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Gestern kam ich mit einer Frau ins Gespräch, die ich kaum kenne, die mir aber zuerst keineswegs fremd erschien. Mit jedem Satz entfernten wir uns weiter voneinander, obwohl mir die Vehemenz, mit der sie ihre Ansichten zum besten gab, selbst auch vertraut vorkam. Außerdem ließ ich mich im Verlauf des Ganzen dazu verleiten, auch zu vehemenzieren, so, als wäre das der einzige mir verfügbare Rettungsring. Ich war überrascht.  Sie war auf dem Weg nach Südamerika und froh, Deutschland den Rücken zu kehren. Das Deutschland, wie sie wusste vom Netz, würde bald islamisiert sein, und Frauen würden überall vergewaltigt werden und wären auf der Straße nicht mehr sicher, und warum grenzt man hier immer die AfD aus, die doch auch Meinungsfreiheit haben, ja, und dass Angela Merkel der eigentliche Bösewicht der Nation ist , und dass es nur eine Wahrheit gibt, nämlich d i e dieser Gewalt, die bald das Land überrollen würde. Punkt. Selten muss ich gegen Vehemenz ansteuern, es ist eine wichtige Erfahrung. Durch das Dickicht der düsternen Meinungen versuchte ich mich zu bewegen mit einiger Zähheit. Das Schwierigste an unverrückbaren Einstellungen ist, wenn sie genau das winzige Tröpfchen Wahrheit enthalten, um die nötige Verwirrung zu stiften, die hier offensichtlich angestrebt war. Wir wissen ja nun (zum Beispiel), dass Frau Merkels exzellentes Diplomatenherz an einem bestimmten, erschütternden Punkt der Geschichte eine damals wichtige Entscheidung getroffen hat, ohne sich von den schwer ahnbaren Konsequenzen irritieren zu lassen, aber das macht sie auch nicht zum Schuldenpackesel der Nation. Auch die Beurteilung menschlicher Fähigkeiten mit seinen begleitenden Paradoxien sollte nur anhand des eigenen persönlichen Verständnisses abgeglichen werden, ja, tut es das eigentlich immer. Und mir fiel mal wieder auf, dass ein Gespräch, bei dem man die eigene Sicht erweitern kann, unbedingt den Raum haben muss, in dem widersprüchliche Sichtweisen sich entfalten können. Da das hier in meinem Beispiel nicht möglich war, fiel mir dennoch auf, wie sehr unsere inneren Zustände zur Färbung unserer Sicht führen. Auf einmal sah ich einen Flüchtling vor mir, der das eigene Land so schrecklich erleben musste, dass nur noch die Flucht half. Und was wird dich in Argentinien erwarten, fragte ich. Kann dir das nicht alles dort auch passieren? Sie meinte, es gäbe dort wenigstens keine Muslime. Nachdem ich die Schwerarbeit aufgegeben hatte, geistige Gegengewichte zu entwerfen und vorzuschlagen, gelang mir die Herauswindung mit verhältnismäßiger Freundlichkeit. An allen Ecken und Enden des All-Tags sind es die Künste, die zu lernen und zu beachten sind, weil sie den Nus  ihre Potentialität anbieten. So ist es förderlich zu wissen, wann ein Gespräch als fruchtbar erfahren werden kann, oder der Genuss eines Streitgesprächs, oder auch die Vehemenz eines Anliegens, das sich aufgerafft hat vom flackernden Feuer und zur Rede bereit ist, oder die Übung des Willens zu klarem Denken und noch klarerem Fühlen, undsoweiter…und dann die Kunst, ein Gespräch rechtzeitig zu beenden, wenn man sich in der Enge und Kälte eines Atems nur noch verletzen kann, weil einem die Ohnmacht keine Wege zum Anderen gezeigt hat.

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