begegnen

Das Bild könnte man natürlich so sehen, als streckten sich die Arme gen Himmel, es ist aber eher eine Schwimmbewegung durch den eigenen Schleier des Verborgenen hindurch, am ersten Morgen hinaus in die öffentliche Runde (im weitesten Sinne des Wortes). Im engen Sinne des Wortes drehe ich auch in Deutschland gerne morgens eine Runde, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Obwohl auch dort jederzeit etwas Unvorhergesehenes passieren könnte (ein aus dem Dickicht hervorbrechender Eber? Einer der neuen Wölfe?), so ist es hier eher ein  wagemutiges Abenteuer, dem man es nicht gleich ansieht. Kaum habe ich die ersten Brahmanen hinter mir gelassen, stürzt ein Rudel Hunde in meine Richtung, mindestens zehn. Beruhigt sehe ich, dass eine junge Frau sie füttert und streichelt, wir unterhalten uns kurz über Hunde und Katzen. Ansonsten: glitzerndes Wasser, überall lagern schon Sadhus (Mönche) an guten Plätzen, denn nun kommt am 7. November Diwali, das Lichterfest, und danach das Kamelfestival, da fällt für jeden reichhaltig was ab. Alles an mir scheint automatisch zu funktionieren, das muss die Zeit sein in meinen Adern, die sich an sich selbst erinnert. „Kal“, die Zeit auf Hindi, heißt „gestern“ und „heute“, man kann es nur von der dazugehörigen Grammatik abhören, was gemeint ist. Zeit ist, was zwischen gestern und heute relativ gelassen vor sich hinströmt. Allerorten ist orangfarbene Kleidung zu sehen, ursprünglich eine Farbe, die bekunden soll, dass man sich aus dem Täuschungsmanöver der Illusion herausbewegen will, auch wenn heutzutage selten verlässliches Wissen oder Praxis unter Sadhus vorzufinden ist. Was ist verlässliches Wissen? Vielleicht bleibt am Schluss so wenig davon übrig, dass die Füße erleichtert zu tanzen beginnen. Man gibt die mitgebrachten, goldenen Luftballons an vorprogrammierter Stelle ab, dann die Vollmilchschokolade mit den Nüssen, dann ein Fläschchen Parfum für den jungen Brahmanen, der es kaum fassen kann, dass ich seinen Wunsch nach einem westlichen Duftfläschchen nicht vergessen habe. Geschafft! Und zurück durch das große, hölzerne Burgtor. Natürlich liegt vor allem morgens so ein eiserner Wille zum Frieden über dem Ganzen, und jeder, dem ich begegne, ist froh, dass ich sage, dass es mir gut geht, so, als stünden sie alle psychisch auf der Kippe und jede weitere Anforderung könnte sie umhauen. Dünn ist er, der göttliche Strohhalm. Dabei gab es immer schon die genialen Essenzen. Einfach leben, hoch denken, das lief doch ganz gut einst, als die Öllampen noch brannten und die Geschichtenerzähler unterwegs waren. Deswegen lächeln wir uns alle freundlich zu, denn es ist ja kein Geheimnis, dass dies das berüchtigte Zeitalter der Dunkelheit ist, wo die Werte verkommen und die falschen Könige auf künstlichen Thronen sitzen. An jeder Ecke wird gebaut und gebastelt und auf das Vorhandene noch zwei Stockwerke draufgesetzt, für alle Fälle. Das vorübergehende Staubkorn im All, dass wir auch sind, staunt über den riesigen Einsatz an Kraft für das flüchtig Bestehende. Die Pilger bewegen sich an den Ufern der Welt auf der Suche nach dem segensspendenden. Irgendwo und dem Irgendwas vom Irgendwem.

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