Als ich gestern in einer Unterhaltung mal „hier im Dorf“ sagte, sah ich einen erstaunten Blick in meinem Gegenüber…wie wo, welches Dorf?….und so muss ich hier wohl etwas korrigieren, da ich es ja öfters schon Dorf genannt habe und wohl auch wieder mal so nennen werde, denn hallo!, es ist vor allem hinter den heiligen Wassern sicherlich ein Dorf, aber es ist auch noch etwas anderes. Es ist nämlich ein „tirtha“, ein Wallfahrtsort, der angeblich schon zwei Jahrhunderte vor Christus existiert haben soll. Also eine Aufgabe, die ich in Indien sicherlich (u.a.) nicht erfüllen wollte, ist, historische Präzision zu erschaffen. Meistens sind es westliche Gelehrte, die sich immens abgerackert haben, das hinduistische Weltbild irgendwie sinnvoll zusammenzufügen, wobei auch die Frage immer bestehen wird, ob das gerade in Indien und über Indien wirklich sinnvoll ist. Aber doch, es gibt wunderbare Arbeiten, und es soll ja durchaus jeder tun, was Freude macht. Es ist also ein Pilgerort, unser Dorf, und da täglich diese Pilger zuhauf anreisen, um hier ihr Karma zu belichten und ihrer Ahnen zu gedenken mit großzügigen Spenden, kommt hier auch ständig Bewegung ins Spiel. Es wird auch (in der Mahabharata) erwähnt, dass jemand, der Glück hat in der Welt der Menschen, diesen Ort des Gottes der Götter (Brahma) aufsuchen wird. Das führt zB auch aktuell dazu, dass ich, obwohl die meisten Menschen hier fast nichts“Persönliches“ über mich wissen, als Schicksalsbegünstigte gesehen und benannt werde, weil ich jahrelang hier herumwandern konnte und kann ohne wesentliche Einschränkungen. In Deutsch kann man sehr schön ausdrücken, um was es in Essenz geht: man macht eine See-Umwandlung (Parikrama genannt), und wird dadurch verwandelt (ursprünglich unsterblich, bis sich die Götter bei Brahma beschwert haben). Diese vielen PilgerInnen, die täglich hierher kommen und wieder gehen, haben ein wichtiges Ziel ihres Lebens erreicht. Wie oft habe ich, morgens am See sitzend, meinen Stift sinken und mich von der Ausstrahlung dieser Menschen berühren lassen. Was habe ich für Schönheit gesehen, die einem den Atem rauben kann! Wie sie, von einer seligen Stille umhüllt, ihr Bad nehmen und ihre Kleider im Wasser schwenken. Wie sie dann, zutiefst bewegt und konzentriert ihre „puja“, die rituelle Handlung mit dem jeweiligen Priester machen, der ein riesenschweres, rotgebundenes Buch, „bahi“ genannt und zwischen 200 und 300 Jahren alt ist, aufschlägt und nach ihren Ahnen forscht und sie tatsächlich, o unvorstellbare Ordnung, dort findet. Die ganze Gruppe ist still und hochzufrieden, denn das Wesentliche ist vollbracht und gibt ihrem Leben eine tiefe Bedeutung. Die (häufig sehr arroganten) Brahmanen nennen diese Menschen oft „Dschungelvolk“, heißt: simpel und unwissend. Aber mir kommen beim Schreiben die Tränen, wenn ich an sie denke und auch an Begegnungen, die ich mit ihnen hatte. Sie kommen neugierig auf mich zu und ich habe gelernt, mich sofort auf Hindi mit ihnen zu freuen, dass wir das Glück haben, hier gelandet zu sein, wo es doch so ein gutes Karma ist. Aber nie kann ich ihnen sage, was ich sehe, diese Augen und Turbane und Gewänder, diese Schlichtheit und Direktheit, und diese tiefe Wortlosigkeit der schwerst Arbeitenden, die sehr oft noch nicht einmal eine Schule gesehen haben. Tirtha also, bedeutender Wallfahrtsort.
Noch etwas, was ich schön öfters mal kurz erwähnen wollte: wenn ich von „den Indern“ spreche, ist das natürlich auch immer eine absurde Einschränkung, denn ich rede meist von denen, mit denen ich hier lebe. Es erweitert sich nur insofern hier am Ort etwas, dass tatsächlich Menschen aus ganz Indien (und der ganzen Welt) herkommen, auch die neue Mittelklasse, auch Buddhisten und Jains, die alle Inder sind, aber keine Hindus, also nicht der hinduistischen Denkweise angehören. Aber wie kann man der Vielfalt der Erscheinungen jemals gerecht werden. Da hat das Wort seine Grenze gefunden.