führen

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Heute früh bin ich doch tatsächlich aufgewacht mit einem indischen Mantra, das ich gar nicht freiwillig gelernt habe, sondern gewissermaßen wie nebenher damit beträufelt wurde, als in meiner damaligen Wohnherberge eine Gruppe Sinnsuchender auftauchte. Alle hatten eine gemeinsame, charismatische Herrenfigur vor sich, von der sie allerlei lernten. Als mich einer seiner Followers eines Tages  ansprach und meinte, es (ich) wäre arrogant, wenn ich die absolute, verkörperte Wahrheit verpassen würden wollte. Das fand ich auch ziemlich bescheuert, schloss mich dann aber aus Neugier (wer will schon die absolute Karotte verpassen) eines Tages den Morgenstunden direkt vor meinem Fenster an und hatte in der Tat einige anregende Gespräche mit dem Meister, wohl auch, weil ich Hindi spreche und im Dorf einen guten Ruf habe. Reichlich gequält habe ich mich durch die täglich gleichen Mantren, wie das in Indien üblich ist mit dem Eingebläuten, von dem man hofft, dass es durch die geistigen Dickhäute sickert und dort etwas vom Wesen des Wissens hängenbleibt wie Majnoors Gedichtfetzen an den Dornbüschen der Wüste. Das Mantra bittet um Führung von der Unwirklichkeit in die Wirklichkeit, von der Unwissenheit ins Licht und von der Sterblichkeit in das ewige Leben. Das kann vermutlich nur durch einen Gott geleistet werden, oder kann es auch von einem Menschen geleistet werden, dass er oder sie sich von der Unwirklichkeit (z.B.) in die Wirklichkleit führt usw. Zum Glück habe ich es eine geraume Zeit zutiefst genießen können, mich den göttlichen Kräften zuzuwenden und mit ihnen Verbindung aufzunehmen. Das wird einem in Indien leicht gemacht, denn alle Anwesenden ohne Ausnahme verbinden sich mit irgendwem und irgendwas, das einen dann beschäftigt. Denn die Welt dort ist voll mit Schriften und Gedanken und Göttern, die zur Verfügung stehen und zum Leben gehören wie der Teig und die Süßigkeiten. Die meisten von uns Foreigners hatten eine glühende Romanze mit Shiva, was wiederum von Hindus fröhlich resoniert wurde, waren sie doch schon ziemlich erstarrt in ihren Ritualen und erfrischten sich an unseren Fragen, bereit, sich selbst und uns unwissende Warums  gleichzeitig zu erwecken. In dieser Atmosphäre konnten wunderbare Dinge geschehen, wobei die dazugehörigen Anekdoten einen im Westen eher zu Märchenunterhalter.innen machen. Ich erwachte also mit dem Mantra auf den inneren Lippen und dachte: ja, kein Wunder! Über unserem Haus hat sich der dunkle Baldachin des Vergänglichen ausgebreitet. Noch ist das Tor offen und wartet auf die (ihre) Ankunft. An einem bestimmten Punkt muss man sich selbst an die Hand nehmen.
* Der tanzende Shiva, Statue aus dem 16. Jahrhundert, ein Geschenk unseres ehemaligen Hausbesitzers (Dr. Helmut Kenter) an unser Haus.

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