen sitzen und sich einer Zeit bedienen, die sich eigentlich schon längst selbst überholt hat, nun aber noch einmal ihre volle Wirkung entfaltet. Ein gefährlicher Kampf, das muss man schon sagen, obwohl dieses kriegerische Getümmel  auch in Games nicht gebannt werden konnte, und die epischen Werke voll davon sind. In Indien haben die Gottheiten immer Waffen dabei. Oft sind es Musikinstrumente, die aber im Kampf als Verteidigungsinstrumente benutzt werden können. So gelangt man leicht in den Zwiespalt und muss da schnell wieder raus. Weiterhin bleibt bestehen, dass man tut, was man kann.  Man muss es nur tun, und man muss es auch können.

Joyce Carol Oates

Joyce Carol Oates Portrait © Dustin Cohan

Das Leben ist Organisation, das Leben ist befristet, komplex, es besteht aus Wechselwirkungen, die wir beobachten, aber nicht erklären können. Es gibt immer eine bestimmte Richtung – immer einen Plan. Er besteht auf seiner eignen Erfüllung. Es ist der Sieg der Organisation  auf molekularer Ebene  über die Neigung zum Chaos. Aber er soll nicht begriffen werden, nicht einmal von seinen gewissenhaftesten, exaktesten Beobachtern.

entscheiden


Geisterstunde
Zwischendrin fiel mir der stets etwas naiv anmutende Satz (der Sixties) ein: Stell dir vor, es gibt Krieg, und keiner geht hin. Man kann solche Vorstellungen durchaus mal haben, auch wenn man gleichzeitig weiß, dass es immer welche geben wird, die hingehen, aus den verschiedensten Gründen. Noch schlimmer wie manche dieser Gründe ist es, wenn keine Wahl mehr da ist, wie jetzt für die Männer und Frauen in der Ukraine. Etwas Furchbares setzt sich in Bewegung: Frauen mit Kindern verlassen das Land, um irgendwo anders Flüchtlinge zu werden, und die Männer erleben dasselbe Schicksal, was sie und wir alle aus anderen Kriegen kennen. Wenn das Leid, das keinen Namen mehr hat, in den verletzten Körpern und Geistern sitzt und so viel Raum einnimmt, und selten wirklich Heilung erfährt. Wenn das schreckliche Wort „Welt-Krieg“ wieder über Lippen kommt, und man merkt, wie seltsam befremdlich es klingt, so, als hätte man die Vorstellung vollständig vergessen, dass so etwas Unvorstellbares wieder passieren könnte. Wir wissen und wussten ja auf die eine oder andere Weise, dass wir in einer doch sehr privilegierten Zeit leben, wir aus dem Westen vor allem, die wir uns in einem erstaunlichen Freiraum entfalten konnten und können. Was automatisch im Angesicht der verheerenden Vernichtungsvorgänge in dieser Welt immerhin eine Art Gegengewicht darstellte oder ein Bewusstsein, dass ich zwar die Geschicke, die auf mich zukommen von anderen Orten aus nicht lenken kann, aber immerhin von meinem eigenen Ort aus mir einen Weg bahnen kann durch das immense Chaos des Weltgestrüpps. Das ist doch das Abenteuer, für das ich gerüstet sein kann oder muss. Und selbst wenn ich den Umgang mit Bewaffnung kenne, kommt es darauf an, wie ich damit umgehe. Zum Beispiel irgendwann alle Waffen niederlegen: die Waffen des Mannes, die Waffen der Frau. Dazwischen die Kinder, die ihrem Beispiel folgen, ihren Gedanken, ihrer Handlungsweise. Und dann das unaufhaltsame Schicksal, dass die lebendige Realität der U6kraine bereits in die epische Ebene treibt. Wie aus einem riesigen Amphitheater starren die Länder auf die Beute und die Opfer einer menschlichen Entgleisung, geboren aus innerer Zwanghaftigkeit, die nur noch die Resultate verletzter Begierden durch die verdunkelten Filter lässt, und dann!, wenn die Isolation dieses Treibers spürbar wird, dann kann die Gefahr akkut werden. Damit müssen wir unbedingt rechnen. Mit einem in die Enge getriebenen Raubtier. Deswegen ist auch die Frage, warum Donald Trump, der neulich Wladimir Putins Genius lobte, nicht bereits im Knast sitzt, vor allem zurückzuführen auf Gehirne, die das Ausmaß dieser Entgleisungen einschätzen können. Derweil sitzen und stehen und ruhen wir also noch in unseren Schlaraffenwohngebilden mit allem, was der Mensch so glaubt, brauchen zu müssen, und warum auch nicht, obwohl in der Tat alles (unnötige)Brauchen ganz sicherlich einen Preis hat, für den sich jede/r Einzelne bereit erklären muss. Dann funktioniert das Ganze zumindest eine Weile ganz gut. Interessant finde ich auch, dass genau am hoffnungsvoll erwarteten Ausklang der Pandemie schon wieder etwas geschieht, was uns alle gemeinsam in Bewegung bringt und bei allen erwünschten Solotänzen die unleugbare Abhängigkeit von einander zum Ausdruck bringt. Und deshalb ist es einerseits zutiefst bedauerlich, dass sich die Menschen der Ukraine bei uns Deutschen beklagen, dass wir sie nicht mit Waffen beliefern, aber dass genau d a s die richtige Entscheidung ist und bleibt.

