Natürlich schaue ich auch viel zu, weil es eine Menge zu sehen und über das Sehen zu verstehen gibt. Das Zuschauen ist extrem ausgeprägt in Indien. Viele von denen, denen ich zuschaue, haben noch nie ein Buch gelesen. Wenn sie lesen können, vielleicht mal eins der vielen Gebetsbüchlein, oder die Zeitung, aber kein Buchlesen, wie wir es kennen. Es gibt einen richtig guten Buchladen im Bazaar, da kaufen nur die Foreigners oder tauschen Bücher, oder lassen ihre gelesenen zurück. Auch in den Hotels stapelt sich Gelesenes, aber noch nie habe ich Einheimische, auch wenn sie gut Englisch sprechen, daran interessiert gesehen. Die Menschen schauen dem Leben zu, in jeder freien Minute. Ich schaue also auch viel zu, wenn ich nicht mit meinen Sachen beschäftigt bin, aber ich lasse mich auch ein, und wenn ich drin bin, schauen wir wieder alle gemeinsam zu. Gestern war ich bei einem großen Familientreffen, das bestand fast nur aus Zuschauen. Dem Sohn des verstorbenen Kalu wurde ein 7 Meter langer Turban um den Kopf gewickelt als Zeichen dafür, dass er jetzt die Verantwortung für die Familie übernimmt. Er ist ein moderner junger Mann, und das sah ziemlich unzeitgemäß aus, aber gut, erklärt mir Reena, das muss alles sein, weil wir es brauchen. Der Brauch. Die Bräuche. Wir Foreigners schauen oft den Bräuchen zu, da die Welt der Inder fast nur aus ihnen besteht. Durch Bräuche in Schach gehaltene Anarchie. Da weiß man einfach, was zu tun ist, und eigenes Denken ist nicht unbedingt erforderlich. Da steige ich dann aus dem Zuschauen aus. Reena ist auch etwas lockerer. Sie zieht die frische Witwe an die Türschwelle, damit sie dem Turbanritual ihres Sohnes zuschauen kann. Sofort schreien drei Frauen auf, sie soll drin bleiben, darf ihr Gesicht nicht zeigen. Ich stelle mich neben sie und schalte den „wollen wir doch mal sehen“ Blick ein. Wer um Himmels Willen erfindet all das Zeug, dem man eben nicht zuschauen will. Dann schauen alle zu, wie die anwesenden, verheirateten Frauen einen Finger mit Henna gefärbt bekommen, ich will gar nicht wissen, warum. Das viele Zuschauen der Vielen hat auch zur Folge, dass kriminelle Fälle oft verblüffend schnell gelöst werden, denn es gibt immer welche, die zugeschaut haben, obwohl die Dunkelziffern aus verschiedenen Gründen auch hoch sind. Es gibt sehr viele Menschen, meistens Männer, die nichts anderes tun als zuschauen. Entweder sie haben nichts zu tun oder sind eingebettet in Rituale, die das Zuschauen fördern wie zB. Sadhus und Priester. Dann die Bettler, die unzähligen Obdachlosen, und all die offenen Läden, in denen oft nichts los ist, aber zuschauen kann man ja immer. Es gibt auch im Zentrum am Markt den Ausländer-Tea-Shop, da schauen sich Ausländer und Inder gegenseitig zu beim Dasein. Mein momentaner Hausbesitzer, der sich in „vanprasht“ befindet, der Zeit, wo der Mensch nicht mehr arbeiten muss, weil der Sohn oder die Söhne sich um alles kümmern, der steht und sitzt den ganzen Tag vor seiner Türe herum und schaut allem zu. „Vanprasht“ heißt eigentlich „„Waldaufenthalt“, ein Wort das besagt, dass der Lebensabschließende sich auf Pilgerschaft begibt oder sich eben in den Wald zurückzieht und dort was Karmaaufbauendes tut, aber da es das alles nicht mehr gibt, schaut er jetzt dem Gewühl und Gewimmel des verwirrenden Verkehrs zu und gewöhnt sich an, „immer happy“ zu sagen, wenn man fragt, wie es denn so geht. Ich bin auch sehr für Herumstehen, aber es muss schon mit dem Genuss des Raumgefühls und der Weite sein, die das Interesse am Außen vermindern. Auch möchte ich weiterhin feiern, dass ich da bin und teilnehmen kann an dem, was ich mit erschaffen habe.
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Bilder: bei einem Besuch in der nächstgrößeren Stadt hatte ich heute das Glück, diesen Pelikanen zuzuschauen, die sich kurze Zeit auf dem Wasser niedergelassen haben, ein seltener Anblick.
Das Bild rechts zeigt Teilnehmer einer Prozession für die lokale Gottheit Dev Narayan.