fühlbar

Selbst heute, wenn ich an die Zeit in diesem kleinen Tempel in der Wüste denke, freue ich mich darüber, dass ich den Mut hatte, für einen langen Zeitraum so gut wie alle Fäden zu meinem westlichen Leben loszulassen. Pass und Visa waren lange schon abgelaufen, und das geschah nicht unbemerkt. Ein Polizist stapfte durch den Sand, um mir zu vermitteln, dass ich nun mitkommen müsse. Genau in diesem kritischen Moment erschien Nemnath, ein alter Mönch, auf der Bildfläche und erkundigte sich, was denn hier los sei. Er nahm den Polizisten zur Seite, der fünf Minuten später Leine zog und nie wieder auftauchte. Das sind Hunde, meinte der Nath trocken zu mir, man muss sie daher wie Hunde behandeln. Obwohl ich mich nicht bestrebt fühlte, mich dieser Meinung anzuschließen, war ich beeindruckt von der Verteilung der Machtverhältnisse. Offensichtlich wollte es keiner mit Gott verscherzen, darauf kann man sich heutzutage nicht mehr verlassen. Nun hat es mir Freude bereitet, ein wenig einzutauchen in diese Zeitspanne, und „wenig“ ist das Wort dafür. Allein die Feste zu beschreiben, zu denen ich ab und zu eingeladen war von der Bruderschaft, wären sicherlich eine ausführlichere Berichterstattung wert, nur: könnte ich tatsächlich den Atem des Abenteuers noch einmal hervorzaubern zum Beispiel für den Schwerttanz des verkrüppelten Nurbi Nath zum jährlichen Shiva Ratri Treffen, oder die zähen Prüfungen, denen ich unterzogen wurde als einzige Frau unter hunderten von Mönchen, die es für nötig befanden zu checken, ob ich nicht doch die Verführung männlicher Wesen im Auge hatte. Ich wurde beobachtet, bis ich eines Tages die kritische Frage selbst stellen konnte. Und Sie, fragte ich den Mahant, sind Sie denn unverführbar? Denn wenn ich mich vor Ihnen nicht fürchten muss diesbezüglich, dann sind wir ja beide  in Sicherheit. Er fragte mich nie wieder. „Brahmacharya“, das Zölibat, ist in Indien hochangesehen. Wem man zutraut, es zu können, bekommt Respekt. „Es“ heißt hier, die sexuelle Energie nicht zurückzuhalten, sondern sie zu kanalisieren nach den vorgeschriebenen tantrischen Rezepten. Es war jedoch eher so, dass ich selbst kaum Vorbildern der tantrischen bzw yogischen oder meditativen Meisterschaft begegnet bin. Es war ja auch innerhalb ihres kreisläufigen Zeitgeschehens schon sehr spät im dunklen Wirbeln des eisernen Zeitalters, und während man die digitale Revolution durchaus preisen und besingen kann, so ist sie doch auch ein unseliger Abgrund, in dem es genügend Platz gibt für alles und alle, die Lust verspüren am Untergang. Und vermutlich gibt es ja doch einen großen Unterschied in der Welt der Unterhaltungen, ob ich mich zum Besispiel innerlich mit Sokrates im Dialog befinde oder mit meinem Algorhythmus. Das lebt alles in uns drin und ist dort fühlbar.

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