wappnen


Hoffnungsträger
Da hat er doch tatsächlich noch einmal einen Auftritt mit seiner sich lichtenden Farbe, der kranke Fisch im Prozess seiner Heilung, nun schon ein Symbol für das, was auch immer möglich ist. Was machen wir nun mit uns selbst und miteinander, seit wir ab gestern in die Schwärze des politischen Geschehens eingebunden wurden, überrascht, dass doch etwas sein kann, was die meisten für unmöglich hielten, so wie immer mal wieder viele etwas für undenkbar hielten, bis es denkbar wurde. Für die Befürworter dieses beunruhigenden Konfliktes kann es auch als günstigen Zeitpunkt gesehen worden sein, dass Menschen ermüdet und zermürbt sind von den Anstrengungen der Pandemie, man stößt an die Grenzen dessen, was man für aushaltbar hält. Man wiegte sich auch ganz gut in der Hängematte des Friedens, ohne ihn unbedingt als unermessliches Gut einzuschätzen, wohl wissend, dass währendessen an anderen Orten ein Krieg war. Immer war irgendwo Krieg, und da, wo er war oder ist, ist alle Helligkeit erloschen, obwohl es noch Spuren davon gibt in der gemeinsamen Not des Ertragens. Es ist müßig, hier ein Verstehen finden zu wollen, das gar nicht möglich ist.Wer der Mensch ist, der einen Befehl geben kann, an dessen Wirkung andere Menschen massenhaft umkommen oder alles verlieren, was ihnen lieb und wert war. Das sind sehr heftige mentale Bewegungen, die in dieser Zeit erst durch die Pandemie, nun durch die Nähe des kriegerischen Konfliktes in den Gehirngängen ausgelöst werden. Auf was muss man achten, und wie kann man verhindern, durch möglichst nüchterne Wachheit der Panik vorzubeugen, die Menschen ergreifen kann, wenn die Angst sich durchsetzt. Und Angst ist die Waffe, die schon immer funktioniert hat für die, die ihren Willen und ihre Gelüste auf Macht nicht bändigen können und wollen. Gestern fragten sich sicher in einigen Gegenden die Weiberastnachtsliebenden, ob man sich den Spaß verderben lassen sollte, und nein, man wollte ihn wohl haben, denn wo der Spaß, wenn man ihn braucht, aufhört, das muss jede/r selbst entscheiden. Vielleicht hat auch Putin Spaß, wenn er so am Game-Hebel sitzt und alle Figuren auf der Schaltfläche puffh puffh einfach umfallen. Er selbst ist ja ein Umgefallener, denn so, wie er ist, wird man nicht einfach, sondern man steht nach dem Umgestoßenwerden wieder auf und schmiedet ungünstigerweise düstere Pläne. Aber man weiß es ja alles nicht, was in den jeweiligen Gehirnen vor sich geht und muss sich weiterhin um das eigene Gehirn kümmern, damit man (wie immer) gewappnet ist für das Ungewisse.

zur Sache

All dieses Unglück!
Dieses in schrecklicher Ferne
dunkel Gelebte:
ein Strom,
eine Flut,
ein Soldatenheer.
Das Aufweichen und Erhärten
von Menschengesetzen.
Demütiges Einfügen in
Massenauftritte.
Teilnehmer und Teilnehmerinnen
beschäftigt mit Weben am
vorgefundenen und am
selbsterschaffenen Spiel.
Da staunt der Geist, wenn er
hineinsinkt in des Dunklen Heimatgrube,
des Gutgeglaubten ewige Kornkammer,
hinein in des Anderen farbiges Herzblut,
wo die Frage sich nicht stellt nach
existenzberechtigtem Beweismaterial.
Vor dem Sturm, nach der Flut.
Sagt’s mir,  wem es gelingen kann,
das fühlende Auge zum Schmerz des
Nächsten zu wenden, so als könnte
auch mir eines schönen Morgens
ein Sandsturm die eilige Sehrichtung
rauben, und ich wie so viele in dieser
schwer zu entziffernden Dramaturgie
säße auf einmal da
ohne Trost und Gut
bei den Trümmern.

klären

Das Bild habe ich, wie man deutlich sieht, irgendwo aus dem Netz herausgeraubt, wo jemand sicherlich Ähnliches damit ausdrücken wollte, was diese Maske so vortrefflich hergibt, nämlich das fassungslose Erschrecken und Entsetzen, immer wieder aktuell. Eigentlich schwebte mir als heutiges Bild vor, noch einmal den Fisch zu zeigen, dem ich neulich vor einem Heimaquarium begegnet bin und der während unseres Aufenthaltes am Kopf wieder eine Erhellung seiner ursprünglichen Farbe aufwies, bevor eine Krankheit ihn in ein Tiefschwarz getaucht hatte. Es hätte meine Deutung getragen, dass sich etwas Krankes auch in etwas Gesundes verwandeln kann, wenn es eine Möglichkeit der Verbindung gibt. Oder man noch miteinander redet. Oder irgendwann erkennt, dass auch das Reden nur noch eine Farce ist und das Drama sich bereits in den fünften Akt bewegt hat, von dem keine/r weiß, wie er sich auswirkt auf alle Beteiligten, sondern man kann auf einmal mit keinem, sondern muss mit allem rechnen, und dann auch noch mit allen, wenn es zum Härtetest kommt. In den amerikanischen Nachrichten höre ich etwas überrascht, dass Joe Biden Kredit dafür bekommt, dass Olaf Scholz die viel diskutierte Pipeline North Stream 2 zumindest vorerst für beendet erklärt hat. Man könnte auch sagen, dass die Verhältnisse sich geklärt haben. Nun weiß man, dass zumindest Putin nicht nur ein geheimdienstgeschultes Schlitzohr ist, sondern er ist auch der Zar von Russland, der noch nie auch nur das geringste Interesse an der waghalsigen Einführung einer Demokratie hatte, die, von einem Professor klug definiert, die „radikale Einschränkung von Macht“ bedeutet, und das als Idee, die möglichst von allen Interessierten bedacht und möglichst auch umgesetzt werden soll und kann, auch wenn ihr meist ein unvollkommener Beigeschmack anhaftet, weil sie aus einem lebendigen Organismus besteht und von der geistigen Beschaffenheit des Einzelnen seine Nahrung erhält. Wer weiß schon, wie viele Russen Putin gar nicht wollen, aber nun kann ihn keiner mehr von seinem goldenen Schlitten jagen, auf dem er sich mit hungrigen Wölfen in die eigene Phantasie peitscht und keiner es mehr wagt, sich seinen Befehlen zu widersetzen, ohne in irgendwelchen Gulags zu landen. In der letzten Zeit haben Russlandkenner  immer mal wieder darauf hingewiesen, dass man (auch) Putin von seiner Welt her verstehen muss, nun hat er selbst das Vermutete geklärt. Russisch war nach Deutsch meine erste Fremdsprache, und zu gerne hätte ich Dostojewski auf Russisch gelesen, aber auch auf Deutsch war es eine Tiefe, die man in sich ausloten musste. Oder Sergej Eisensteins Filme, die einem unter die Haut legen, wie und wodurch die Dinge oder beziehungsweise die Menschen entgleisen und was die Folgen dieser Entgleisung sind. Da schnappte ich heute früh  noch vor den Nachrichten die letzten Worte eines Priesters auf, der vermutlich aus der Bibel zitierte: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild“. Auch Worte können zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein.

