erschüttern

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Dass Indien einen u.a. regelmäßig tief erschüttert, liegt natürlich auch daran, dass sich so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann oder bislang nicht vorstellen konnte, vor einem abspielt. Abspielen ist hier das entsprechende Wort, denn es passt zum indischen Konzept des „Großen Spiels“, Maha Lila, mit dem man das dramatische Treiben des Menschenstromes einigermaßen fassbar machen kann. Es gefällt mir persönlich besser als „Baghwan ka Lila“, also das „Spiel Gottes“, wo man dem Unsichtbaren das ganze Spektakel aufbürdet, so als hätte Er/Sie/Es nichts Besseres auf dem Spielplan als das, was sich auf dem Planeten generell darbietet – abgesehen davon, dass man auch oft genug in tiefes Staunen verfallen kann ob der vorhandenen Schönheit und ihrem ebenso täglich verfügbaren Glanz. Aber es ist auch kein Zweifel, dass ich in einer deutschen Stadt z.B., wenn ich mich mal aus irgendwelchen Gründen dort vorfinde, mich zumindest auf den ersten Blick unter Aucheinkaufenden vorfinde, die mit Tüten und Taschen very busy hin-und hergehen, so als hätte das Leben vor allem Läden zu bieten, durch die man sein Innenleben erweitern kann. Die indischen Straßen, gefürchtet und belebt von allen, kann man nur das nackte Dasein nennen. Nichts bleibt einem erspart an vorübergleitendem Prunk und offen sichtlicher Grausamkeit. Nun hatte ich gestern dieses Erlebnis. Ich stand bei OmJi, dem einzigen und ehrenwerten Pakoraverkäufer, von dessen Räderwagen ich manchmal Pakoras zu Lali mitnehme, die wir dann bei Chai zu uns nehmen. Ich warte da also ein bisschen, bis sie schön dunkel gebrutzelt sind, dann die grüne Soße dazu mit einem Schuss Zitrone. Da sehe ich gegenüber ein groteskes Geschöpf sein Unwesen treiben, während die Umstehenden emotionslos darauf starren. Das Wesen fuchtelt irre mit einem Büschel aus Pfauenfedern herum, und langsam fokussiert sich mein Blick und ich denke….das ist doch…Ich frage OmJi, aber der starrt ins Leere und schweigt wie einst sein Vater. Ich gehe hinüber zum nächstbesten Brahmanen, die immer alles wissen und sage…das ist doch nicht Mukesh…??? Doch, er ist es. Der Angesprochene erklärt mir, dass Mukesh jetzt so viel Heroin nimmt, dass er nicht mehr zu Sinnen kommt, was Lali mit ihrem eigenen Begriff „out of human“ nennt, da auch ihr Bruder im Junk verloren ging. Alle betrachten, wie gesagt, emotionslos das letzte Kapitel dieses Lebens, und ich gehe erschüttert weiter. Ich kenne seine Geschichte. Er ist schwul und hatte jahrelang einen Liebhaber aus Canada, bis ihn die Familie gezwungen hat zu heiraten. Man kann schon sagen, dass die beiden Männer durch Abscheu permanent gequält wurden, dann war Mukesh allein mit dem, was man hier gerne als heilbares Leiden sieht. Dann bin ich zu seinem Bruder, einem Priester. Warum holt ihr ihn da nicht raus, frage ich, er ist doch noch jung. Der schüttelt müde den Kopf und erklärt, wieviel schon getan und gelitten und nun aufgegeben wurde. (Nur nicht sein gelassen). Nachdenklich sitze ich bei Lali. Sie erzählt mir, dass Mukesh zwei Kinder hat und seine Frau irgendeiner schrecklichen Arbeit von Tür zu Tür nachgeht, um ihre Kinder durchzubringen. Ich habe gelernt, das Gefühl der Ohnmacht als wesentlich zu empfinden. Was ich gefährlich finde, ist die Gefühllosigkeit, die sich in diesem Drama gerne anbietet, weil so ziemlich alle von der Realität ihres Schicksals überfordert sind. Was allerdings mir die Teilnahme an und die Distanz zu diesen Schicksalen schenkt ist die dringende Notwendigkeit, für sich selbst eine innere Ausgleichung zu finden, die weder ertarrt ist noch in zu großer Bereitschaft, sich permanent an den Geschichten aufzureiben. Man muss die Ohnmacht aushalten können, vor allem aber die Liebe nicht verlieren. Ich danke dem Land und allen Wesen, die sich darin bewegen, dass ich immer noch teilhaben kann am Lernprozess dieser Kunst, aus deren lebendiger Quelle vermutlich alle meditativen Ideen entsprungen sind. Vielleicht erscheinem einem diese exportierten Lehren im Westen deshalb so künstlich und bedenklich in ihrer imaginierten Wirksamkeit.

Die Illustration ist aus der Times.


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