Von Asha, als sie schreiben und malen
lernte und es schon ganz gut konnte
Gestern war die junge Frau bei mir zu Besuch, die ich gerne lächelnd als meine Tochter vorstelle, denn jede/r weiß, dass sie nicht meine Tochter ist, aber sie verstehen dadurch, um welche Art von Beziehung es sich handelt. Außerdem ist es in Indien üblich, dass man die Bevölkerung und ihre Einzelwesen mit familiären Bezeichnungen anspricht, wodurch Menschen auf subtile Weise eingebunden werden können in eine andere Aufmerksamkeit, als sich dem oft gefürchteten Fremden gegenüber vorzufinden. Ob ich tatsächlich Muttergefühle für Asha empfand, dafür müsste ich mehr Erfahrungen mit Muttergefühlen haben. Wir haben ja alle eine potentielle Spur von allem in uns, aber diese Spuren müssen auch aktiviert werden und als solche erkannt. Ich selbst habe mich in meiner Beziehung mit ihr mehr als eine Agentin (pratinidhi) gefühlt. Ich spüre noch, unterwegs auf einem staubigen Pfad, meinen Blick auf dem grauen Bündel ruhen, als ich eine Bewegung wahrnahm. Ich habe ihr später nie erzählt, dass ich einen Moment lang dachte, ein kleines, verendendes Tier zu sehen, aber nein, es war ein winziges Menschenkind, und niemand in der Nähe, dem es zu gehören schien. Man nannte mir in der Nähe eine Frau, eine „Heilige“ genannt, sie war Ärztin und bat mich, dem Kind einen Namen zu geben, und ich nannte sie „die Ayesha“. Auf der Namenssuche hatte ich vor einer Moschee einen alten Mann getroffen, den ich um den schönsten Namen bat, den er kannte. Es sagte „Ayesha“, und der Name gefiel mir. Später änderten ihre Adoptiveltern den Namen zu „Asha“ – Hoffnung. Sie kam also gestern und brachte eine Menge leckerer Sachen zum Essen mit, ich hatte auch morgens Manchu in den Bazaar geschickt nach Süßem und Salzigem. Es ist das dritte Jahr, dass wir uns nicht gesehen haben, aber die Zeit lag nicht zwischen uns. Ziemlich schnell ließen wir uns auf unsere gemeinsame Geschichte ein. Ich hatte mich immer bemüht, ihr so viel wie möglich von ihrem Lebensanfang zu berichten, aber obwohl ihr Englisch und mein Hindi sich ständig verbesserten, konnten wir eigentlich erst jetzt eine verständliche und runde Geschichte vor uns ausbreiten. Als ich sie fragte, ob sie noch manchmal an diesen schwierigen Anfang denke und an ihre Mutter, meinte sie ihre Adoptivmutter, die an Krebs gestorben war. Ich meinte die leibliche Mutter, die bei Ashas Geburt 15 Jahre alt war, erzählte mir eines Tages die Ärztin. Es stellte sich heraus, dass sie im naheliegenden Krankenhaus, wo ich sie gefunden hatte, geboren war. Die Mutter sollte wohl noch ein paar Tage da bleiben und dann das Kind zur Adoption freigeben, aber sie hatte es mitgenommen und wir wissen es nicht und werden es nie wissen, was in der Kind-Mutter vor sich ging, als sie erkennen musste, dass es nirgendwo für sie und das Kind einen Platz gab auf dieser Welt. Zum ersten Mal kamen mir die Tränen, als ich an diese Tragödie dachte. Ein versiegeltes Schicksal. Dann lebten wir sechs Monate zusammen in meinem Zimmer, mein guter Ruf als Yogini wankte und schwankte, während ich auf einmal winzige Kleidchen auf der Wäscheleine und meine eigenen bepinkelten Outfist aufhing. Was für eine kostbare Erfahrung, dem kosmischen Vorgang sei Dank, ich fühle mich zutiefst beschenkt, eben wie eine Agentin, die froh ist, ihre Aufgabe in bestem Wissen erfolgreich bewältigt zu haben: eine schöne Frau sitzt vor mir, die glücklcih verheiratet ist und mit ihrem Mann darüber nachdenkt, wann das erste Kind gezeugt werden soll.