einschätzen


Durchquerung des Raumes
Das griechische Drama enthüllt noch einmal und genau vor unseren pandemiebetäubten Augen seine Urstruktur: das unausweichliche Schicksal. Man sieht eine Menge Bewegung, um das  zu verhindern, was, so würde man gerne meinen, eigentlich keiner will, nämlich Säbelrasseln und dann legales Totschlagen und Totschießen. Aber man sieht auch, dass da vieles nicht gelingt und durch sein Misslingen  unaufhaltsam sich formiert in das, was man dann als das erkennen muss, was eigentlich vermeidbar hätte sein können, dann aber doch nicht. Und gab es wirklich einen Weg aus den abgrundtiefen Ängsten des Gesichtsverlustes, die gar nicht bewusst wahrgenommen werden, sondern der Hass stellt sich ein auf das Nichtverstandenfühlen und die Rachegelüste für fehlende Anerkennung und Akzeptanz. Wenn die Gräben oder der Irrsinn so groß werden, dass weder die diplomatischen noch die menschlichen Stimmen mehr durchdringen durch die errichteten Mauern, dann muss man mit einigem rechnen. Nun will man die kostbare Zeit nicht mit unnützen Gedanken verbringen und muss entscheiden, wie man die Lage jeweils vernünftig einschätzen kann. Gibt es Handlungsbedarf oder Mäßigungsbedarf. Es wird Hamsterkäufe geben, denn schon wird öffentlich geraten, für eventuelle russische Cyberattacken gerüstet zu sein, jetzt nicht mit Waffen, sondern mit Überbrückungsmaterialien im Falle von Strom-oder Gasausfall, oder was auch immer ausfallen kann, wenn politische Krisenherde sich auszubreiten drohen. Aber gut, ich hab’s mir mal gesagt, bleibe dann jedoch weiterhin bei den beweglichen Einstellungen des eigenen Systems und der Ruhe und Gelassenheit, die dort gefördert wird. Ansonsten soll morgen viel Sonne scheinen. Auch ihr muss man wieder ohne Fremdheit begegnen lernen.

überraschend

Die beiden kontrastreichen Bilder dokumentieren zwei Überraschungen, die uns während einer kurzen Reise in einen anderen Landstrich Deutschlands begegneten, bzw. sich unterwegs manifestierten. Das eine war die aktuelle Sturmflut, vor der gewarnt wurde und wo man auch in den kurzen Ruhezuständen mit herumfliegender Materie rechnen sollte. Auf der Autobahn war der Verkehr derart karg, dass wir zeitweise das einzige Auto in Sicht waren. Immer noch etwas Nieseln, dann aber langsame Aufhellung und trockene Bodenfläche. Alles schaukelte sich wohlwollend in den Modus des Staunens ein. Es ist verblüffend, wie viele Sorgen sich mühelos produzieren lassen, die sich im Nachhinein als vollkommen unnötig herausstellen. Da weiß man dadurch schon eher, dass etwas bereits in uns Liegendes sich mit dem potentiellen Sorgenfeld verbunden hat und nun seine Wirkung entfalten möchte. Da schien bereits die Sonne mal zwischendurch, und der Wind ließ locker. Alles zu Erledigende hatte sich bestens umgesetzt und wir fuhren weiter zu Freunden, um dort zu übernachten. Sie haben ein sehr großes Aquarium, in dem ein paar exotische Exemplare ihr eingeschränktes Leben durchschwimmen. Man muss sich immer wieder einreden, dass sie ja nichts anderes kennen. So wie es als Pelzmäntel extra gezüchtete Tiere gibt, so gibt es eben Fische, die zur Unterhaltung und Freude des Menschen in gewissen Gefängnissen herumirren, so, als könnte sich noch irgendwas in der Genetik daran erinnern, dass es auch mal anders gedacht war, das gehört dann zu den Archiven des kollektiven Vergessens. Nun gut, ich bin in meinem Leben noch nicht oft vor einem Aquarium gesessen und hatte auch als Kind keinen Goldfisch im Glas (dafür einen Wellensittich und eine Schildkröte mit Migrationshintergrund). Während fünf der Exemplare in bunten, schillernden Farben leuchteten, hing ein einzelner Fisch regungslos in einer Ecke, abgewandt von den anderen. Wir hörten, dass er schon wochenlang hauptsächlich dort verharrte und offensichtlich sehr krank war. Man sprach von einem durchlöcherten Gewebe und nahm an, dass er bald sterben würde. Wir nahmen Anteil und sprachen mit ihm. Der Hausherr fühlte sich angeregt, den Fischen einen Namen zu geben, aber nur der Kranke erhielt einen und der Besitzer nannte ihn Blacky. Eigentlich war Blacky von Natur aus gar nicht schwarz, sondern von nahezu hellblauer Hautfarbe, wovon nichts mehr zu sehen war. Allerdings passierte mal wieder ein Wunder, was ja ziemlich häufig der Fall ist, ohne dass man gleich aufschreien muss, und Blacky fing an, in die Mitte des Bassins zu wedeln, und dort blieb er auch, solange wir da waren. Am nächsten Morgen sahen wir, dass sein Kopf angefangen hatte, sich wieder blau zu färben. Ich würde durchaus so weit gehen zu behaupten, dass er sich durch die extra Aufmerksamkeit angesprochen fühlte und einen Energieschub erlebte. Oder erfuhr nur ich durch die intensive Teilnahme an seinem Schicksal einen Energieschub? Auf jeden Fall war der Himmel bei der Rückfahrt strahlend blau, und die Wolke oben im Bild fiel mir auf, und die Sonne schien auf die immer noch leergefegten Straßen, weil vor dem nächsten Sturmtief bereits gewarnt wurde.

