Die Welt anschauen, klar, das macht doch jeder. Und obwohl man diesen Blick auch eine Weltanschauung nennen könnte, ist es gut zu klären, was damit gemeint sein soll, oder vielleicht auch zu denen zu gehören, die vielleicht trotz Schauen, oder gerade wegen der Art des Schauens, sich hüten, eine zu formulieren, sodass man von der Person partout nicht sagen könnte, sie hätte eine Weltanschauung. Man kann diese Welt sehr lange und gründlich anschauen, ohne dass sich auch nur ein Funke an Gewissheit formen muss, dass sie durch irgendeine Begrenzung als der eigenen fassbar werden kann. Erst in der akzeptierten Begrenzung des eigenen Blickes kann er sich von innen heraus in eine größere Wahrnehmung weiten. Was hilft es mir zum Beispiel, wenn ich mich fürchte vor bösen Kräften im Land, wenn ich nicht weiß, was ich unter „bösen Kräften“ verstehe und dann der große Kamm dafür herhalten muss, damit ich alles über ihn scheren kann. Die Deutschen, die Afrikaner, die Flüchtlinge, die Mörder. Von welcher Selbst-Anschauung gehe ich aus, bevor sie sich mit der Welt überhaupt in Verbindung setzen kann. Ich finde es ab und an faszinierend, mit welcher Selbstverständlchkeit wir manchmal unsere Befindlichkeiten in den Raum tragen. Weiß ich, wo ich mich gerade befinde, und wie häufig empfinde ich es als angebracht nachzuschauen, wie ich selbst drauf bin, bevor ich die naheliegendste Form benutze, um mitgeschleppte Lasten auf Köpfe und Schultern Anderer abzuladen, als seien sie dafür unterwegs. Auch fühlt sich jeder Mensch auf die eine oder andere Weise zurecht als ein Musterbeispiel, denn es gibt uns nur einmal, und das, was wir aus uns herausbilden, kann mit der Zeit fast unmerklich zu einem Muster werden, das wir für uns selbst halten, ohne dass das dem Teil der Menschheit, dem wir begegnen, besonders ins Auge stechen würde, wenn wir uns nicht Einzelne oder Einzelne uns in eine Nähe gebracht hätten, die ein tieferes Schauen auf das, was wir auch noch sein könnten und sind, ermöglicht. Was sind wir denn noch anderes als das, was wir von uns als Musterbeispielen zeigen? Neulich habe ich mal in einem Hessebüchlein geblättert und war etwas verblüfft, auf der aufgeschlagenen Seite den Begriff „uninteressante Normalmenschen“ zu finden, denen er Menschen gegenüberstellte, die er „oft nebenbei pathologisch“ nannte, denen aber seiner Meinung nach die Möglichkeit gegeben war, „die Wahrheit zu sagen, die Unerbittlichkeit der Lebensvorgänge und die Sinnbildlichkeit jedes Einzelnen für das Ganze.“ Meine Güte, dachte ich, wie sehe und höre ich das? Ist es überheblich, sich von „Normalmenschen“, um den Begriff noch einmal zu nennen, abzugrenzen, oder ist es anregend, hier etwas zugemutet zu bekommen, das einerseits s o nur von Hesse gesagt wird, andrerseits aber von uns als Leser auch kontempliert werden kann, wofür man natürlich tiefer in das weiterhin Gesagte eindringen müsste, was ein Interesse voraussetzt. Meine begrenzte Erfahrung war hier, dass kurz ein gewisses zeitliches Beben durch mich hindurchging, so als könnte bei einem bestimmten Schauen, sei es auch noch so klar, gleich ein Shitstorm losgehen, und viele unsichtbare Daumen nach unten zeigen, um mir signalisieren zu müssen, wer hier die Bahnen kontrolliert und sich für die Weltanschauung verantwortlich fühlt. Gut, ich muss hier am Samstag ohne Radiergummi einen Abschluss finden. Ich flüstere also ins vertraute All hinein, nein, keine Worte, das passt hier jetzt nicht hin, dann vielleicht ein Lied, ja, warum nicht, und schon summt’s in mir „I am standing next to nothing, hello nothing, I love you, I am as strange and pale as you…..
(Hesse: „Lektüre für Minuten“, Suhrkamp, Seite 61.)