schattig

Ich stimmte gestern mit Preeti, die in Bombay lebt und vor drei Tagen ihre Mutter durch Covid verloren hat, überein, dass über Indien gerade ein dichter, schwarzer Schatten liegt, der ihr auch das Gefühl gibt, dass der Verlust ihrer Mutter sich einfach einreiht in die ungeheure Zahl der Menschen, die dort gerade täglich ihr Leben gelassen haben und lassen. Das Ausmaß dieser Tragödie hat es dann auch in die deutschen Medien geschafft und vielleicht weitere Fragen hervorgebracht über dieses so schwer verständliche Land, in dem die BewohnerInnen eine geradezu unhinterfragte Liebe haben für ihre Kultur. Auch unter uns, den Fremdlingen, die wir zu einer neuen Welle der Indienliebe aufbrachen, gab es letztendlich nur zwei Gruppen: die, die Indien sofort ans Herz nahmen und sich zuhause fühlten, und die, die sich immer über alles beklagten, aber auch nicht davon loslassen konnten. Es wurden über die Jahre immer mehr, die in ihren Geburtsländern kein eigenes Zuhause mehr hielten. Manchmal fuhr man nach Nepal und holte sich dort ein Visa und kam zurück ins neu Erschlossene. Es gab Jahre, in denen die Fremdlingskinder nicht mehr in eine Schule geschickt wurden, man wähnte sich in einem paradiesischen Weiter, das niemals aufhören kann. Aber alle hatten was höchst Erfreuliches davon, das kann man nicht bezweifeln. Was in Indien aus einem hervorgelockt werden konnte, das gab es in unseren Ländern noch nicht mal als Ahnung, wenn auch als Gedanken. An diesem unvergesslichen Konstrukt wirkt der große Schatten nun wie ein Scheibenwischer. Da war mal etwas, natürlich einzigartig wie alles andere, aber extrem in seiner Komposition zwischen Hell und Dunkel, das ist jetzt nicht mehr da. Es hatte etwas mit einer fast traumhaften Bewegung von Ordnungen zu tun über einem vollständigen Chaos, von dem jeder wusste, dass es nicht zu enträtseln war. Diese Ordnungen aber reichten hinunter bis in die Slums, als ‚Social Distancing‘ endet diese Vorstellung von alleine. Immer gab es die schrecklichen Dinge, ziemlich gut dosiert mit einer hoch kultivierten Menschlichkeit, die auf allen Ebenen zu finden war, auch wenn langsam durchdrang, wie grausam und missbräuchlich genau das werden konnte, was immer noch gerne von sich dachte, es sei wach und wissensvoll. Entschwunden ist das alte Indien, Bharat genannt, in dem tatsächlich alles Wissen enthalten ist, um ein gutes Leben zu leben, nur ist es in Vergessenheit geraten. Der Mund kann es noch zitieren oder darüber herumfabulieren, aber es reicht nicht mehr bis in das Innere der Häuser, wo die Flatscreens kaum mehr ausgehen und keiner auch nur ahnen kann, wie sich die Inhalte in den Gehirnen ausdehnen. Aber wer hätte gedacht, dass der große Tod schon so früh kommt, oder kommt er gar nicht früh? Wann ist früh? Oder wann wird fünf vor zwölf zwölf. Sterben dann erst die Elefanten, und ein Tsunami tobt über Gujarat, die Heimat de Premier Ministers, da, wo er einmal der kleine Junge am Teestand seines Vaters war? Wenn die ganze Welt, aus welchem Grund auch immer, auf einmal genauer auf ein ansonsten irgendwie verborgenes Land schaut, geht dort etwas zu Ende. Es gibt natürlich auch den Nobelpreis oder ein Fußballspiel, aber meist ist es eine Tragödie, über deren Verlauf sich dann ein Vergessen zieht, weil schon die nächste Katastrophe den Hebel der Meinungen aktiviert. Das Vergessen ist auch so ein Schatten, oder vielleicht gehören die beiden zusammen.

 


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