Sándor Márai

Sandor Marai

Und ich will davon bis zum letzten Augenblick, solange man mich den Buchstaben niederschreiben lässt, zeugen: dass es eine Zeit gab und einige Generationen, die den Sieg des Verstandes über die Triebe verkündeten und an die Widerstandskraft des Geistes glaubten, der die Todessehnsucht zu zügeln vermag.

Aus: „Bekenntnisse eines Bürgers“.

fast

Draußen das Sturmtief. Drinnen: Ruhe.

Da fiel mir doch tatsächlich eins meiner
ersten Gedichte ein, wenn man es denn
so nennen kann. Es war in Englisch und
bestand aus zwei Worten.
„Imagine: almost.“ Stell dir vor: Fast.
Noch heute schaudert es mich.
‚Fast‘ ist immer so nahe. Beinahe.

(nicht) brauchen


Mental Olympics
Hier und da zeigen sich vorsichtig kommentierte Lockerungen, am Himmel, im Ukraine Konflikt, in den Pandemievorsichtsmaßnahmen. Klar ist, dass wir ab und zu etwas Sonne, aber keinen Krieg und keine weitere Viren-Mutation brauchen. Wenn bald alle wieder überall hingehen können, und die Masken nur noch irgendwo rumhängen als Erinnerung an eine Zeit, in der wirklich mal vieles anders war als sonst. Eine Menge neuer Worte sind dazu gekommen, die man dann nicht mehr braucht, die sich aber in vielen Berichten verewigen werden, und die Enkel der Welt könnten Geschichten hören von den Geboosterten und den Ungeboosterten.  Damals, als wir im Frühling 2022 einen Lichtschimmer am Ende des Pandemietunnels sahen und wie Omikron, der kranke, aber nicht tödliche Windhauch uns am Leben ließ. Eben das Leben, das wir immerhin noch haben und für dessen Gestaltung wir zuständig sind. Zwei Jahre bin ich in keinem Flugzeug gesessen, ich konnte es mir gar nicht mehr vorstellen, nach der Pandemie wieder in einem Indien anzukommen, das tausende von Menschen hat jämmerlich krepieren lassen, weil es keinen Sauerstoff mehr gab. Wo unzählige Leichen im heiligen Ganges an die Ufer geschwemmt wurden, weil die Menschen sich das Holz zur Verbrennung der Körper nicht mehr leisten konnten. Werde ich noch einmal dort landen können und mich ohne Maske im Land bewegen. Niemand weiß es und ich weiß es auch nicht. Eigentlich herrscht das Ungewisse immer vor. Es ist der eigentliche Zustand des Weltgeschehens. Wir bannen und festigen ihn ständig, den fließenden Strom. Wir kanalisieren unser jeweiliges Erleben in ein Verstehen hinein, das nur vorübergehend haltbar ist, denn es ist ja alles ständig im Wandel  und kann nur bedingt beeinflusst werden. Wir geben hinein, wer wir sind, das ist unsere Möglichkeit, Leben zu gestalten aus dem Geist heraus, der zur Verfügung steht. Um den eigenen Geist muss man sich kümmern, kein Zweifel, sonst rückt einem der Weltgeist zu leibe mit all seinen Schauermärchen und seinen Glückskeksangeboten. Nun hatten wir Gelegenheit, die sogenannten großen Fragen ein wenig näher zu bringen, nach Hause nämlich, wo meist auch Andere sind und mitspielen, und dann noch näher zu sich selbst heran mit der Frage, wie es nun mit einem selbst weiter geht. Oder vielleicht tauchen ja gar keine Fragen auf, und man wacht auf, schaut in sich hinein und um sich herum und erkennt das, was man tatsächlich schon lebt, und wird erfüllt mit einer tiefen Freude.

