Glücksfall

Gestern war ich unterwegs (online), da wurde ich durch den algorithmicus youtubicus auf einen Vortrag aufmerksam und hörte auch bis zum Ende zu, als das ganze Publikum sich erhob und dezent klatschte als eine Art Geste der Verneigung vor einem Mann, der sein schwer vorstellbares Schicksal im bestmöglichsten Sinn meisterte. Nach einem Unfall, (massiver Stromschlag) mussten beide Beine amputiert werden und der linke halbe Arm fehlte auch. Der rechte Arm war so verblüffend lebhaft, und so war der Geist und sein Inhalt, sodass einem das körperliche Desaster erst nach und nach auffiel. Die modernen Prothesenbeine, nicht verhüllt, sondern sichtbar, manchmal übereinandergeschlagen, es war nicht so einfach, hinzuschauen. Sein Thema war die Nähe des Todes, in die er viele Male  gekommen war. Ja, er beschrieb seinen Heilungsprozess als die Nähe des Todes an sich, und sein Leben und seine Arbeit kreisten ganz eindeutig um diese Nähe herum, die er den Menschen ans Herz legen wollte. Das konnte er gut. Einem klar machen, wie dieser Tod auch immer da ist, fast unmerklich, aber untrennbar verbunden mit dem lebendigen Vorgang, dem das Vergängliche beigegeben ist wie jedem guten Essen und dem Erstaunen, dass sich die Neujahrszahlen zu einem Leben reihen, dessen Träger günstigerweise wahrnehmen können, dass ein unvermeidliches Abenteuer noch auf uns wartet, wenn alles, was gelebt wurde, sich sammelt an einem Tor, und dann: wo ist der Schlüssel. Einmal, als ich in Kathmandu lebte und ein guter Freund von uns starb, war ich froh,  dass ich gute Beziehungen hatte zu den dort lebenden Buddhisten und ihren Mönchen, die sich bereit erklärten, die Bardo-Reise für ihn zu organisieren. 49 lange Tage, begleitet von denen, die wissen, was da los ist und einem das Gefühl geben, der oder die Gegangene ist gut aufgehoben. Die Trompeten bliesen, die Rituale liefen, wir wurden jeden Tag informiert, wie es ihm geht, und dass er nicht einschläft und auf irgendeine Nebenstraße abzwitschert, wo es doch darum geht, das, was unterwegs ist, in die nächste Geburt zu geleiten. Fängt man bei so etwas zu zweifeln an, muss man eigene Wege finden und gehen. Ist man von Wärme und Freundschaft umgeben, fällt den Anwesenden sicherlich eine adäquate Form ein, wie man den Abschied gestalten kann, um der Trauer den angemessenen Rahmen zu geben, oder auch, um Wünsche zu erfüllen, die rechtzeitig geäußert wurden. Die Reise auf dem Planeten kann einem lang oder kurz vorkommen, es kommt immer auf die Wahrnehmung und das Wahrgenommensein an. Der Sadhu-Mönch sagte heute früh am See, es würde sehr lange dauern, bis einer ein Mensch wird, und immer, wenn es geschieht, sei es ein Glücksfall. Sagte ein Alien zum anderen: „Das ist also der berühmte, blaue Planet, auf dem die Glücksfälle kommen und gehen.“

Das Bild habe ich in den letzten Tagen während des Sterbeprozesses einer Frau gemalt, die ich nur vom Hörensagen kannte, die mir aber dadurch vertraut wurde.

 

 


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