Privatsphäre

In Indien gibt es das Wort „privat“ in Hindi (noch) nicht, und wenn es ankommt, wird es „private“ heißen wie alles, was gekommen ist und vorher nicht im Blickfeld war, dann englisch vorkommt. „Cigarette zB oder „Porno“. Allerdings, als „es“ vor Jahren begann, sozusagen der Umschwung in eine Moderne, waren die ersten Anzeichen schon klar zu sehen: Land wurde rasend schnell aufgekauft, dann drumherum eine dicke Steinmauer gebaut und ein Tor angebracht. Dann ging meistens das Geld aus, es blieb bei Mauer und Tor, Formen der Privatsphäre also. Es ist auch nicht üblich bis heute, über „private Dinge“ zu reden, dazu fehlt die Übung, persönliches Leben zu reflektieren, und vor allem die männlichen Fronten sind geübt in der Ablehnung dieser bedrohlichen Herausforderung, für das innerlich Vorhandene auch noch verbalen Ausdruck zu finden. Dafür brodelt es ungehemmt in den Gehirnen und an den Versammlungsorten, sodass man selten zu einer klaren Einschätzung des Geschehens kommt. Ravi zB wedelt lächelnd und erfolgreich jede Nachfrage in sein Privatleben ab, während in der Gerüchteküche mächtig gestaunt wird. Weiß er und muss er wissen?, dass alle um ihn herum der Ansicht sind, dass er seine Frau, die er mit den Kindern weggeschickt hatte, absichtlich mit medikamentösen Giften versorgt hat, sodass sie auf dem Rückweg verstarb, und er dann kurz danach die Tochter ihrer Schwester heiratete, worauf der Bruder demonstrativ und vollkommen nackt durchs Dorf lief, um seiner Empörung einen Ausdruck zu verleihen, da er gegen Ravi’s Weglächeln nicht ankam. Ich auch nicht. Ja, die Geschichten der Menschen sind seltsam, aber muss man nicht wissen, wie inmitten einer großen Bibliothek stehend, warum und wofür man gekommen ist, damit man, wie in der „Bibliothek von Babel“(Borges), nicht dem Irrsinn geweiht ist? Und auch das menschliche Verhalten hängt ja nicht nur von der Kultur ab, sondern von der Kultivierung des Menschen, der ich selbst gewillt bin zu sein. So bleibt in Indien zB die offizielle Sphäre eher durchgehend freundlich und wohlgestimmt, wenn ich selbst freundlich und wohlgestimmt durchgehe, eine gewisse Begräbnisstätte für Geschichten in mir tragend: Shamshan. Ja, und so anders ist das ja auch in Deutschland nicht, nur dass ich selbst hier augenscheinlich zu etwas mehr Privatperson mutiere. Der Mann vom Haus etwas weiter hinter uns, dessen Hahn uns täglich besucht und in unserem Kompost herumwühlt, erzählte mir nach meiner Rückkehr auf seinem Spazierweg,  dass seine jahrelangen Depressionen durch die Therapie etwas besser geworden sind, und er jetzt sogar herauskommen kann aus dem Haus bzw dem Bett. Ich freue mich für ihn, klaro. Wir sind nicht mal ein Dorf, sonder eine Ansammlung von Häusern vor allem Un-Einheimischer, die wir uns alle an die gelingende Formel halten: freundlich, aber bitte nicht zu nah. Klar, fragt man mal nach, wenn der junge Schwiegersohn von gegenüber vom Dach fällt und seither im Rollstuhl sitzt. Wer will schon dauernd hören: Na, wie geht’s ihm denn so? Alle super nett, auch die daneben im Haus. Als ich mal irgendwo in vertrautem Gespräch in einem Cafe saß, wollte die Bedienung wissen, wer wir seien, und ich nannte den Ort, wo ich wohne. Ach da, sagte sie, behandle ich doch den Mann, der Krebs hat. Das wusste ich nicht. Wir sehen ihn kaum, und wenn, ja auch wenn….ist Mitgefühl hier ein Wert? Ich weiß es gar nicht. Oder gilt: Privatsphäre vor Mitgefühl. Menschen haben Angst vor allem Möglichen. Der Mann, der jetzt unser ganz naher Nachbar geworden ist, weil er das Haus gekauft hat, das auf demselben Grundstück wie unseres steht, sollte oder wollte mit seiner Lebensgefährtin dort einziehen. Nun ist aber was passiert und er zieht alleine ein. Er hat das auch gleich kommuniziert, weil es ja offensichtlich ist. In Indien wird mir öfters auf subtile Weise suggeriert, wie glücklich und frei wir doch alle sein müssen, da wir alles zu haben scheinen, wovon ein in die Weltgemeinschaft aufsteigender Inder nur träumen kann, zB keine 20 Familienmitglieder am Hals hängen haben, für die man sorgen muss, oder ein Auto haben und eine Krankenversicherung, und wenn nichts mehr geht, wird man vom sozialen Netzwerk aufgefangen. Stimmt ja, das ist wunderbar eingerichtet. Da fallen mir die Sätze ein, die Indianer mal irgendwo über Weiße sagten: Sieh, wie grausam die Weißen aussehen. Ihre Lippen sind dünn, ihre Nasen spitz, ihre Gesichter von Falten durchfurcht und verzerrt. Ihre Augen haben einen starren Blick. Sie suchen immer etwas. Was suchen sie? Die Weißen wollen immer etwas, sie sind immer unruhig und ratlos. Wir wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir glauben, dass sie verrückt sind. (Habe den Text gefunden). Nun ja, denke ich, so schlimm ist es nun auch  wieder nicht. Oder ist es viel schlimmer?

 


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