, aber…


Der Schein des Gutmenschentums
Offensichtlich war ich noch mit dem Ausdruck päpstlicher Formen beschäftigt, die in strahlenden Gewändern  unsägliches Leid hervorrufen durch Missachtung ihrer eigenen hehren Vorstellungen oder festgezurrten Gesetze wie: du sollst kein Leben zerstören. So kann man Schaudern und Staunen weiterhin in sich erfahren, wenn nicht weit von unserem kriegsbefreiten Leben dieselben Kriegsherren wieder bereit sind, wegen irgendwelchen unmäßigen Streitereien ein neues Schlachtfeld zu eröffnen, damit weitere Menschenmassen aus ihren Heimaten fliehen, um am Leben zu bleiben. Und die vielen anderen, denen das nicht gelingt, weil ein paar Dummköpfe sich nicht einigen können, da sie immer noch glauben, sich die Erde untertan machen zu können, hat doch immerhin ein Gott es so angeordnet. Vielleicht war es aber ein Feldherr, der das wollte und noch nicht wusste, dass es auch andere Maßstäbe gibt, nach denen man sich richten kann. Am besten natürlich den eigenen Maßstab erstellen und schauen, wo er mit anderen kompatibel sein kann, und wo nicht. Die Intelligenz, die für solche Vorgänge angemessen ist, ist durchaus vorhanden, denn da, wo die Masse Mensch gerüttelt und geschüttelt wird, wie zum Beispiel durch die Pandemie, da entsehen auch neue Denkräume, in denen sich die Gewohnheitsblockaden öffnen können oder gar müssen, und geistiges Stoßlüften kann stattfinden. Nun kommt es wie stets und bei allem darauf an, was ich damit mache. Leide ich darunter, dass ich nicht mehr wie einst in Läden herumstöbern kann, oder freue ich mich über die automatische Begrenzung meiner oft überflüssigen Wünsche. Wird zum Beispiel langsam gelockert und man findet heraus, dass Menschen weniger kaufen wie vorher, kann sicherlich auch die Wirtschaft langsam etwas herunterfahren und schauen, ob es neue Wege aus den Abhängigkeiten gibt, die einer Gesellschaft nicht gut tun. Dabei weiß ich selbst, dass jede Idee eines „Besser“ vor allem in der Erwartungshaltung bereits überflüssig ist. Auch im persönlichen Haushalt kann sich nur der Einzelne befragen, was man also an sich selbst noch schleifen oder polieren möchte, oder was für Begriffe man auch immer für diese Reflektionen anwenden möchte. In Indien ist mir einmal ein Gedanke vermittelt worden, der besagte, dass in dieser Zeit, also dem dunklen Zeitalter, ganz viele brauchbare Lösungsvorschläge für das gesunde Verhalten der Menschheit auftauchen würden. Pläne, die vollkommen einleuchten und die man durchaus für umsetzbar hält, die aber nicht mehr durchführbar sind. Das Aber bedeutet hier, dass das menschliche Intelligenzpotential sich alles Mögliche an guten Veränderungen ausmalen kann, und vieles davon geschieht ja auch, aber…Das Aber muss offen bleiben, denn wir wissen es nicht. Oder wissen wir es doch.

aufschlussreich

Es gibt an sich keinerlei dringende Notwendigkeit, sich mit den lebenden Figuren der politischen oder religiösen  Bühnen unnötig viel zu beschäftigen. Oder dass man eben nur d a s bedenkt, was die Geheimtür zur nackten Realität tatsächlich zulässt. Oder den Zugang zum noch wahrnehmbaren Darknet des Missbrauchs und der Korruption, sofern tatsächlich vorhanden und bewiesen und unumkehrbar von vielen in Kenntnis genommen. Aber natürlich kann man von diesen zeitweilig herrschenden Gestalten im dahinfließenden Strom des Weltgeschehens doch einiges lernen, wenn auch von der Schattenseite her gesehen, aber deswegen nicht weniger aufschlussreich für die eigenen Grübeleien. So bedeutet mir, vor allem auch als Nicht-Christin, das Verhalten des Papstes herzlich wenig, außer wenn beispielsweise eine weitere Anekdote missbräuchlicher Handhabungen ein ganzes Glaubenssystem ins Wanken bringt und man, wenn auch nur kurzfristig, die Erwartung hegen kann, einmal Zeitzeugin einer System-Sprengung zu werden, die das Wurzelwerk des faulen Baumes mit sich reißt und Platz macht, erst einmal für nichts als Raum an sich, in dem sich die Beteiligten von der Sprengung erholen können, bis neue Impulse sich auf den Weg machen. Was mir ganz persönlich (z.B.) von der Papst-Anekdote geblieben ist, geht über seine Person hinaus, obwohl er, Herr Ratzinger, seiner Kirche und sich selbst wahrlich einen Bärendienst erwiesen hat. Nun versteht er die Welt nicht mehr.  90-jährige Augen starren verletzt aus der Blase. Wie kann es  sein, mag er wohl sinnen, dass er, der Ex-Papst, die heilige geistige Unversehrtheit per se, nicht nur der Lüge bezichtigt wird, sondern man bezichtigt ihn auch noch des größten Übels, nämlich sein Ich, ergo sein Ego, in den Vordergrund zu spielen, weit mehr beschäftigt mit eigenem Leid als mit dem Leiden der Betroffenen. Der Punkt, den man sich für den Alltag merken kann, ist, dass er sich keinerlei Schuld bewusst ist. Es ist .m.E. nicht so, dass er wissentlich die Unwahrheit spricht, nein, sondern viel schlimmer: er ist total überzeugt von seiner Redlichkeit. Lange schon wohnt er in der schillernden Blase der Redlichkeit. Es ist kaum zu erwarten, dass jemand um ihn herum ist, der ihn darauf hinweisen könnte, dass da draußen noch eine andere Welt ist, die erwartungsvoll auf einen Mann schaut, für den sie gar nicht existieren. Das kann man für sich mal aus der Anekdote herausschälen und reflektieren, wie weit man selbst von der eigenen Redlichkeit überzeugt ist und gar nicht mehr in der Lage, das Resultat eigener Wirkung oder Verursachungen anderen Menschen gegenüber nüchtern einzuschätzen zu können, um notwendige Konsequenzen oder Erkenntnisse daraus zu ziehen.

