ganz sein

Inmitten der angenehmen Befindlichkeit, die sicher auch mit dem sich auflösenden Dunst zu tun hat, der tagelang über allem lag wie ein dichtes Gewebe, kam nachmittags eine junge Inderin zu mir, die sich im Vorbereitungsstress ihrer sich nähernden Hochzeit befindet. Sie wirkte bedrückt, und langsam kam auch der Grund heraus. Sie war längere Zeit mit einem Mann befreundet gewesen, der nicht aus ihrer Kaste kam, und die Beziehung wurde deswegen von beiden Familien nicht gebilligt, der Sohn wurde schnell anderweitig verheiratet und hat nun zwei Kinder. Neulich aber haben sich beide noch einmal getroffen, und es ist zum Geschlechtsverkehr gekommen, wie soll ich sonst sagen: zum Sex, zum Übergriff, zum Liebesakt, zur Vergewaltigung? Sie kann sich nicht mehr erinnern, kam sich bewusstlos vor. Als ihr klar wurde, was passiert war, machte sie ihm Vorwürfe, meinte aber ein paar Mal zu mir, dass er sie liebe und eben wollte, dass sie ganz sein sei. Ganz sein. Ich konnte sehen, dass sie das Ganze nicht einordnen konnte, so, als war sie sich nicht sicher, ob es nicht doch richtig von ihm war, weil er sie so liebte. Ich konnte mich gerade noch zurückhalten mit der Bemerkung, dass das wohl nicht wirklich Liebe sein konnte, wenn er sie dem tatsächlichen Problem auslieferte, an dem er nicht beteiligt sein würde. Denn ihr zukünftiger Ehemann  durfte auf keinen Fall erfahren, dass sie keine Jungfrau mehr war. (Das Schreiben mancher Worte kann anstrengend sein). Im Kontext der immer noch lebendigen Traditionsbedingungen-und szenarien schaltete ich um auf Lebensweisheit, die ich von einer Ärztin aus Kalkutta einmal vermittelt bekommen hatte. Mach dir keine Sorgen, sagte ich in Erinnerung an ihre Worte, Männer sind leicht zu tricksen in dieser Angelegenheit. An die genaueren Details kann ich mich nicht erinnern, aber das ist ja auch sicher zum Umsetzen nicht so schwer (oder doch?). Schwer zu ertragen ist die Einsamkeit, in der Frauen diese Art von Not erleiden. Und obwohl ich in einer Gesellschaft aufgewachsen bin, wo wir so ziemlich alles machen konnten, was uns einfiel, weiß ich doch aus eigener Erfahrung, wie lange das dauern kann, bis man die Wirkung eigener Einfälle einschätzen und verstehen kann. Aber das ist nochmal etwas anderes, als wenn ein ganzes Leben an einem Blutstropfen hängt, und der Mann, mit dem ich mein Leben verbringe, nie wissen darf, dass schon einmal jemand anderes mich berührt hat. Es ist gut, wenn man erkennt, wo und wann Meinungen überflüssig sind, denn wir wissen ja, wie oft für reines Blut und Besitzanspruch gemordet wurde. Vielleicht geht es darum, unterstützend zu sein in grässlichen Lebensbedingungen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen können, dieser kalte Wind der Ohnmacht, und diese zurückfließende Wärme, ohne die wir nicht lebensfähig sind.

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