einstufen

Manchmal kommt es vor, dass ich kein Bild vor Augen habe, ich meine eines, das mir aus welchen Gründen auch immer passend erscheint für das, was ich vorhabe. Was nicht heißt, dass Bild und Wort unbedingt eine Verbindung herstellen müssen, aber meistens tun sie es. auch unwillkürlich. Wenn Worte bewusst mit Bildern verbunden werden, wie zum Beispiel Titel und Beschriftungen in Galerien, wird der betrachtende  Geist in eine bestimmte Richtung gelenkt, auch wenn „ohne Titel“ dran steht,  dann  weiß man, dass es beabsichtigt ist, dass etwas keinen Titel trägt. So bin ich beim frühmorgendlichen Herumschauen auf meine Collagensammlung gestoßen (immer wieder erstaunt, dass ich doch ganz schön viel sammle), und habe dieses Bild herausgenommen, einst aus ein paar Zeitungsfetzen zusammengefügt, und doch könnte man alles Mögliche darin sehen oder es als Buchcover visionieren zB. mit dem Titel „Das Geheimnis des Islam“. Ganz anders wären die Gedanken, wenn es hieße „Die dunklen Korridore der menschlichen Psyche“. Aber auch das Grün und die Verschleierung würde man mit dem Islam verbinden. Das verbindet sich jetzt mit etwas, das ich gestern gesucht habe, und zwar ein Buch, von dem ich genau wusste, wie es aussieht und wo es „immer“ steht, aber da stand es nicht, bis ich auf den Knien bei der untersten Reihe der Bücher nachschaute, wo es auf keinen Fall stehen konnte, ich weiß doch, wo meine Bücher stehen. (Genau da fand ich es dann beim dritten Durchgang). Es ging die Stunden davor in meinem Kopf um eine Geschichte, die mir in den letzten Tagen immer mal wieder einfiel, von der ich unbedingt wissen wollte, wie sie nun wirklich dort (übersetzt von Annemarie Scimmel) stand. Es ging um den Sufi Heiligen Al-Halladsch, der auch gekreuzigt wurde wie Jesus, weil er die gefährlichen Worte sprach, die die jeweiligen Herrscher als genügend gefährlich einstufen, um das Zeichen zur Ermordung zu geben. Und wie in der übertragenen Geschichte von Sokrates, als man ihm den Giftbecher reichte, mischte sich der Henker ein. Al-Halladsch sagte ein paar weise Worte zum Abschied an seine Schüler, da ohrfeigte ihn sein Henker. Daraufhin zerriss Shibli, sein nahester Freund und Schüler, sich das Gewand, und die anwesenden Sufis fielen in Ohnmacht. Sie hackten Al-Halladsch die Hände und die Füße ab und kreuzigten ihn an einem Baumstumpf. Obwohl der Befehl der Enthauptung schon gegeben war, entschied der Henker, ihn noch eine Nacht hängen zu lassen.  In dieser Zeitspanne kam Shibli zu ihm und fragte ihn: Was ist Mystik? Und Al-Halladsch soll gesagt haben: „Es ist ihre niedrigste Stufe, die du hier siehst.“ Es ist diese Antwort, die mich berührt, denn sie erinnert einen an die immense Freiheit, die einem allein durch Dasein zugemutet wird, nämlich die Stufen zu kennen und sich bewust auf denen bewegen zu können, die einem angemessen erscheinen. Es ist eine all-inclusive Antwort ohne Verurteilung, denn er weist nur darauf hin, dass dieser Gewaltakt die niedrigste Stufe der Mystik ist. Das heißt nicht, dass dem Henker nicht eine andere Variante des Verhaltens möglich gewesen wäre. Auch von Pontius Pilatus wird erzählt, dass ihn Gewissensbisse quälten, aber das Volk, das auch heute noch auf den Autobahnen das Fenster herunterlässt, um einen Unfall zu genießen, wollte Blut lecken, und er brauchte ihr Blut für seine Macht. Die Geschichten, die erzählt werden und die wir erzählen, bestehen alle aus prozentualem Wissen und Wahrheitgehalt. Man muss nicht unbedingt ein Huhn werden, um die hingeworfenen Körner aufzupicken. Es gibt  ja auch noch den Schwan, von dem man sagt, er hätte die Fähigkeit, aus dem Vorhandenen das Beste herauszuholen.. Dagegen ist nichts einzuwenden.

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