W – (anonym)

Weltweit wandern wehmütige Wesen
am Wurzelwerk wild wuchernder
Wege entlang, während waghalsige
Wogen und  Wellen des Wahnsinns
wertfrei und wunderlich weben.

 

aus: „Misthäufchen“

nachfragen

Man kann sich auch den eigenen Gedanken zuwenden und nachfragen, was sie so vorhaben oder woher sie kommen. Gehören sie mir nicht?, oder bin ich identisch mit ihnen? Ich finde die Vorstellung, dass am Anfang, wie auch immer man ihn denken möchte, am Anfang also das Wort war. Das ist insofern nachvollziehbar, dass von da an das Wort zur Verfügung stand, also allen zur Verfügung stand, und Menschen Worte als ihre Möglichkeit erkannt haben, in Verbindung zu treten. Nicht, dass Verbindung im Raum des Wortlosen nicht wahrgenommen werden kann, und vielleicht ist gar Verbindung dort verankert, ohne an Anker gebunden zu sein. Doch von dort aus bewegt sich auch der Wunsch nach Manifestation, nach Verstehen des Erlebten, nach Erkennen des oder der Erlebenden. Man kann Worte suchen und finden, die einem entsprechen und die man erträglich findet. Man kann entscheiden, ob man Worte wie „boostern“ oder „Pieks-Putsch“ in den eigenen Sprachhaushalt aufnehmen möchte. Oder man legt mit dem inneren Wortschatz Sammlungen an. Große Worte, kleine Worte, Lieblingsworte, bereichernde und leere Worte, die man als Träger von Ideen einsetzen kann als das jeweils Erforderliche. Einfacher als die Idee, mich aus einer Affenrasse heraus entwickelt zu haben, kommt mir die Vorstellung vor, aus einer Welt zu kommen, in der noch nicht gesprochen wurde. (Ich meine jetzt nicht die Säuglingswelt, obwohl das Wortlose da auch zutrifft.) Nein, sondern so, wie ich einst vom alten Ägypten geträumt habe und wie das Wort noch aus dem Schweigen gerufen wurde, um damit das, was gebraucht wurde, über die Idee und den Ton zu manifestieren. Die Dinge erhielten ihre Deutung, bis sie nur noch bedeuteten, was man ihnen zugesprochen hatte, und nicht mehr mit ihrer Quelle verbunden waren. Es könnte sich als e i n e Bedeutung des ganzen Spiels herausstellen: dass alles gedeutet werden kann, in Wirklichkeit aber noch etwas anderes ist. So holt man viele von ihnen (den Worten) wieder zu sich herein und kommt ins Gespräch mit ihnen. Man kann sich nur wünschen, dass (z.B.) Wladimir Putin die Anregung spürt, mit seinen Gedanken ernsthaft und abwägend in Kontakt zu kommen, obwohl ich nicht anstrebe, die Meisterin des naiven Zugangs zu werden.

bewirken

Man könnte es auch so sagen: Da war ein Netztwerkfehler, und dadurch hat sich das System selbständig heruntergefahren. Erstaunt richtet sich die dort unten Gestrandete auf und schaut um sich. Wow!, denkt sie, das ist ja interessant hier unten, sozusagen in der Tiefgarage. Schön leer und leise. Warum sagt sie „unten“?  Weil es nicht oben ist. Es ist am Grunde. Sie spürt feinen Sand zwischen den Zehen, ein vertrautes Gefühl. Und dort steht auch der Banianbaum. Sie kennt ihn aus ihrer Welt der Bilder. Sie geht auf ihn zu, auf seine Säulen, seine Ruhe, seine Zeitlosigkeit. Hier scheint alles sie selbst zu sein. Scheint es nur so oder ist es. Kein Zwiespalt taucht auf. Keine Rastlosigkeit. Kein Smartphone wartet auf eine Hand. Das alles kann Krankheit bewirken und ans Licht des Tages bringen.

zuhause

Andrerseits ist natürlich der Name ganz wichtig, z.B. bei einer Diagnose. Erst vermutet man selber, was wohl mit einem los ist, dann weiß man es. Es hat einen Namen und kann behandelt werden. Ein heftiger Infekt hatte mich also irgendwann und irgendwo attackiert, und nun gab es die Medizin dafür, zum Glück nur für ein paar Tage. Während der akuten Phase vorherrschender Schmerzen und einer ansteigenden Zermürbtheit konnte ich weder lesen noch schreiben, eigentlich gar nichts, wenn auch mit bester freundschaftlicher Unterstützung, als mit mir zusammen zu sein und auszuhalten, was da gerade vor sich ging. Irgendwann dachte ich: was denke ich eigentlich?, und so paradox es auch klingen mag, erhöhte sich auf einmal mein Interesse, im Denkraum mal nachzuschauen, was da läuft. Da ist ja immer was los, und wenn man die Zügel loslässt oder sie einem auf einmal leise entgleiten, dann kann man ins Staunen kommen, wo das alles herkommt und hingeht und einen mitschleppt und wieder woanders hinfliegt. Wo es auf einmal hängen bleibt und eine Szene immer und immer wieder durchspielt, mal mit d e m Text, mal mit jenem. Wälzt sich träge dahin in bedeutungslosem Allerlei, oder erzeugt high level Drama, wo gar keine Bühne ist. Das läuft ab wie in Träumen, nur im Wachen kann man, wenn man möchte, mal zuschauen. Oder ein bisschen mitreisen von Blase zu Blase, und lässt dann weiterziehen, wobei es da schon wieder ums Bändigen geht. Und was ist das denn, was da wie von selbst vor sich hinagiert, so, als hätte ich es einmal ins Leben gerufen und es kommt jetzt einfach mal vorbei, In meditativen östlichen Praktiken wird dieses Treiben zuweilen mit dem Verhalten von Affen verglichen. Andere Praktiken raten, sich dem Denken ernsthaft zu widmen, sodass man es gut genug kennen lernt, um es auch mal zur Seite legen zu können, damit man sich d e n Dingen widmen kann, bei denen Denken eher stört, wie zum Beispiel bei der Bildbetrachtung oder bei der Atemübung usw. Dann kann man sich dem Kultivieren der Kunst zuwenden, in beiden Räumlichkeiten (des Denkens und des Nicht-Denkens) gleichermaßen zuhause zu sein.

