Gazelle

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Die Gazelle auf dem Bild hat sie (die Sterbende) erst vor ein paar Tagen aus dem Internet bestellt (für 9 Euro), weil ihr die vorherige zu klein war. Tatsächlich kann man sie selbst als eine Gazelle sehen, so zerbrechlich und gleichzeitig so stark sitzt sie nun da und schaut uns mit diesem neuen Blick an. Sie erzählt uns, dass sie jetzt in beiden Räumen lebt, eben im Hier und auch schon im Dort, und eigentlich nur noch im Raum und nicht mehr in der Zeit. Noch grämt sie sich etwas, wenn ihr die Zeit verlorengeht, die Termine nicht mehr erinnert werden, oder etwas, was gerade noch da war, nicht mehr zu finden ist. Sie bewegt sich seit drei Tagen auf einer Ebene, auf der sie sich noch mit uns verbinden kann, und nun, da sie bei sich ist, sind große Nähe und angemessene Distanz gleichzeitig möglich. Ihrer Rede mangelt es nicht an Respekt, aber es blitzt auch das Verschmitzte durch wie so vieles, was vorher entweder nicht möglich oder zu eingeschränkt war. Auf ein paar locker gestalteten Blättern, die wir gestern zusammen gefunden haben in einer der vielen Schubladen, nannte sie sich in einem über sich selbst lachenden Ton „Die ängstliche Ausbremserin“, dann „Die brave Unterordnerin“, dann „Die tugendhafte Gutmenschin“, dann „Die vernünftige Ordnungshüterin und „Die pflegeleichte Zustimmerin“. Und wir Begleiter:innen sind nun in dieser Möglichkeit einer bereichernden Erfahrung und Beobachtung, dass sie, die Sterbende, all diese Identifikationen hinter sich gelassen hat. Nackt und bloß, erzählt sie, ist sie durch die Hölle gegangen, sie nannte es das Fegefeuer. Nun hat sie keine Wahl mehr: der Zwiespalt hat sich geschlossen. Die Ambivalenz hat sich verzogen. Mit hoher Konzentration spürt man den Atem der unermesslichen Weite, bestätigt durch unser Nicht-Wissen.
*Collage von Claudia Brinker

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