Geräusche

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Heute früh ab sechs Uhr hatte das Elektrizitäts-System mal wieder einen Kollaps. Ich nenne den Ort ja immer wieder mal „Dorf“, aber eigentlich ist es inzwischen eine Kleinstadt geworden, die ganze kleine Stadt also in tiefstes Dunkel gehüllt. Die Leute, die Generatoren haben, schlafen noch um diese Zeit, da sie späte Nächte haben wegen dem anderen Zeitgefühl der Fremdlinge, die den Indern, die mit ihnen in irgend einer Verbindung stehen, ihre „Nektarstunde“ des frühen Aufstehens ausgetrieben haben. Heutzutage muss man aber schnell sein im Genuss der einzigartigen Stille, die sich durch die gelungene Störung in der Atmosphäre ausbreitet, denn seit unzählige Smartphonechargingkabel an den Steckern hängen, dauern die Stille-Ekstasen nicht mehr so lange wie früher, wo es sich um Stunden drehen konnte, bis wieder Licht und vor allem Lärm in den gemeinsamen Lebensraum kam. Der verantwortliche Elektriker möchte vermutlich nicht von Abhängigen gelyncht werden. Ich also sogar die vorhandene Kerze wieder ausgepustet und zum Hineinlauschen zurechtgesetzt. Ein starker Wind saust draußen herum, wahrscheinlich Auslöser der Störung. Dann das Knirschen und Brechen und Treten von Plastikteilen, das mich früher einmal so irritiert hat, dass ich (ungeschminkt) hinaus ging, um zu sehen, was in aller Herrgottsfrühe täglich solche Geräusche macht. Es war ein junger Mann, der von den Abfallhaufen, die später abgeholt werden von Angestellten des Bürgermeisteramtes, d i e Dinge herausfischte, die er offensichtlich irgendwo in Münzen umsetzen konnte, vor allem Plastikflaschen und Kartonteile. Das Paket war dann so riesig, dass er es auf dem Kopf tragen musste. Dann kracht, auch immer zur gleichen Zeit, der beingelähmte Bettler vorbei auf seinem Rollenwägelchen, ein furchtbares Geräusch. Dann Stille, uffh, selten geworden. Wäre das Licht schon zurück, würden aus vielen der Tempel schon diverse Gesänge und Vorträge schallen, an die man sich notgedrungener Weise gewöhnen lernt, weil, das weiß man, bzw. ich, dass eine Klage nichts bringen würde. Ich war ja bei den Nath-Mönchen letztes Jahr, um über das grässliche Ton-Gekratze zu klagen zwischen 5 Uhr 15 und 5 Uhr 45, und bin gescheitert, weil es dem Obermönch selbst so gut gefiel, eine Art Foltergerät für sensible Ohren. Der Trommler, den ich dann höre wie immer um diese Zeit, ist eine Ausnahme, weil er so schön trommelt, dass man gerne zuhört. Dann ist auch er wieder verschwunden. Eigentlich kann man kühn behaupten, dass die meisten Inder jegliches Gefühl für Stille verloren haben. Vielleicht leben sie auch in ähnlicher Verfassung, wie man es von Techno-Volldröhnungen kennt: man nimmt Zuflucht am Kern des Wesens, so wie auch der Wirbelsturm sein stilles Geheimnis mit sich trägt. Man lernt, das Unerträgliche als Kulisse zu behandeln, wobei hier ganz eindeutig die Gefahr der Abstumpfung droht. Im Zugzwang, die verbleibenden Minuten der elektrischen Störung gut zu nutzen, fällt auf, dass es so ja gar nicht geht. Ich denke an unser Haus in Deutschland, wo man morgens nur die Vögel hört, allerdings oft ohne das Licht der Sonne. Prompt gehen die Glühbirnen wieder an und der Tag dehnt sich in das ohrenbetäubende Crescendo hinein, in dem das ungehemmte Hupen und Rattern der Motorräder die Herrschaft übernimmt. Na ja, das ist der Bazaar, und auf der anderen Seite des Hauses ist es tatsächlich oft etwas stiller, nur das Gekreische der Badenden im heilig gesehenen See, und täglich auch das berühmte und berüchtigte Gezeter der Brahmanen untereinander und mit den Pilgern, wenn die sich nicht richtig benehmen oder zu wenig Kohle da lassen. Klar, dazwischen ein Pfauenschrei, ein Hundegebell, das Muhen der Ochsen und Kühe, die durch die Gegend traben. Die Ohrstöpsel sind auch sehr beliebt. Ich habe neulich mal einen jungen Mann gefragt, was er denn da so hört, aber er hatte nur die Stöpsel im Ohr. Ohropax fällt einem natürlich auch ein, wo war denn gleich mein Döschen? Alle erfahrenen Indienreisenden haben sowas dabei. Stilles, leuchtendes, meditierendes Indien? Auf der Ebene der Geräusche lernt man auf jeden Fall die angebrachte und erforderliche Akzeptanz dessen, was durch niemanden mehr zu regulieren ist. Indien ist nicht nur sehr lebendig, sondern auch sehr laut.

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