Winterblues

Winter-Blues – das ist doch ein passendes Wort für die Zustände, die man in einem Winter erleben kann, der noch nicht einmal ein richtiger Winter ist, wo man mal auf glitzernde Schneeflächen schauen könnte, ohne dass sie gleich wieder zu Matsch verfallen. Doch nichts lockt einen (nämlich mich) in die glitschigen Furchen, und die Augen halten Ausschau nach was Belebendem. Wobei sich natürlich der Atem da draußen ganz wohlfühlt, das allein könnte schon reichen als Ansporn. Und man will sich ja schließlich auch die Unabhängigkeit vom Wetter bewahren, und wenn es einem gut geht, lässt sich das ganz zufriedenstellend bewältigen. Der Tag muss eh jeden Morgen neu erschaffen werden, und nicht immer wacht man auf wie eine Löwin und legt die lebensfrohe Tatze auf den Überlebensplan. Und dann dieses dritte Jahr der Pandemie, in der das kollektiv Nichtgewusste in den Vordergrund tritt, das Navigieren im Ungewissen aber nicht kollektiv geübt wurde, oder wurde es doch geübt, eben bewusst oder unbewusst. Zuweilen denkt man ja, alles auf diesem Planeten sei so ziemlich durchdefiniert und leidet eigentlich eher an seiner Namensgefangenschaft, vom All bis zur Medizinkapsel. „Das ist Standard“, sagte die Ärztin zu mir, wohl mit der Bedeutung verknüpft, dass man das zur Zeit unter diesen Bedingungen gibt, ohne dass gewährleistet ist, dass dieser Standard auch jedem System Heilung ermöglicht, oder nennen wir’s lieber Unterstützung. Es hat auf jeden Fall einen Namen, und Heerscharen von Tieren sind dafür krepiert. Jemand schlug gestern vor, ich könnte unter dem Weißkittel-Syndrom leiden, das Wort kannte ich (auch) (noch) nicht und checkte kurz nach und nein, ganz so weit ist es noch nicht. Auf jeden Fall bin ich noch offen für Überraschungen, also auch die, die ich selbst erzeugen kann. Dann hat mich das Wort Winter-Blues dazu inspiriert, einen Text zu schreiben, der das alles einfangen kann, aber mein Bild (oben) ist schon trostlos genug, und Leonard Cohen hat einiges meisterhaft Unerträgliche von sich gegeben, das diese Lücke nach Bedarf bereichern kann. Genau, es geht um das Ertragen des einem unerträglich Vorkommenden. Nicht unter zwanghaften Bedingungen, nein!, das kann nicht gesund sein. Freiwillig und leidenschaftlich ertragen, das wär’s doch. Das, was man nicht ändern kann. Bis es von selbst vorüber geht, oder man gelernt hat, einen angemessenen Umgang damit zu finden, der einem bestimmten,  inneren Unruhe-Strang ein Ende setzt. Außerdem ist ja das Licht an sich noch da. In der indischen Wüste habe ich meine Augen immer an der Weite und dem Nichts weiden lassen, es hat ihnen gut getan. Hier vergesse ich manchmal, das die  Weite und das Nichts überall sind. Namenlos atmet das Ungewisse.

