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Die Abstraktion der Wunde
In Indien fand ich es meistens einfacher, die mir bekannten Menschen in ihren Wohnorten (Höhlen – Hütten -Häuser) zu besuchen, als selbst besucht zu werden. Als noch unerforschtes Subjekt aus der Fremde konnte ich es uns allen in der Einspielphase erleichtern, mobil und neugierig auf alles zu sein, und der Gap zwischen Gästin und Gastgeberin war gar nicht im Blickfeld vorgesehen (und erledigte sich endgültig an der Feuerstelle). Während Höhle und Hütte und Dhuni frühzeitig vertraute Orte für mich wurden, exklusiv von Männern bewohnt und gehütet (außer dem meinen, meinem Ort), änderten sich meine Einblicke, als ich über Frauen einen Zugang zu ihren Aufenthaltsorten erhielt. Hier bewegte sich ein anderer Teil der Geschichte, als Haushaltspfad bekannt. Hier gab es wenig Wahl, vor allem für das weibliche Geschlecht, aber die Schöpfungskraft der Ehemänner reichte auch nicht weit über sie oder sich selbst hinaus. Manchmal beneideteten mich die Frauen (nachdem sie mich schon ausgiebig über mein Alleinsein bedauert hatten, so ganz ohne Baby und Mann, wie kann es sein) um mein Freisein bzw. das Freisein der westlichen Frauen, weil wir so viel Wahl hatten. Aber kann das nicht noch verwirrender sein, so viel Möglichkeiten zu haben, als zu wissen, dass man ab der Heirat keine mehr hat und sich umschaut, was daraus noch zu machen ist. Die Frauen gelten auch hierzulande als Herrscherinnen im eigenen Haus, und ich habe viel gelernt, wie man mit dem Unvorstellbaren umgehen kann. So war ich gestern bei Reena eingeladen, wir wollten mal sehen (oder wollte nur ich es sehen), was so aus uns geworden ist nach all den Jahren, die wir uns nicht mehr getroffen hatten. Wir haben viel zusammen erlebt, z.B. sind wir über zwei Jahre hinweg in ein Krankenhaus gefahren und haben uns dort mit Frauen getroffen, deren Ehemänner alkoholabhängig waren oder immer noch sind. So auch Reenas Ehemann, der wie ein todkrankes Gespenst durch den Marmorpalast schlich und scheinbar weiß, dass der Tod sich nähert und er nicht herauskommen wird aus dem Sog der Trunkenheit. Er ist ein Arzt, der sich selbst nicht helfen konnte, und nun haben alle nur noch Mitleid mit ihm, sagt sie. Sozusagen als Ausgleich für und Ablenkung von dieser unausweichlichen Tragödie hat sie eine leidenschaftliche Abhängigkeit vom Smartphone entwickelt (erzählt sie strahlend), jede freie Minute pumpt sie sich begeistert vor allem mit Filmen voll, auch soll ich unbedingt mit ihr den zweiten Film von „Avatar“ ansehen, und das auf Hindi! Es löst ein Wohlbefinden aus, wie sie so herzhaft zu allem steht, was sie gefunden hat, obwohl es mich einige Muskellockerungen kostet zu sehen, wie gut sie mit diesen persönlichen Methoden umgeht. Es ist auch nicht zu übersehen, dass sie aus ihrer Falle einen Marmorpalst gemacht hat, in dem emsige Dienstgeister sich um alles sorgen, denn sie ist ausgestiegen aus der Koch-und Putzpflicht. Sie macht aber selbst den guten, hausgemachten Chai für uns, großzügig serviert in einem prächtigen Glas, und neben dem Gaskocher läuft auf ihrem Smartphone eine amerikanische Komödie, wo über das Dümmste zwischen Mann und Frau gelacht werden darf. Auch ist sie heilfroh, dass er (ihr Ehemann) überhaupt noch da ist, sonst wäre sie Witwe, also so viel wie der Schatten auf einer Nebenstraße.

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