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Meine Ordnung ist durcheinander geraten. Ich meine die, die einem selbst entspricht und die einen angenehm durch den Tag transportiert, mit Freiräumen darin und Spielplätzen, die die Handlungsfähigkeit in Gang halten. Dann plötzlich schlägt etwas zu, ein Insekt oder ein Virus oder ein Infekt, lang oder kurz, bedrohlich oder weniger bedrohlich, es ist ein Gong. Dann höre ich mich, fast erstaunt, zu mir sagen: Hey, du bist krank. Man kann das ja nicht erwarten, tut man nicht eh schon, was man kann. Außer der täglichen Bewegungsstrecke, das könnte noch mehr werden, und wer will sich schon auf das Frühjahr fixieren, das ja kommen muss, damit man sich wieder daran erinnern kann, wie es ist, einen Sonnenstrahl auf der Haut zu spüren. Man kann sie gut verstehen, die Winterflüchtlinge, und viele dachten, ich gehe im Winter nach Indien wegen der Sonne, aber dort habe ich sie erst kennen gelernt. Sie hat mich mit Unterstützung von kulturellen Riten von einem Nacht-Mensch in einen Tag-Mensch befördert, mit frühen Morgenden und nicht zu späten Nachtzeiten. Dort wurde ich auch jedes Jahr mit großer Regelmäßigkeit krank und lernte die Furcht kennen, in ein indisches Krankenhaus zu kommen, ausgeliefert an das gründlich Unfassbare. An menschlich Undurchdringliches gebunden, wissend, wie wenig ein Menschenleben irgendwo bedeuten kann, wo einen keiner kennt. Wo man dem Arzt Vertrauen schenken muss, ob man will oder nicht. Oder klar, den Richtigen finden, der noch Zeit hat, einen in der aktuellen Not zu begleiten. Ansonsten muss man vor allem aufpassen, nicht in die Maschinerie zu geraten, das kann sehr schnell gehen. Wenn man krank ist, wird man herausgeschleudert aus dem Weltgetriebe. Man ist ja verknüpft und vernetzt, und auf einmal ist man nur noch krank. Schmerzen, die einem auf engstem Raum zusammenhalten. Da merkt man dann erst, wie das Chaos im Kopf schon läuft. Ein paar Tage konnte ich keine Zeile lesen und schreiben. Dann habe ich den Samstag mit dem Sonntag verwechselt, also Leonard Cohen am Samstag statt am Sonntag. Nicht, dass es jemandem auffallen würde, aber hallo, es ist doch aufgefallen. Hey, sagte der Freund, keine Beiträge?! Genau, konnte ich dann sagen aus meiner Unwohlseinsblase heraus: ich bin krank und seit ein paar Tagen schon zu schwach, um am Schreibtisch zu sitzen, und meine Aufmerksamkeit  war sowieso nur auf den Zustand gerichtet:. Das Krallen, das Stechen, das Wehtun. Oder die Möglichkeiten des Gegensteuerns bedenkend. Man will ja das Vertrauen in sich steigern, dass man zu angemessenen Entscheidungen gelangt, eben auch nicht ausschließt, dass es zu ärztlicher Behandlung kommen muss. Das habe ich auch jetzt entschieden. Auch wenn man eine Fachkraft zu rate zieht, muss man nicht unbedingt Glauben schenken, aber es hilft doch in der Ausrichtung. Krankheit bringt einen nahe an den Körper heran. Das kann sie auf jeden Fall. Der Geist wiederum muss sich einstellen und die neuen Bedingungen unterstützen. Das ist nicht so leicht, wenn auf einmal die Pferde davon galoppieren. Bis man sie finden und wieder beruhigen kann.

So viel

 

So viel vom Ich
an Wirkung und an Rändern,
und mittendurch der Weg
der Dornenkrone.
Um eine Frau legt sanft und
leise sich ein Tier.
Ein Heer. Ein Blick.
Ein Dankgebet am Morgen.
Ein inneres Sein,
an dunklem Flussbett ruhend.
Als wäre ich die Andre von der
Einen, und ließe den süßen Apfel
in die Stille fallen.
Das Niegedachte greift von hinten
förmlich an. und ebnet sich im
tiefen Grund der Spiegel.
Und das bin ich.
Das Reich der Tausendjährigen
verstrich und legte mir ein
Bildnis um den Hals.
Das Gleich trägt meine Stimme
gelassen aus dem Namensteich.
Da draußen wehen Winde.

hinführen

Bevor etwas einfach werden kann, wird es meist ungeheuer komplex. Mir fällt eine Szene ein, die fest verankert ist in meinem Gedächtnis. Ich lief durch den Wald und sah auf einmal zwischen zwei weit auseinander stehenden Bäumen eine winzige Raupe fleißig an ihrem Seil basteln. Das Seil war schon meterlang und schwang mit dem Tier hin und her. Würde mich das tiefe Staunen dieser Beobachtung nun nicht mehr loslassen und ich wollte herausfinden, wie das möglich ist, würde es sofort komplex werden. Ich würde mit allen fädenspinnenden  Raupen der Welt früher oder später in Kontakt kommen und hätte Bücher über sie und alles, was Menschen schon vorher über sie gewusst haben. Und dass die wunderbaren Rätsel der Welt anderen ebenfalls aufgefallen sind. So gibt es auch über den sogenannten inneren Weg tausende Bücher mit Anweisungen und Geschichten und Anekdoten und Ratschlägen und Formeln darüber, wie einer erreicht hat, von was er schreibt und nun möchte, dass andere angeregt werden zu diesem Weg, obwohl es nur einen gibt, eben jeweils den, den man geht. Nichtsdestotrotz braucht es die Anregung, den Kontakt mit der Materie, für die man sich erwärmt, die einen anspricht.  Auch dass man vom Weltgeschehen immer  einiges ausklammern muss, um klarere Umrisse zu finden von dem, was man selbst ist. Die Zerbrechlichkeit der eigenen Wahrnehmung zu stabilisieren, denn es kann doch leicht zerbrechen, was keine Fassung hat und nicht bedacht und begleitet wird mit Aufmerksamkeit. Mit Liebe, möchte man sagen und bremst sich der Komplexität des Begriffes wegen. Wir wissen von Händen, die tagsüber Vergasungsbefehle gaben und nachmittags über Kinderköpfe streichelten, so als könnte beides miteinander vereinbar sein. Das Kennenlernen von sich selbst unterliegt keinem Zwang, und Gefängnisse sind nicht berühmt für Erleuchtungen, eher für Stumpfsinn und Schwächung des Augenlichtes. Ich habe irgendwann einmal angefangen, meine Innenwelt (u.a.) als ein Rotationssystem zu sehen. Das heißt ich erlaube mir zu surfen, wohin ich mein Denken führen möchte, lasse aber genug Raum, um Beweglichkeit zu gewährleisten. Damit sich nichts verbohrt und keine Welle zu attraktiv wird, um in ihr verloren zu gehen. Vieles gilt es erst einmal zu unterscheiden, dann die Entscheidungen zu benennen, dann nach Wegen forschen sie umzusetzen, wenn sie einem wesentlich erscheinen. Dann, nach Jahren in den scheinbar paradiesischen Anlagen des Labyrinthes entdecken wir wie durch Zufall ein Tor oder einen Satz oder einen Vogelschwarm, und die Strukturen lösen sich auf, weil sie getan haben, was nur sie konnten. Nun also weiter. Mal sehen, wo es hinführt.